Beiträge willkommen: suedasien.info versteht sich als vorwiegend deutschsprachiges Informationsportal für die Region Südasien. Wir freuen uns über externe Beiträge zu allen Aspekten der Gesellschaft, Politik, Geschichte und Kultur des Subkontinents bzw. auf die gesamte Bandbreite des vielfältigen und vielschichtigen Lebens in der Region überhaupt. ... [mehr ...]
Call for Papers: Liebe Leserinnen und Leser, in loser Folge möchten wir Spezialisten vorstellen, die langjährig in der und über die Region gearbeitet haben - sowohl im akademischen als auch im nicht-akademischen Bereich - und daher fundierte Einblicke eröffnen können. Ziel ist es dabei entgegen den Trends einer oft schnelllebigen Mediengesellschaft das zumeist Jahre und Jahrzehnte umfassende Schaffen von Wissenschaftlern und Fachleuten in möglichst umfassender Bandbreite sichtbar zu machen, d.h. ein Werk durchaus mit unterschiedlichen Akzentsetzungen, Brüchen oder theoretischen Ansätzen vorzustellen. Die Redaktion freut sich wie immer auf Ihre Vorschläge, Ideen, Anregungen und Mitarbeit an dieser Reihe! ... [mehr ...]
M | D | M | D | F | S | S |
---|---|---|---|---|---|---|
1 | 2 | 3 | 4 | |||
5 | 6 | 7 | 8 | 9 | 10 | 11 |
12 | 13 | 14 | 15 | 16 | 17 | 18 |
19 | 20 | 21 | 22 | 23 | 24 | 25 |
26 | 27 | 28 | 29 | 30 | 31 |
Der Begriff Kaste stammt von dem portugiesischen Wort "casto", welches soviel wie "rein" oder "keusch" bedeutet. Die Portugiesen als frühe Kolonialherren in Indien versuchten damit ein Phänomen der Abgrenzung und hierarchische Anordnung von Gruppen vor allem in Bezug zur Heirat zu benennen, welches sie aus ihrer eigenen Kultur nicht kannten. Der Term Kaste, der somit kein indischer Begriff ist, sondern eine Fremdzuschreibung, wurde dabei auf zwei unterschiedliche, nichtsdestotrotz ähnliche indische Kategorien angewandt - nämlich jati und varna.
Erstere, jati, könnte man mit "Art", "Gattung" oder "Wurzel" übersetzen - ein Begriff, der in Indien nicht nur zur Einteilung von Menschen in verschiedene Gruppen, sondern auch zur Klassifikation von Tieren, Steinen o.ä. verwendet werden kann. In Bezug zum sozialen System bezeichnet jati die empirischen Gruppen, die heutzutage in Indien anzutreffen sind. Im Census von 1881, als die Briten begannen, Indien systematisch zu erfassen, zählten die Briten fast 2.000 Kasten (jati).
Demgegenüber bezeichnet die Kategorie varna - ein Begriff, der mit "Farbe" übersetzt werden kann - die vier mythologisch begründeten Kasten der brahmanischen Ideologie. Aus dem Ur-Menschen Purusha seien demnach vier varna bzw. Kasten entsprungen: aus dem Mund die Priester bzw. Brahmanen, aus der Schulter die Krieger bzw. Kshatriya, aus einem Schenkel die Händler bzw. Vaishya und schließlich aus der Fußsohle die Bediensteten bzw. Shudra. Wie die Art der Körperteile bereits andeutet, sind die vier varna hierarchisch geordnet, d.h. die Brahmanen stehen an der Spitze dieser Hierarchie und damit über den Kshatriya bzw. Kriegern, die wiederum als höher gegenüber den Vaishya gelten. Die Shudra bilden die unterste Kategorie innerhalb des varna-Schema, wobei die aus diesem Schema herausfallenden "Kastenlosen" als noch niedriger angesehen werden. Allen vier varna sind dabei verschiedene Farben zugeordnet - so etwa weiß den Brahmanen oder rot den Kshatriya.
