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24. Juni 2000. Indien Indian National Congress

Der Indian National Congress (INC) ist die älteste indische Partei. Zwischen 1947 und 1996 stellte er bis auf kurze Perioden zwischen 1977-80 und 1989-91 ununterbrochen die Regierung. Zahlreiche andere Parteien sind vor und nach der Unabhängigkeit aus ihm hervorgegangen.

Geschichte

Gegründet wurde der INC 1885 als Honorationenverein, in dem sich Mitglieder der anglisierten einheimischen Elite Britisch-Indiens zusammenfanden, um sich für Reformen der Kolonialherrschaft - insbesondere einen besseren Zugang von Einheimischen zu Verwaltungsstellen - einzusetzen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts formulierte das Kongreß-Mitglied B.G. Tilak erstmals die Forderung nach staatlicher Unabhängigkeit. Doch erst unter der Führung Mahatma Gandhis wurde der INC zu einer wirklichen Massenbewegung, die bis 1947 die Unabhängigkeit erkämpfte. Die Herausforderung des nationalen Alleinvertretungsanspruchs des INC durch die Muslim League führte parallel dazu zur Gründung Pakistans als Staat für die Muslime Indiens.

Erster Premier Indiens wurde Jawaharlal Nehru. Nach der Ermordung Gandhis und dem Tod von Innenminister Vallabhbhai Patel, seines stärksten innerparteilichen Rivalen, wurde Nehru unumstrittener Führer des INC. Grundlegende Richtungsentscheidungen, wie das klare Bekenntnis zum Säkularismus, die Dominanz des Staates im Wirtschaftsleben und der außenpolitische Kurs der Blockfreiheit, konnte Nehru so durchsetzen. In den ersten 30 Jahren nach der Unabhängigkeit stellte der INC ohne Unterbrechung die Regierung Indiens. Ausgestattet mit komfortablen Mehrheiten in Union und Staaten war er die staatstragende und staatsgetragene Partei bis 1977. Nach dem Tod Nehrus im Jahr 1964 folgte ihm der Kongreß-Veteran Lal Bahadur Shastri als Premier. Shastri starb aber nur zwei Jahre später bei den Friedensverhandlungen in Taschkent, die den zweiten indisch-pakistanischen Krieg beenden sollten.

Die mächtigen regionalen Kongreßführer, das sog. "Syndikat", einigten sich auf Nehrus Tochter, Indira Gandhi, als Kompromißkandidatin, die sie leicht zu manipulieren hofften. Indira, die als enge Vertraute Nehrus in die Politik eingeführt wurde und in Shastris Kabinett das Ministerium für Information und Rundfunk geleitet hatte, entwickelte aber schnell einen eigenen Willen zur Macht. Der Beginn ihrer Regierung fiel in die Zeit einer schweren Wirtschaftskrise. Zwei aufeinanderfolgende Dürreperioden führten zu einer Hungersnot und dem vorübergehenden Zusammenbruch der staatlichen Planung. Bei den Wahlen 1967 mußte der Kongreß erstmals in seiner Geschichte schwere Verluste in Union und Staaten hinnehmen. Zwar reichte das Mandat, um in Neu Delhi an der Macht zu bleiben, aber in mehreren Staaten stellten erstmals bisherige Oppositionsparteien die Regierungen.

