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Wie der Titel "In spite of the Gods – the strange Rise of Modern India" bereits indiziert, steht Luce dem indischen Pantheon mit Argwohn gegenüber und ist erstaunt, dass sich die wirtschaftliche Wachstumsdynamik trotz der massiven moralischen und spirituellen Wirkkräfte (S. 1), die die indische Gesellschaft durchwalten, derart dramatisch entfaltet. Luce leitet den Titel von den Ideen Nehrus ab (S. 18), den er mit dessen bekannten Satz zitiert: "Religion as practised in India has become the old man of the sea for us and it has not only broken our backs but stifled and almost killed all originality of thought or mind." (S. 17).
Diese veraltete Vorstellung einer postreligiösen Moderne müsste man heute sicherlich ergänzen mit Ergebnissen neuerer Forschungen, z. B. von Jose Casanova oder Friedrich Wilhelm Graf (Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur. München: Beck 2007). Auch möchte man dem Autor eine Einführung in die Religionsökologie empfehlen, die Transzendenz- und Askesevorstellungen mit rücksichtsloser Ressourcenausbeutung resp. einer Gelassenheit ökologischen Werten gegenüber korreliert. Der klassische Aufsatz "Historical Roots of our Ecological Crisis" von Lynn White (1967, nachgedruckt in Roger S. Gottlieb: This Sacred Earth. Routledge 2003, S. 184-193) beispielsweise, oder das speziell auf Indien bezogene Buch "River of Love in an Age of Pollution: The Yamuna River of Northern India" von David L. Haberman (University of California 2006) hätten Luce neue Perspektiven eröffnet und ihm möglicherweise einige seiner Fragen zum kausalen Zusammenhang von Religion und Nutzung natürlicher Ressourcen beantwortet. Sowohl Anchor wie der B&T-Verlag haben in deren Ausgaben (2007 und 2008) das Wörtchen "strange" zu recht aus dem Titel gestrichen.
Das erste Kapitel "Global and medieval: India's schizophrenic economy" (S. 25-63) beschreibt die Diskrepanz zwischen den Superlativen der Software-Sparte zu den oft mittelalterlich anmutenden Verhältnissen auf dem Lande und in der Infrastruktur, wo Kamelkarren die maroden Straßen blockieren. Obgleich weniger als sieben Prozent der Inder im erwerbsfähigen Alter (470 Millionen) formal angestellt sind, d. h. nur 35 Millionen von über einer Milliarden Inder zahlen Einkommensteuer – von diesen sind 21 Millionen Regierungsangestellte -, das jährliche Pro-Kopf-Einkommen 2006 unter 550,- EUR lag, 25 % unter der Armutsgrenze leben und die Urbanisierungsrate mit 27,8 % langsamer als erwartet wächst, gibt es in einigen Sektoren ein disproportionales Wachstum: Beispielsweise gab es im Jahre 2000 in Indien insgesamt drei Millionen Handynutzer, 2005 besaßen bereits über 100 Millionen ein Mobiltelefon und monatlich kamen jeweils vier Millionen Neukunden hinzu. Oder: 1991 gab es nur einen staatlichen Fernsehsender, 2006 sind über 150 Sender zu empfangen. Von den 14 Millionen formal Angestellten im freien Sektor arbeitet etwa eine Millionen, ca. 0,2 % der Erwerbsfähigen, als Bürokraft im Software- oder Call-Center-Bereich, der seit 2003 mehr erwirtschaftet als die für Ölimporte ausgegeben wird. Etwa die gleiche Anzahl ist angestellt in der verarbeitenden Industrie – eine Million in Indien im Vergleich zu über hundert Millionen in China. Trotz der fünf Elite-Unis, den IITs, die jährlich über eine Million Ingenieure produzieren, gibt es große Defizite beim Aufbau eines flächendeckenden Grundschulsystems, so dass die Alphabetisierungsrate mit 65 % stark hinter der Chinas zurückbleibt (90%), das anstelle von Elite-Unis einen primären Bildungssektor aufgebaut hat.