Zwischen jati und varna besteht insofern eine Beziehung, dass jede jati sich einer der vier varna zuordnet. Die Ansprüche einer jati XY, beispielsweise Krieger bzw. Kshatriya zu sein, sind dabei häufig umstritten und können von Nicht-Mitgliedern dieser Kaste zurückgewiesen werden. Die Ansprüche auf einen bestimmten Status als varna und deren Anerkennung sind vielfach im Fluss und verändern sich durch Prozesse sozialer Mobilität, d.h. Ansprüche werden erhöht oder angeglichen, wenn Kasten einen sozialen Aufstieg erfahren. Während allerdings Kaste als jati oft lokal oder regional begrenzt ist und man in verschiedenen Teilen Indiens hinsichtlich ihrer Namen, Mythen, Anzahl etc. recht unterschiedliche Kasten findet, können die vier varna als all-indische Kategorien herangezogen werden, um eine gewisse Vergleichbarkeit des Status einzelner Kasten zu ermöglichen.
Neben dem schon erwähnten Mythos zur Entstehung der varna findet sich eine Reihe weiterer Theorien, wie Kasten entstanden seien. Allerdings sind alle diese Erklärung spekulativ, weswegen sich viele Wissenschaftler bewusst auf das gegenwärtige Kastensystem und dessen Funktionsweise beschränkten. Nichtsdestotrotz sollen hier einige Ideen zur "Evolution" der Kasten erwähnt werden.
In den dharmashastra (siehe Pandey 1993 [1969], Tambiah 1973), Rechtsbüchern mit Verhaltensvorschriften für die vier varna, wird eine Theorie vertreten, wie die jati aus den varna entstanden seien - nämlich durch die Vermischung der einzelnen varna bzw. durch die Heirat von Personen unterschiedlicher varna. Die in den dharmashastra propagierte Norm besagte, dass Brahmanen nur Brahmanen heiraten sollten, Kshatriya nur Kshatriya etc., d.h. Heirat sollte innerhalb der varna arrangiert werden. Durch die von der Norm abweichenden Heiraten - beispielsweise zwischen einem Brahmanen und einer Kshatriya - entstünden neue Kategorien. Die Kinder aus einer solchen Beziehung seien weder Kshatriya noch Brahmanen, sondern eine eigene Kaste. Durch Heiratsverbindungen statushoher Frauen mit statusniederen Männern entstünden dabei sehr statusniedrige Kategorien und im Extremfall der Heirat einer Brahmanin und eines Shudra-Mannes die Kategorie der Chandala, die auch mit den heutigen "Unberührbaren" identifiziert werden (siehe unten). Durch "Mischehen" hätte sich die Zahl der Kasten somit vervielfältigt - aus den vier varna seien hunderte jati geworden.
Demgegenüber rückt in der Theorie von A.M. Hocart (1987 [1935]), die in neuerer Zeit verstärkt aufgegriffen wurde (siehe unten), der König ins Zentrum des Kastensystems, der verschiedenen Personen im Opferritual unterschiedliche Rollen zugewiesen hätte. Durch eine Erblichkeit der Funktionen im Ritual wie etwa Priester, Barbier etc. seien später Kasten entstanden. In diesem Ansatz kommt also der Arbeitsteilung bei der Entstehung besondere Bedeutung zu.
Historische Erklärungen des Phänomens Kaste verweisen schließlich zumeist auf verschiedene Einwanderungswellen nach Indien, wobei insbesondere die "Arier" die bereits ansässige Bevölkerung - in manchen Fällen auch mit der dravidischen Bevölkerung identifiziert - unterworfen hätten. Dabei sei der einheimischen Bevölkerung von den "Ariern" der Rang von Shudra oder Bediensteten bzw. im schlimmsten Fall von "Unberührbaren" zugewiesen worden. In dieser Theorie wird die "racial antipathy" (siehe in Klass 1993 [1980]) der Einwanderer hervorgehoben, die eine "Vermischung" mit der unterworfenen Bevölkerung vermeiden wollten. Solche historischen Modelle bleiben aber eben so mutmaßend wie eine weitere Hypothese (Klass 1993 [1980]), wonach sich die Kasten aus Klanen entwickelt hätten, indem die ursprünglich totemistischen* Klane im Laufe der Geschichte die Heirat auf die eigene Gruppe beschränkt hätten.