Die schwere Niederlage führte zu einem Machtkampf innerhalb der Kongreßpartei. Die Bosse des "Syndikat" scheiterten schließlich mit dem Versuch, Indiras Rücktritt vom Parteivorsitz zu erzwingen, und verließen 1969 mit ihrer gesamten Gefolgschaft die Partei. Sie gründeten die Konkurrenzpartei Congress (Organisation), was darauf hinwies, daß sie den größten Teil der Parteibasis und organisatorischen Infrastruktur mit sich zogen. Indira führte "ihren" Kongreß konsequenterweise unter dem Namen Congress (Ruling) weiter - seit 1978 als Congress (Indira). Gezwungen den Verlust der Parteibasis wettzumachen, schlug Indira Anfang der 70er Jahre einen radikal populistischen Kurs ein. Gleichzeitig gelang es ihr, neue Schichten politisch zu mobilisieren, im Indira-Kongreß löste die Bauern die Rechtsanwälte ab. Die Wahlen 1971 gewann sie haushoch mit dem Slogan Garibi Hatao ("Schlagt die Armut!"). Parallel dazu wurden die wichtigen politischen Entscheidungen mehr und mehr in einem kleinen Zirkel der Macht gefällt. Diese Zentralisierung führte dazu, daß Indiras Politik weitgehend unabhängig von lokalen Bedürfnissen bestimmt wurde, was zu einer starken Entfremdung von Politik und Bevölkerung führte und der Korruption Vorschub leistete. Gegen diese Entwicklung formierte sich ab 1973 in Nordindien eine starke Protestbewegung unter Führung des Gandhianers Jayaprakash Narayan, die als "Bewegung für die totale Revolution" Indiras Rücktritt forderte. Auf dem Höhepunkt des Protestes ließ Indira den nationalen Notstand ausrufen, setzte die Demokratie außer Kraft und regierte für zwei Jahre quasi-diktatorisch. Tausende von Oppositionellen wurden inhaftiert, Presse und Justiz wurden drangsaliert, Slums gewaltsam geräumt, und insbesondere Männer aus ärmeren Schichten wurden Opfer von Zwangssterilisierungen.

In einer eklatanten Fehleinschätzung der Stimmung ließ Indira für 1977 Wahlen ansetzen, in denen der Kongreß erstmals die Mehrheit verlor. Geschlagen wurde er von der Janata Party, einem heterogenen Parteienbündnis bestehend aus Kongreßdissidenten, Sozialisten und Hindunationalisten. Angesichts der internen Konflikte des Janata-Bündnisses war sein Erfolg nur von kurzer Dauer, und bei vorgezogenen Neuwahlen 1980 kam Indiras Kongress erneut an die Macht. Beherrschendes Thema der kommenden Jahre wurde der separatistische Kampf radikaler Sikhs für ein unabhängiges Khalistan. Da die Führungsspitze der Separatisten sich im höchsten Sikh-Heiligtum, dem Goldenen Tempel in Amritsar, verschanzt hatte und von dort den Punjab mit Terror überzog, ließ Indira 1984 den Tempel in der berüchtigten Operation Bluestar von der Armee stürmen. Die Entweihung des Heiligtums erzürnte selbst moderate Sikhs, und noch im gleichen Jahr wurde Indira von zwei Sikh-Leibwächtern erschossen. Als Reaktion darauf brachen in Delhi schlimme Pogrome gegen die Sikh-Minderheit aus, die von lokalen Kongreß-Politikern gesteuert waren.