Luce beschreibt dann die neue Wirtschaftskraft Indiens anhand von Zitaten mit Geschäftsführern großer Firmen aus verschiedensten Regionen des Landes, z. B. Hinduja, CEO von Gokaldas Exports in Bangalore (Bengaluru), eine Firma, die monatlich über zwei Millionen Kleidungsstücke für westliche Marken fertigt und fast nur Frauen anstellt, weil diese nicht trinken und zuverlässiger in ihrer Anwesenheit sind. Luce beschreibt das zur Poonawallah Group gehörige Serum Institute in Pune, das etwa die Hälfte des Impfstoffbedarfs der Vereinten Nationen liefert, des weiteren den größten Automobilzulieferer Bharat Forge und natürlich Infosys in Bangalore. Dies kontrastiert er dann mit Interviewaussaugen von einfachen Indern aus dem Dorf seiner Schwiegermutter, die von einem "Government job" träumen, der neben Sicherheit und Status sehr viel Geld aufgrund der üblichen Korruption verspricht, und sich deshalb intensiv für eine Aufbesserung ihrer Quotenregelung einsetzen.
Das zweite Kapitel "The Burra Sahibs – The long tentacles of India's state" (S. 64-105) erklärt die wundersamen Behördenapparate Indiens, die immer noch in erster Linie mit Papier und nicht mit Computern arbeiten und sich gleichzeitig in jahrelangen juristischen Zuständigkeitsstreiten gegenseitig die Kompetenzen absprechen ("If Franz Kafka had inserted this into one of his novels, critics would have accused him of going too far." S. 69). Nach Artikel 311 der indischen Verfassung ist es so gut wie unmöglich einen korrupten Regierungsangestellten zu entlassen, weshalb praktisch überall die Formel gilt: M + D = C ("Monopoly plus Discretion equals Corruption", S. 67). "Especially foreigners do not appreciate the extent of corruption in India. They think it is an additional nuisance to the system. What they do not realise is that in many respects and in many parts of India it is the system." (S. 79). Beispielhaft erläutert Luce absurde, aber der Bestechung förderliche Vorschriften wie die Begrenzung der Rikscha-Lizenzen in Delhi auf 99.000, wo ca. 500.000 Rikscha-Fahrer gezwungen werden, zumeist illegal zu operieren, oder die Illegalität der ca. 600.000 Straßenhändler der Hauptstadt, deren Waren – können sie nicht genug Bestechungsgelder bezahlen – "konfisziert" werden und dabei nie wieder sichtbar im Verwaltungskreislauf untertauchen. Obwohl 47 % der Kinder unter fünf Jahren chronisch unterernährt sind, leistet sich Indien neben nuklearen Sprengköpfen mit der staatlichen Indian Space Research Organisation in Bangalore ein Wettrennen um unbemannte Mondmissionen mit China. Die Probleme im System zeigen sich überaus deutlich in dem dramatischen Rückstau an Gerichtsprozessen von über 27 Millionen Fällen, für die die indische Rechtssprechung bei dem gegenwärtigen Tempo 300 Jahre bräuchte. "Justice delayed is justice denied" (S. 94), außerdem belastet der Rückstau die wirtschaftliche Entwicklung, da etwa 55 Milliarden Euro, d. i. etwa zehn Prozent des Bruttoinlandprodukts, in Rechtsstreitigkeiten gebunden sind. Andererseits schafft es die indische Regierung, Sicherheit und Infrastruktur für über zwanzig Millionen Pilger bei der Kumbh Mela zu organisieren.
Das dritte Kapitel "Battles of the Righteous – The rise of India's lower castes" (S. 106-143) versucht die Koalitionspolitik regionaler Parteien zu erklären, die oft seltsame Allianzen, z. B. zwischen Dalits und Brahmanen hervorbringen. Nachdem Luce Ambedkar und die Dalit-Problematik erklärt hat, beschreibt er seine persönlichen Eindrücke bei seinen Interviews mit Lalu Yadav, der die Muslim-Yadav-Koalition in Bihar vorantrieb, Atiq Ahmed von der Samajwadi Partei (SP) in Allahabad und Amar Singh, der für die SP im Unterhaus in Delhi ist. Die traurige "kidnapping-industry" in Bihar, die insbesondere vor Wahlen zuschlägt, und die Tatsache, dass über hundert der 545 indischen Unterhausabgeordneten einen kriminellen Hintergrund haben, kontrastiert Luce mit Beschreibungen des privaten Domizils von Amar Singh, der in seiner von Edwin Lutyen entworfenen Residenz vor einer Fernsehwand für 45.000 EUR sitzt.