(*) In Bezug zu Klanen kann Totemismus verstanden werden als eine spirituelle Beziehung der gesamten Gruppe zu einem Totem als "Beschützer" oder "Helfer". Der Totem kann in Form von Tieren, Pflanzen etc. erscheinen, verwandtschaftliche Bindungen mit dem Klan stehen, die häufig in Mythen thematisiert werden und mit besonderen Tabus belegt sein.
Ein früher Entwurf der Charakterisierung des Kastensystems wurde von dem französischen Soziologen C. Bouglé (1997 [1957]) vorgelegt. Er argumentierte:
"the spirit of caste unites [...] three tendencies, repulsion [hier verstanden als Separation im Sinne von Heirat etc. - US], hierarchy and hereditary specialization, and all three must be borne in mind if one wishes to give a complete definition of the caste system."(Bouglé 1997 [1957]: 65)
Darauf aufbauend und innerhalb einer strukturalistischen Theorie, die sich auf die häufig unbewußten Ideen und Werte der Gesellschaft konzentriert, betonte der französische Ethnologe Louis Dumont (1980 [1966]), dass den drei von Bouglé aufgestellten Prinzipien der Kasten - nämlich Zurückweisung bzw. Separation, Hierarchie, erbliche Arbeitsteilung - die gemeinsame fundamentale Opposition rein versus unrein zugrunde liegt. Die Trennung der "reineren" von den relativ rituell "unreineren" Kasten (aber auch reinerer Personen innerhalb der Kasten) bildet demnach die Grundlage der Kasten-Hierarchie als auch der Separation - Heirat bzw. gemeinsames Essen mit "unreineren" wird ausgeschlossen - und der Arbeitsteilung, da "unreinere" Berufe wie etwa Lederarbeiter von "reineren" Berufen wie etwa Priester unterschieden werden. Kontakt mit Statusniederen bzw. "Unreineren" gilt entsprechend als "kontaminierend" und erfordert je nach Kontakt mehr oder weniger umfangreichere Reinigungsrituale, um die eigene Reinheit bzw. den früheren Status wiederherzustellen.
Hierarchie - vor allem auch als Kastenhierarchie - versteht Dumont dabei als:
"as the principle by which the elements of a whole are ranked in relation to the whole, it being understood that in the majority of societies it is religion which provides the view of the whole, and that the ranking will thus be religious in nature." (Dumont 1980 [1966]: 66)
Nach Dumont sollte die Kastenhierarchie als Ordnung der relativ rituell Reinen in Opposition zu den relativ rituell Unreinen gesehen werden. Sie setzt die Elemente, hier die Kasten, in Beziehung zum Ganzen, dem Kastensystem, welches auf der notwendigen, hierarchischen und komplementären Koexistenz von rein und unrein basiert. Die Extreme der Hierarchie werden dabei durch die Brahmanen als Priester und relativ reinster Kategorie und den sogenannten "Unberührbaren" als relativ unreinster Kategorie verkörpert.
Entsprechend Dumonts holistischer Perspektive, die auf Gesellschaft als Ganzes gerichtet ist, wird Hierarchie nicht als lineare Abstufung oder "a chain of superimposed commands" (Dumont 1980 [1966]: 239) verstanden, sondern als "encompassing of the contrary", d.h. als respektive Einschlüsse von Gegensätzen.
Eine solche hierarchische und einschließende Beziehung stellt Dumont (1980 [1966]: 240) etwa im Englischen zwischen "man" (Mann) and "woman" (Frau) fest, d.h. während auf einer übergeordneten Ebene man, verstanden als Mensch wie in mankind, Frauen (women) einschließt, stehen sich auf einer untergeordneten Ebene man als Mann und woman als Frau gegenüber. Man als einschließende Kategorie wäre demnach hierarchisch höher als woman. Eine ähnliche Geschlechterhierarchie sieht Dumont auch in der Genesis der Bibel gegeben, in der Eva aus der Rippe Adams geschaffen wird. Während also einerseits Adam und Eva als Mann und Frau in Opposition zueinander stehen, schließt der im Mythos das Ganze verkörpernde Adam Eva als eine Teil von ihm - nämlich die Rippe - mit ein.