Die Kongreßpartei hob Indiras Sohn, Rajiv Gandhi, der erst wenige Jahr zuvor in die Politik eingestiegen war, auf den Posten des Parteivorsitzenden, und bei den folgenden Unterhaus-Wahlen gewann der Kongreß haushoch. Mit 48% der Stimmen und über zwei Drittel der Sitze erreichte er sein bis heute bestes Wahlergebnis. Nach den Unruhen der vergangenen Monate war es wohl das Bedürfnis der Wähler nach Stabilität und Kontinuität, das Rajiv Gandhi zur Macht verhalf. Rajiv - entfremdet vom größten Teil der Bevölkerung - trat an mit einer jugendlichen Vision von einem modernen und prosperierenden High-Tech-Indien. Er setzte die unter Indira tastend begonnene Liberalisierung der Wirtschaft insbesondere im Hochtechnologiesektor fort, womit u.a. der Grundstein für die heute weltberühmte indische Software-Industrie gelegt wurde. Letztlich war Rajiv aber nicht in der Lage, die Bedürfnisse der großen Masse der Bevölkerung auch nur annähernd zu befriedigen. Hinzu kamen Ermittlungen gegen die Kongreßführung und die Gandhi-Familie im Zusammenhang mit einem Korruptionsskandal um Rüstungslieferungen des schwedischen Bofors-Konzern, die den Niedergang der Rajiv-Regierung forcierten. Bei den Wahlen 1989 mußte der Kongreß die Macht an die Minderheitsregierung der National Front abgeben, einem Wahlbündnis unter Führung der Janata Dal (JD). Damit begann für Indien eine Ära der Minderheits- und Koalitionsregierungen. Aus Gründen, auf die weiter unten noch eingegangen werden wird, stürzte die National Front-Regierung unter V.P. Singh bereits 1990. Zwar führte Chandra Shekar, ein innerparteilicher Rivale Singhs, in den folgenden Monaten eine weitere Minderheitsregierung. Da Shekar aber von der Duldung des Kongreß abhängig war, wurde er dessen Marionette, die zum geeigneten Zeitpunkt fallengelassen wurde. Dieser Zeitpunkt war gekommen, als die Regierung Shekar 1991 angesichts dramatisch geschrumpfter Devisenreserven Indiens Zahlungsunfähigkeit erklärte und Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) aufnahm. Obwohl Shekar die vom IWF geforderten Strukturanpassungen nur teilweise akzeptierte, erntete er harte Kritik aus dem Lager der Opposition. In dieser Situation boykottierte der Kongreß, auf dessen Stimmen Shekar angewiesen war, die Abstimmung des Interimhaushalts, so daß die Regierung zum Rücktritt gezwungen war.

Im folgenden Wahlkampf wurde die Kongreßpartei von dem Selbstmordattentat einer tamilischen Terroristin auf Rajiv Gandhi erschüttert. Inmitten der Wahlen wurde der Indira-Vertraute P.V. Narasimha Rao zum Nachfolger Rajivs gekürt. Der Kongreß gewann die Wahlen mit 225 Sitzen, verfehlte aber die absolute Mehrheit. Zwar begann Rao seine Amtszeit als Führer einer Minderheitsregierung, aber später gelang es ihm, Abgeordnete der JD in sein Lager zu ziehen. Nunmehr ausgestattet mit einer parlamentarischen Mehrheit machte er sich zusammen mit seinem Finanzminister Manmohan Singh an die Liberalisierung der indischen Wirtschaft. Die Rao-Regierung überstand eine volle Legislaturperiode, allerdings hatte sie am Ende abgewirtschaftet: Trotz ihrer unbestrittenen wirtschaftlichen Erfolge fiel die Zerstörung der Babri-Moschee in Ayodhya in ihre Regierungszeit, Rao war mit massiven Korruptionsvorwürfen konfrontiert, und der Kongreß mußte wiederholt Niederlagen bei Landtagswahlen einstecken. Auch die Unterhaus-Wahlen 1996 brachten der Kongreßpartei eine schwere Niederlage. Obwohl es ihr immer noch gelang, die meisten Stimmen auf sich zu vereinen, kam sie nur auf 136 Sitze. Rao trat vom Vorsitz der Partei zurück und wurde von Sitaram Kesri abgelöst. Bis 1997 unterstützte der Kongreß die Minderheitsregierung der United Front von außen, entzog der Regierung aber Ende 1997 das Vertrauen, als bekannt wurde, daß eine südindische Regionalpartei der United Front angeblich Verbindungen zu den Liberation Tigers of Tamil Eelam unterhielt, die für die Ermordung Rajiv Gandhis verantwortlich gemacht wurden.