Das vierte Kapitel "The Imaginary Horse – The continuing threat of Hindu nationalism" (S. 144-181) beschreibt die Sangh Parivar, also die Organisationen mit eindeutigen Bezug zur Hindutva-Ideologie des Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS). Die rassistische Ideologie der RSS, nach der kommunistischen Partei in China die größte politische Bewegung der Welt, wird am Beispiel eines Interviews mit Ramachandra Tupkary, Herausgeber einer intellektuellen RSS-Zeitschrift, beispielhaft erklärt. Danach lässt Luce in seiner Beschreibung des Schulbuchstreits, als in einer Überarbeitung indischer Geschichtsbücher sowohl das Wort "Kaste " als auch die Ermordung Gandhis durch einen Hindunationalisten gestrichen wurden, Romila Thapar, Michael Witzel und Christophe Jaffrelot zu Wort kommen. Luce kommentiert die skandalösen Vorfälle um die Schließung einer Kentucky Fried Chicken-Filiale durch die Bharatiya Janata Party (BJP) in Delhi 1995 sowie um die Verhaftung des Shankaracharya in Kanchi, der des Mordes und des sexuellen Missbrauchs beschuldigt wurde. Mit dem Versuch auf der Grundlage von D. N. Jhas Werk "The Myth of the Holy Cow" den Hinduismus zu analysieren, überschreitet er die Grenzen seiner Kompetenzen. Das Kapitel endet mit einer geschmacklosen Beschreibung seines Interviews mit Sri Sri Ravi Shankar, den er als geldgeil porträtiert ("All major credit cards are accepted." S. 179) und sich über dessen Haartracht amüsiert: "It looked as if Jesus were shooting a shampoo advertisement" (S. 178).
Das fünfte Kapitel "Long Live the Sycophants – The Congress Party's continuing love affair with the Nehru-Gandhi dynasty" (S.182-220) ergänzt Kapitel vier. Kurz wird der Congress vorgestellt und in Familiengeschichten von Sonia, Rajiv und Sanjay Gandhi eingeführt. Höhepunkte des Kapitels sind die Beschreibungen der Interviews mit Sonia Gandhi, die Luce ganz alleine zuhause empfängt und ihm Tee serviert, als auch mit Sheila Dikshit, die als Ministerpräsidentin von Delhi 1999 maßgeblich zur Einführung des Erdgas-angetriebenden Bus- und Rickshaw Betriebs Delhi beigetragen hat. Kritisch, aber zuwenig kontrovers diskutiert Luce den Skandal um gefälschte Mitgliederlisten und die gegenwärtige Koalition mit der tamilisch-nationalistischen Dravida Munnetra Kazhagam (DMK). Nach der Ermordung Rajivs 1991 hatte der Congress zunächst jegliche Kommunikation mit Parteien, die Sympathie für die Tamil Tigers ausdrücken, abgebrochen.
Das sechste Kapitel "Many Crescents – South Asia's divided Muslims" (221-260) ist ebenfalls in Bezug auf Kapitel vier zu verstehen. Mit dem gleichen respektlosen Argwohn wie er den Hinduismus diskutiert, knöpft sich Luce nun die Muslime und die Entstehung Pakistans vor. In der Widergabe seines schlecht vorbereiteten Interviews in Deoband spiegeln sich allerhand Vorurteile zur Mittelalterlichkeit des Islams. Danach liest man über Taliban, Terroristen, Jihadis, Fidayeen und den elften September. Mit keiner Silbe erwähnt Luce die Barelwi-Tradition, der sich die meisten Muslime Südasiens zurechnen würden, oder den legendären indischen Sufismus. Seine Beschreibung der Friedensinitiative mit Pakistan ist wiederum sehr informativ. Um sich – politisch korrekt – nicht den Schuh der Islamophobie anzuziehen, endet das Kapitel mit der Geschichte der Gujarat-Vorfälle und seinem Interview mit Narendra Modi, der dem Leser als Sündenbock für Islamfeindlichkeit vorgestellt wird.