In Dumonts Verständnis ist die Kastenhierarchie nach demselben Muster aufgebaut, d.h. während beispielsweise nach den klassischen Schriften nur die hierarchisch höheren Brahmanen und Kshatriya ein Opfer anordnen dürfen und damit in Opposition zu den Vaishya stehen, schließen Brahmanen und Kshatriya gemeinsam die Vaishya ein, indem Brahmanen, Kshatriya und Vaishya zusammen als "Zweimalgeborene" gelten, die die heilige Schnur tragen dürfen. Die Shudra dagegen sind explizit ausgeschlossen und befinden sich in Opposition zu den "Zweimalgeborenen". "Zweimalgeborene" und Shudra wiederum stehen als varna in Opposition zu den kastenlosen "Unberührbaren".
Gut 30 Jahre vor Dumont hatte A.M. Hocart (1987 [1935]) ein Modell von Kaste entworfen, in dem er den König ins Zentrum des Kastensystems stellte. Der Dienst gegenüber dem König sei dabei die entscheidende Idee und die Basis von Kaste. Hocart schreibt:
"what is uppermost in the minds of all our witnesses is the idea of service: the farmers [in der Rolle der dominanten Kaste bzw. des Königs - US] are feudal lords to whom the others owe certain services, each according to his caste" (Hocart 1987 [1935]: 99)
Ausgedrückt werde Kaste dabei vor allem im Ritual und das Kastensystem erscheint in Hocart's Verständnis als Opferorganisation bzw. als "sacrificial organisation". Er notiert:
"aristocracy are feudal lords constantly involved in rites for which they require vassals or serfs, because some of these services involve pollution from which the lord must remain free" (Hocart 1987 [1935]: 104).
Somit sind Kasten
"merely families to whom various offices in the ritual are assigned by heredity" (Hocart 1987 [1935]: 107).
Einige Kritiker von Dumont's Ansatz wie etwa Raheja (1988) oder Dirks (1979) beziehen sich in ihrer Argumentation stark auf Hocart. Dirks beispielsweise betont, dass die Vermengung von politisch-ökonomischen Beziehungen mit rituellen bzw. religiösen Bindungen zum Verständnis von Kaste helfe. Eine solche Vermischung widerspricht Dumont's Theorie, die die von den Brahmanen verkörperte religiöse Ebene klar von der vom König repräsentierten politisch-ökonomischen Sphäre trennt. Die von Dumont vertretene These, dass die religiöse Ebene die politisch-ökonomische einschließt und somit dem Brahmanen ein höherer Status zukommt als dem König, wird dadurch in Frage gestellt. Im Gegensatz zu Dumont, der dem König bestenfalls einige magisch-religiöse Funktionen zugesteht und primär seine weltliche Macht betont, sehen Raheja und Hocart den König im Zentrum des Rituals. Nach Raheja sind dabei aus der Perspektive des Königs sowohl die Brahmanen als auch Barbiere und andere Kasten als Empfänger von inauspiziösen, d.h. ungücksverheißenden Gaben in einer identischen strukturellen Position.
In der Auseinandersetzung um die Rolle von Brahmane und Kshatriya innerhalb des Kastensystems haben amerikanische Ethnologen wie Marriott (1976), Raheja oder Dirks die von Dumont postulierte Dualismus von Status bzw. religiöser Autorität (Brahmanen) einerseits und weltlicher Macht (Kshatriya) andererseits als eine dem westlichen Denken entsprungene Vorstellung kritisiert und einen vermeintlichen indischen Monismus entgegenzusetzen versucht - ausgedrückt im sakralen Königtum, d.h. der König verfügt über weltliche Macht und religiöse Autorität. Eine auf Reinheit basierende Hierarchie mit den Brahmanen an der Spitze wurde dagegen als eine primär brahmanische Ideologie angesehen, die erst im kolonialen Diskurs aufgrund der weitgehenden Abwesenheit der Könige - ersetzt zunächst durch islamische Herrscher und im folgenden vor allem durch britische Kolonialherren - dominant geworden sei. Dumont habe in seinem Modell diese einseitige Perspektive der Priester übernommen und verallgemeinert, wodurch aber die auf lokaler Ebene in Indien nach wie vor sehr präsente Idee des Königtums vernachlässigt worden sei.