Für den nun folgenden Wahlkampf gelang es der INC-Führung, Sonia Gandhi, die Witwe Rajiv Gandhis, als Zugpferd zu gewinnen, die bis dahin ihren Eintritt in die Politik abgelehnt hatte. Doch entgegen den Erwartungen der Kongreß-Basis profitierte die Partei an den Urnen kaum von Sonias Engagement. Die Bharatiya Janata Party (BJP) verwies den Kongreß, der 141 Sitze erhielt, auf den zweiten Platz und zog erstmals gleichauf beim Stimmenanteil. Trotz der enttäuschten Hoffnungen übernahm Sonia kurz nach den Wahlen den Vorsitz der Partei und löste damit die alte Garde um Kesri ab. Zusammen mit ihrer Tochter Priyanka, der Ambitionen auf eine Politkarriere nachgesagt werden, knüpft Sonia an die Familientradition der quasi-dynastischen Parteiführung an. Den Sturz der BJP-geführten Regierung nach nur 13 Monaten Amtszeit konnte der Kongreß nicht für sich nutzen, da er mit der Bildung einer neuen Regierung scheiterte. Als während des beginnenden Wahlkampfes drei "Regionalfürsten" des Kongreß, Sonias Führungsanspruch mit Verweis auf ihre italienische Herkunft in Frage stellten, erzwang sie mit einem vorübergehenden Rücktritt den Ausschluß der Rebellen. Während die gemaßregelten Dissidenten eine neue Partei unter dem Namen Nationalist Congress Party ins Leben riefen, führte Sonia den traditionsreichen Kongreß als Spitzenkandidatin in die Wahlen im Herbst 1999. Doch wieder blieb des INC mit 112 Sitzen nur zweitstärkste Kraft und wurde wieder von den Wählern auf die Oppositionsbänke verwiesen.

Organisation, Wähler und Programm

Höchstes Organ des INC ist das All-India Congress Committee , das sich zweimal im Jahr trifft und den Zustand und Kurs der Partei diskutieren, verbindliche Entscheidungen treffen und die Arbeit der verschiedenen Landesverbände koordinieren soll. In der Zeit dazwischen führt das Congress Working Committee die Partei. Der bzw. die Vorsitzende der Partei wird von den Delegierten aller Landesverbände für zwei Jahre gewählt. Während der INC bis in die 60er Jahre noch als Dach einer äußerst komplizierten Konsensfindung zwischen den vielfältigen Interessen des Landes fungierte, wandelte er sich unter Indira Gandhi mehr und mehr zu einem Patronagesystem, durch das die Erhaltung der Macht organisiert wurde.

Als Erbe der Unabhängigkeitsbewegung vereinte der INC jahrzehntelang unterschiedlichste Wählergruppen auf sich: Die gebildete, anglisierte Mittel- und Oberschicht und Großbauern wählten INC ebenso wie die unterdrückten Kastenlosen und religiöse Minderheiten. In den 80er Jahren verlor er viele Wähler aus den unteren Kasten und den Minderheiten, während die BJP erfolgreich unter den Mittelschichten um Stimmen warb.

Bis heute versteht sich der INC als die nationale, säkulare Kraft. Programmatisch steht er für eine Dezentralisierung und die Stärkung der Kommunalverwaltung sowie für eine weitgehende Liberalisierungspolitik. Er fordert eine Verwaltungsreform, die Einführung von Frauenquoten im Parlament, eine Bildungsoffensive, eine Modernisierung der Landwirtschaft und ein hartes Vorgehen gegen Korruption.

Quellen

  • Paul R. Brass und Francis Robinson (Hg.) (1987): The Indian National Congress and Indian Society, 1885-1985, Delhi: Chanakya
  • John L. Hill (Hg.) (1991): The Congress and Indian Nationalism. Historical Perspectives, Westwood, Massachusetts: Riverdale
  • Om P. Gautam (1985): The Indian National Congress. An Analytical Biography, Delhi
  • Stanley A. Kochanek (1968): The Congress Party of India, Princeton: Princeton University Press
  • Myron Weiner (1967): Party Building in a New Nation. The Indian National Congress, Chicago: University of Chicago Press

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