Im siebten Kapitel "A Triangular Dance – Why India's relations with the United Sates and China will shape the world in the twenty-first century" (S. 261-299) erklärt die politischen Erwartungen der drei großen Mächte des 21. Jahrhunderts, die gleichzeitig massiv das internationale Vorgehen gegen die globale Erwärmung behindern. Indien wird vermutlich in den 2020ern Japan überholen und drittgrößte Wirtschaftskraft der Welt werden. Die Bush-Regierung versucht seit März 2005 Indien in seiner Geburt zur Supermacht zu unterstützen (der Nuklearvertrag vom Juli 2005 ist ein erstes Zeichen), um ein Gegengewicht zu China aufzubauen, eine Rolle, der sich Indien bisher verweigert, auch weil es ein zunehmend wichtigerer Handelspartner für China und Lieferant für Eisen und Stahl wird. Obgleich es Spannungen im Sinne von Grenzkonflikten, einem aggressiven Wettbewerb um Rohstoffe und der Rolle Chinas als wichtigster Waffenlieferant Pakistans gibt, haben beide Länder gleiche Interessen in ihrer Energiepolitik ("coopetition") und eine in mancher Hinsicht komplementäre Wirtschaft – mit gleichen Interessen gegen Amerika. Das Kapitel endet mit einer Beschreibung der diplomatischen Landschaft Indiens. Befremdet vom Nationalstolz indischer Diplomaten, ihrer Liebe zur Etikette und Besessenheit von Status, formuliert er den Titel des Buches um: "India is rising in spite of its diplomacy" (S. 288).
Das achte Kapitel "New India, Old India – The many-layered character of Indian modernity" (S. 300-333) beschwört die Probleme Indiens, als erstes den Hinduismus, ein Zeichen der Rückständigkeit, weil Luce Religion als Gegensatz zu Modernität empfindet (S. 313). Im Hinduismus begründet sieht Luce seine folgenden Kritikpunkte: demografische Geschlechterverteilung, Diskriminierung der Frau als sexuelles Wesen, Sanskritiserung und natürlich das Kastensystem. Jeden dieser Punkte müsste man differenzierter diskutieren. Wenn er schreibt "Hinduism is becoming less segmented…for the first time in its history – Hinduism is turning into a unified mass religion" (S. 311) möchte man Luce hinweisen auf neue Gottheiten, beispielsweise gegen AIDS, und natürlich die Frühgeschichte, in der die indische Religionswelt wenigstens im Normativen weit weniger vielfältig war. Die Grundsignatur der modernen indischen Götterwelt ist ein expandierender Pluralismus und Versuche diese Expansion zu begrenzen sind nur ein Teil dieses Wandlungsprozesses. Für die Diskussion inwiefern man von einem "Hinduismus" sprechen kann, ist das von Hermann Kulke und Günther-Dietz Sontheimer herausgegebene Buch "Hinduism Reconsidered" (Delhi 1989) immer noch das Standardwerk, das Luce leider nicht kennt.
Danach beschreibt er anhand seines Interviews mit Amitabh Bachchan Bollywood am Beispiel zweier Filme und die Heiratskultur am Beispiel der Wedding Design Company in Delhi. Sein letzter Kritikpunkt ist die Kinderarbeit, die ihm wirtschaftlich nicht lohnenswert erscheint. Am Beispiel von Deluxe Carpets, einem Teppichhersteller für IKEA zeigt Luce, dass Erwachsene Teppichknoten fester und schneller ziehen, d. h. sie produzieren mehr und eine bessere Qualität als Kinder.