Derselbe Vorwurf der Generalisierung einer bestimmten Perspektive ist aber jüngst auch an Raheja u.a. gerichtet worden. Neuere Arbeiten (siehe Galey 1990, Basu 2000) sprechen auch von multiplen, kontextabhängigen Hierarchien innerhalb des Kastensystems, d.h. während der König im Kontext des Tempels dem die Beziehung zum Göttlichen herstellenden Priester untergeordnet sei, kehre sich dieses Verhältnis im Kontext des Palastes um, wo der König dominiere.
Gut 16 % der indischen Bevölkerung werden von der Regierung als "Scheduled Castes" bzw. "aufgelistete Kasten" klassifiziert. Diese Kategorie umfasst die sogenannten "Unberührbaren", die zum größten Teil, aber nicht notwendigerweise, unter ärmlichen Bedingungen leben. Zu den Widersprüchen Indiens gehört aber auch, das trotz nach wie vor bestehender Diskriminierung von "Unberührbaren" gleichzeitig zwischen 1997 und 2002 mit K.R. Narayanan erstmalig ein "Unberührbarer" das prestigeträchtige, wenn auch rein repräsentative Amt des indischen Präsidenten bekleidete. Neben "Menschenopfer" und "Witwenverbrennung" beschäftigte die sogenannte "Unberührbarkeit" bereits die britischen Kolonialherren in Indien wie kaum ein anderes Phänomen. Auch in diesem Zusammenhang wurde eine Fremdzuschreibung geschaffen, der keiner indischen Kategorie entsprach: "untouchable" wurde erst später wörtlich ins Hindi oder andere indische Sprachen übertragen.
Generell bezeichnet "Unberührbarkeit" die niedrige Position sozialer Gruppen in bzw. auch den teilweisen Ausschluss von einer komplexer Kasten-Hierarchie, die bereits beschrieben wurde. Auch wenn grundsätzlicher jeder Kontakt mit statusniederen Gruppen im Kastensystem, sei es über Essen, Heirat oder physischen Kontakt, als verunreinigend gilt und vermieden werden sollte, wird die Grenze zu den allerniedrigsten Kasten oder Kastenlosen dennoch besonders betont. "Unberührbare" können dabei räumlich getrennt seien, d.h. ihre Siedlungen befinden sich außerhalb der Dörfer. Sie können, wenn auch nach indischer Gesetzgebung illegal, in der Praxis am Betreten von Tempeln oder an der Benutzung bestimmter Brunnen gehindert werden etc. In extremen Fällen wird bereits ihr Anblick und Schatten als kontaminierend angesehen. "Unberührbare" seien daher in der Vergangenheit gelegentlich sogar zum Tragen von Glocken gezwungen worden, um ein zufälliges Aufeinandertreffen zu vermeiden. Allerdings ist die Praxis der "Unberührbarkeit" höchst unterschiedlich in verschiedenen Regionen Indiens. "Unberührbare" müssen beispielsweise nicht in allen Gegenden separate Gehöfte errichten, sondern haben mitunter ihre Häuser zwischen denen anderer Kasten.