Die Schlussbetrachtung "Hers to Lose – India's huge opportunities and challenges in the twenty-first century" (S. 334-362) nennt die Reformen, die Delhi anpacken muss, um den Anforderungen einer globalisierten Welt gerecht zu werden. Neben Umweltschutz und Klimawandel braucht die ländliche Bevölkerung Landwirtschaftsreformen, da der wachsende Wohlstand in den Städten einen höheren Bedarf an Gemüse, Proteinen und Huhn mit sich bringt, in deren Anbau gleichzeitig mehr Leute beschäftigt würden. Der Tourismus-Sektor ist – im Vergleich zu den zahlreichen Sehenswürdigkeiten - immer noch vergleichsweise schlecht ausgebildet: mit zweieinhalb Millionen Besuchern 2005 hatte Indien weniger Touristen als das kleine Wüstenemirat Dubai. Nicht nur wegen der Touristen muss Delhi die Luft- und Wasserqualität verbessern, eine effektives Elektronetz auch für die Dörfer aufbauen und in die Infrastruktur investieren. In den Städten gibt es einen dringenden Bedarf an U-Bahnen, Parkplätzen und größeren Straßen. Das Streckennetz der Indischen Bahn ist bereits ausgelastet und bedarf eines Ausbaus. Die indische Energiepolitik sollte in einem Ministerium für Energie zusammengeführt werden und das Pipeline-Projekt mit dem Iran müsste vorangetrieben werden. Die Beschäftigungsgesetze und das Steuersystem müssen vereinfacht und die Finanzmärkte liberalisiert werden. Dann kann Indien seinen Vorteil gegenüber China in der demografischen Entwicklung und im immensen intellektuellen Kapital auch nutzen. Das Hauptproblem sieht Luce in der dramatisch anwachsenden HIV-Infektionsrate. Nach offiziellen Statistiken gibt es in Indien 5,1 Millionen HIV-Infektionen (im Vergleich: die meisten HIV-Infektionen hat Südafrika mit 5,3 Millionen), aber da einige Länder wie Bihar keine Zahlen liefern, kann man davon ausgehen, dass Indien weltweit am meisten betroffen ist von dem HI-Virus. Ohne eine massive Kampagne wird sich die Anzahl der Infizierten in den nächsten Jahren explosionsartig auf etwa 25 Millionen bis 2010 bzw. 40 Millionen im Jahr 2013 erhöhen. Mit Unverständnis kommentiert Luce die falsche Entscheidung der Regierung, Homosexualität nicht zu legalisieren, wie es die indische Rechtskommission (Law commission) 2005 empfohlen hat.
Des weiteren enthält das Buch elf Seiten Fußnoten, ein vierseitiges Glossar und einen 20-seitigen Index.
Insgesamt ein sehr gut, bisweilen unkonventionell geschriebenes Buch, das von vielen verschiedenen Seiten und gleichzeitig auf unterschiedlichen Ebenen informiert. Der Autor hat, neben einigen Jahren Indienerfahrung und zahllosen Interviews mit indischen Politikern und Geschäftsführern, sehr ordentlich recherchiert, und viele Standardwerke zum Alten und Neueren Indien werden zitiert. Die zahlreichen Verweise auf wichtige Sekundärliteratur im Text fallen angenehm auf. Luce vermag dem unbedarften Leser die durch die Gegenwartsmoderne bedingten, hochkomplexen und tiefgreifenden Differenzierungsprozesse in den politischen Landschaften Indiens in einfacher Sprache verständlich zu machen ("Fragmentation Rules!", S. 172).
Seine Beschreibungen der religiösen Welten Indiens hingegen erscheinen in seinem sonst erfrischend unkonventionellen Stil bestenfalls kalt, oft geschmacklos. Kapitel vier und sechs sind unbestreitbar die Tiefpunkte in diesem Buch. Sein Blick auf Ashrams schafft wenig Verständnis ("the temple is dirty", S. 179) und ist nur selten von Subjektsprachen geprägt. Seine Versuche, seine Argumentation mit zentralen Textbelegen aus alten Sanskritschriften zu untermauern, wirken unbeholfen, zeigen aber, dass sich der Autor umfangreich zu informieren versucht hat. Seine Perspektive auf die gegenwärtige Transformation von Religion, die kein Beobachter ignorieren kann, ist derart von Unverständnis geprägt, dass dieses Buch unweigerlich die Frage aufwirft, weshalb ein Ökonom und Journalist der Financial Times überhaupt über religiöse Wandlungsprozesse nachdenken muss, wenn er eigentlich zum "wundersamen" Wirtschaftswachstum Indiens schreiben soll...
Edward Luce studierte Politikwissenschaft, Philosophie und Wirtschaftslehre in Oxford und Zeitungsjournalismus in London. Er war Redenschreiber für den ehemaligen US-Finanzminister Larry Summers in Washington DC und leitete zwischen 2001 und 2005 das Büro der Financial Times in Delhi. Der Grund für dieses Buch (S. x) ist seine indische Ehefrau Priya.
Quelle: Edward Luce: In Spite of the Gods. The Strange Rise of Modern India. London: Abacus. 400 S., 16 Bildtafeln, ISBN 978-0-349-11874-1. GBP 8,99.
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