Innerhalb der Unabhängigkeitsbewegung und vor allem in den 1930er Jahren wurde eine Debatte um die Charakterisierung der "Unberührbaren" als Hindus und die Frage ihrer Repräsentation in der indischen Politik, ihres Schutzes und ihrer Förderung zwischen dem als Babasaheb verehrten Bhimrao Ambedkar und Mahatma Gandhi geführt. Ambedkar, selbst ein "Unberührbarer" aus der Kaste der Mahar, plädierte 1931 erstmals für getrennte Elektorate (Wählerschaften) für "Unberührbare", die er ähnlich wie für Muslime einführen wollte. Für "Unberührbare", die auch als "Depressed Classes" bezeichnet wurden, bevor der Begriff "Scheduled Castes" eingeführt wurde, sollte eine bestimmte Anzahl an Mandaten im Parlament reserviert werden, wobei die "unberührbaren" Abgeordneten nur von "Unberührbaren" gewählt werden sollten. Ambedkar sah die "Unberührbaren" in einem Gegensatz zu den Kasten-Hindus. Er argumentierte, dass sich die "Unberührbaren" von der Kastenordnung lösen müssten. Enttäuscht von der Zählebigkeit der Reinheitsvorstellungen und anhaltender Diskriminierung, konvertierte er schließlich kurz vor seinem Tod zusammen mit vielen Anhängern zum Buddhismus. Im Gegensatz zu Ambedkar sah Gandhi die Möglichkeit der Reform des Kastensystems, welches man von den negativen Auswüchsen der "Unberührbarkeit" reinigen könne. Ausdruck dieser Haltung ist seine Bezeichnung Harijan: Auch die Menschen außerhalb der Kastenordnung seien "Kinder Gottes".
Im 1935 zwischen Gandhi und Ambedkar ausgehandelten Kompromiss, dem sogenannten "Poona Act", wurde vereinbart, dass Parlamentssitze für "Unberührbare" entsprechend ihres Anteils an der Bevölkerung reserviert werden, aber diese "unberührbaren" Abgeordneten von allen Wählerinnen und Wählern des jeweiligen Wahlkreises gewählt werden und es somit keine getrennten Elektorate geben soll. Diese Einigung wurde im "Government of India Act" von 1935 für die gesamte britische Kolonie bestätigt und nach der Unabhängigkeit durch Ambedkar als erstem indischen Justizminister in der Verfassung verankert. Diese Reservierungspolitik - bekannt geworden auch als "positive Diskriminierung" - gilt bis heute und zwar neben den "Scheduled Castes" auch für "Scheduled Tribes". Anders als bei den Adivasi gibt es jedoch keinen Wahlkreis, in dem "Unberührbare" eine eigene Mehrheit bilden. Angesichts des indischen Wahlrechts führt dies zu der Konsequenz, dass Kandidaten auch andere Gruppen (Kastenhindus, Muslime oder Adivasis) für sich gewinnen müssen, um die Stimmenmehrheit eines Wahlkreises, und damit ein Mandat, zu erringen.
Die grundlegende Debatte zwischen Gandhi und Ambedkar fand einen Widerhall in späteren ethnologischen Auseinandersetzungen (siehe Moffatt 1979), inwiefern man von einer eigenen Kultur der "Unberührbaren" sprechen könne oder inwieweit es einen Konsens über Werte der Kastenordnung gibt, der auch von "Unberührbare" geteilt werde. Abgesehen von allgemeinen Klischees von Andersartigkeit, die sich auch unter Oberkasten finden, und in denen beispielsweise eine relative sexuelle Freizügigkeit unter "Unberührbaren", eine größere materielle Orientierung etc. betont wird, haben Ethnologen wie etwa Kolenda (1983) beispielsweise auf die geringe Bedeutung der Karma-Theorie unter "Unberührbaren" hingewiesen. Andere hoben die Rolle von Emotionen unter "Unberührbaren" im Unterschied zur Zentralität der Rituale unter Kasten-Hindus hervor, wiesen auf die hohe Bewertung individueller Fähigkeiten gegenüber der Unterordnung unter die Gruppe hin oder betonten die vermeintliche radikale Abwendung vom bzw. Ablehnung des Kastensystem unter "Unberührbaren" im Gegensatz zu Strategien der Statusveränderung innerhalb des Systems in anderen Kasten.
Während also einige Ethnologen, mitunter wohl auch geleitet von ihren Sympathien für die "Unberührbaren" und ihren Antipathien für das Kastensystem, Diversität und kulturelle Unterschiede ins Zentrum rückten, wiesen andere Ethnologen wie Dumont und Moffatt derartige Ideen einer "unberührbaren" indischen Subkultur oder eines alternativen Wertekanons zurück. Zweifellos bestehende Unterschiede zwischen "Unberührbaren" und Kasten-Hindus seien danach nicht durch verschiedene Ideen und Werte zu erklären, sondern vielmehr durch einen "communication block", also die fehlende Verständigung und den geringen Austausch aufgrund räumlicher Separation, aber vor allem auch durch die Weigerung der Brahmanen etc., Rituale für "Unberührbare" durchzuführen.
Insofern verfügen "Unberührbare" nicht über eine eigene, gegenüber der Kastenordnung höher bewertete Kultur, sondern würden, wie Moffatt in seiner Studie zu "Unberührbaren" in Tamil Nadu zeigt, die Kastenstrukturen untereinander so weit wie möglich replizieren. Funktionen wie etwa die des Barbiers, von denen die "Unberührbaren" ausgeschlossen sind, werden durch die Schaffung einer Gruppe "unberührbarer" Barbiere kompensiert, wobei eine solche Replikation des Kastensystems unter "Unberührbaren" bis hin zum Ausschluss einer Gruppe, d.h. die "Unberührbaren" der "Unberührbaren", führen kann. Die Kastenhierarchie, in der die Brahmanen und "Unberührbaren" in einer komplementären Opposition stehen, ist somit auch für die "Unberührbaren" ein Wert. Dies bedeutet freilich nicht, dass die Hierarchie dabei konfliktfrei sei, aber Konflikte mit anderen Gruppen etwa um den eigenen Status, werden innerhalb dieses Rahmens ausgetragen.
Viele "Kastenlose" bezeichnen sich heute als Dalits. Diesen, aus dem Sanskrit entlehnten Namen, der übersetzt werden kann als die "Unterdrückten", verwendeten ursprünglich die von Ambedkar organisierten "Kastenlosen" in Maharashtra. Nach dem Tod ihres charismatischen Vordenkers war die Bewegung teilweise in regionalistischen Bewegungen aufgegangen. Seit einigen Jahren versucht eine neue Generation intellektueller Dalits, die von ihnen als "Apartheid" angeprangerte fortdauernde Diskriminierung zu bekämpfen und ein Selbstbewusstsein zu wecken, dass - entgegen brahmanischen Ideologien - den herrschaftlichen, nicht "natürlichen" Aspekt des Ausschlusses aus der Kastengesellschaft betont. Ob und inwieweit "Kastenlose" eigene Wertordnungen bilden, hängt damit auch vom Erfolg solcher politischen Kämpfe ab.
Auch wenn das Kastensystem vielfach als starr und rigide erscheint oder geschildert wird, lassen sich dennoch vielfältige Prozesse des Wandels erkennen (siehe Dumont 1980 [1966], Kolenda 1983, Srinivas 1998). Veränderungen innerhalb des Kastensystems ergeben sich beispielsweise aus permanenten Prozessen der Entstehung neuer Kasten insbesondere aus religiösen Bewegungen, sobald diese dazu übergehen, nur innerhalb ihrer Gemeinschaft zu heiraten bzw. zu essen. Eine relative hohe Mobilität existiert zudem vor allem in den mittleren Rängen der Hierarchie, während die hierarchischen Pole der Kastenordnung - Brahmanen und "Unberührbare" scheinbar weit weniger Veränderungen unterliegen. Die Fluidität in den mittleren Ebenen, d.h. der Auf- und gleichzeitige Abstieg einzelner Kasten, kann dabei durch Faktoren wie Landgewinnung und Bewässerung, veränderte politische Konstellationen, Einwanderung etc. bedingt sein, von denen einzelne Kasten profitieren. Unabhängig davon, aber auch in Kombination mit solchen Faktoren können Kasten versuchen, durch Anlehnung an statushohe Kasten, z.B. durch eine Imitation von Bräuchen, wie etwa dem Verbot der Witwenheirat, die Gabe von Mitgiften etc., einen höheren Status zu beanspruchen bzw. einen solchen Anspruch zu untermauern. In der Literatur sind diese, keineswegs neuen Prozesse als Sanskritisierung (Srinivas 1998), Brahmanisierung, Rajputisierung etc. bezeichnet worden.
Bezüglich der eingangs geschilderten drei Säulen des Kastensystems - Separation bezüglich der Heirat und des Essens, Hierarchie und Arbeitsteilung - stellt man zudem fest, dass die letzte Säule, die Beziehung zur Produktion, zunehmend schwächer wird. Dies ist bedingt durch die Entstehung neuer Berufe vor allem im urbanen Kontext, wobei neue Berufe im Gegensatz zu den alten oft nicht mehr a priori erblich sind. Allerdings gibt es durchaus Tendenzen, neue Berufe wie etwa den Ingenieursberuf in erbliche Beschäftigungen umzuwandeln.
Monetarisierung, Urbanisierung und verstärkte räumliche Mobilität tragen ebenfalls zum Wandel bei, der sich etwa in einer entstehenden kastenübergreifenden Mittelschicht zeigt. Die Existenz einer Mittelschicht bedeutet aber nicht, dass man den gerade in Städten besonders sichtbaren, primär ökonomischen Wandel überbewerten sollte, denn auch in Metropolen wie Delhi wird beispielsweise die überwiegende Zahl der Heiraten innerhalb der Kasten arrangiert. Zudem lässt die Tatsache, dass erbliche Arbeitsteilung nur eine Säule des Kastensystems ist, die These indischer Linken äußerst fragwürdig erscheinen, wonach Kasten mit zunehmender kapitalistischer Durchdringung der Gesellschaft ihre Bedeutung zu Gunsten von "Klassen" verlieren würden.
Letztlich lässt sich eine weitere Tendenz des Wandels von Kaste innerhalb des politischen Systems erkennen - nämlich eine zunehmende Politisierung von Kaste. Diese ist einerseits untrennbar verbunden mit der Entstehung von Kastenorganisationen seit Anfang des 20. Jahrhunderts, die sich dezidiert für die Belange der jeweiligen Kaste einsetzen. Andererseits hängt dieser Prozess mit dem bereits in Bezug zu den "Unberührbaren" dargestellten System positiver und protektiver Diskriminierung bzw. der Reservierungspolitik der indischen Regierung zusammen, wodurch die Kategorie Kaste für den Zugang zu staatlichen Förderungen relevant wurde. Somit werden Vergünstigungen der Regierung nicht aufgrund wirtschaftlicher Not, sondern aufgrund der Zugehörigkeit zu bestimmten Kasten vergeben. Hierbei ist zwar in vielen, aber eben nicht allen Fällen die Mehrheit der von den Reservierungen profitierenden Kaste zumeist auch arm und benachteiligt.
Durch die Ausdehnungen der Reservierungen im Zuge der Umsetzung der Vorschläge der Mandal Commission 1990, wodurch nun auch die sogenannten "Other Backward Classes" (OBC) durch eine Quote gefördert werden, verstärkt sich die Bedeutung von Kasten im politischen Prozess noch. Durch die gegenwärtig geführte Debatte um die Einführung von Reservierungen für ökonomisch benachteiligte Segmente der "Forward Classes" bzw. "Forward Castes", d.h. für statushohe, aber arme Oberkasten dürfte die Politisierung der Kasten, auch unter dem Begriff "casteism" zusammengefasst, noch zunehmen.
Eine Konsequenz dieser Entwicklung sind kastenspezifische Parteien in Indien, die besonders große Kasten oder Kastenkonglomerate wie z.B. die nordindischen Bauern- bzw. Hirtenkasten der Jats oder Yadavs vertreten und sich für ihre Belange bei der Verteilung der staatlichen Privilegien einsetzen. Es ist sehr fraglich, ob das in der Verfassung festgeschriebene Verbot der negativen Diskriminierung aufgrund von Kaste erreicht werden kann, wenn eine Politik positiver Diskriminierung zwar jahrhundertealte Benachteiligungen mildert, aber gleichzeitig die Existenz von Kasten und ihre Rolle im politischen Diskurs bestärkt.
Kommentare
Als registriertes Mitglied können Sie einen Kommentar zu diesem Beitrag verfassen.