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02. August 2000. Indien Bharatiya Janata Party (BJP)

Die hindunationalistische Bharatiya Janata Party (BJP) ist heute die stärkste politische Kraft Indiens. Sie konnte sich im Herbst 1999 das zweite Mal in Folge bei den Unterhauswahlen behaupten und stellt mit Atal Bihari Vajpayee den gegenwärtigen Premierminister. Ideologie und Entwicklung der BJP sind nur im Zusammenhang mit den Aktivitäten des Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS) zu verstehen.

Geschichte

Der RSS wurde 1925 von K.B. Hedgewar mit dem Ziel der "Erweckung" Indiens, das als Hindu-Nation verstanden wurde, gegründet. Der RSS sah seine Aufgabe nicht in direkter politischer Aktivität, sondern in kultureller und sozialer Arbeit. Hindutva, das Hindutum, wurde zum Schlagwort der kulturellen Erneuerung. Inder, also Hindus, so die Hindutva-Ideologie, seien all jene, die Indien als ihr heiliges Land verehrten, die von den Ariern abstammten und die im Hinduismus wurzelnde Kultur teilten. All jene, auf die dies nicht zutreffe, also insbesondere orthodoxe Muslime und Christen, seien daher keine Inder, sondern höchstens Bürger zweiter Klasse. (siehe auch V.D. Savarkar. Vordenker des Hindunationalismus) Mit geschätzten fünf Millionen Mitgliedern ist der RSS heute eine echte Massenorganisation, die in ihren 40.000 Ortgruppen landesweit für die hindunationale Sache wirbt. Seit den späten 40er Jahren begann der RSS eine Reihe von Frontorganisationen aufzubauen, u.a. eine Gewerkschaft, einen Studentenverband, Frauengruppen, karitative und religiöse Organisationen etc. Zusammengehalten wird dieses lose Netzwerk bis heute durch die Loyalität ihrer Führungskader zum RSS, durch dessen ideologische Schule sie in ihrer Jugend gegangen sind. Genannt wird es daher Sangh Parivar, die "Familie des Sangh".

Von herausragende Bedeutung für die Entwicklung der Sangh Parivar war die 1951 erfolgte Gründung einer Partei, des Bharatiya Jana Sangh (BJS). Ursprünglich mit Hilfe eines konservativen bengalischen Politikers gegründet, übernahmen die Kader des RSS im Laufe der 50er Jahre die Kontrolle der Partei und sorgten dank ihrer disziplinierten und aufopfernden Arbeit für einen schnellen Ausbau der Parteiorganisation. Erste Erfolge erzielte die Partei in den nordindischen Städten unter den kleinbürgerlichen Oberkasten, gewann aber bald auch erste ländliche Wähler. Bis zum Ende der 60er Jahre war er in Nordindien die stärkste Oppositionspartei geworden, schien aber auch die Grenzen seines Wachstums erreicht zu haben. Die Wahlschlappe des Kongreß von 1967 brachte in Nordindien mehrere Koalitionsregierungen unter Beteiligung des Jana Sangh an die Macht, die aber bald auseinanderbrachen.

Die Hindunationalisten beteiligten sich aktiv an der Anti-Indira-Bewegung Mitte der 70er Jahre und wurden daher ebenso wie andere politische Gruppen Opfer des Notstandsregimes. In den überfüllten Gefängnissen kamen sich viele der inhaftierten Oppositionspolitiker näher und faßten den Beschluß zur Gründung der Janata-Bündnisses, in der der Jana Sangh 1977 aufging. Nach dem Wahlsieg stellten die Hindunationalisten die stärkste Gruppe in der nun regierenden Janata Party, und Vajpayee wurde Außenminister und L.K. Advani Informationsminister. Doch bereits 1980 scheiterte die Janata-Regierung an ihren persönlichen Rivalitäten und ideologischen Gegensätzen - insbesondere auch dem Streit um die Mitgliedschaft der hindunationalistischen Janata-Abgeordneten im RSS.Nach dem Ende der Janata Party formierten sich die nunmehr parteipolitisch heimatlosen Hindunationalisten neu und gründeten unter Führung Vajpayees die BJP. Vajpayee setzte auf einen moderateren Kurs. Gewillt, die BJP zur Volkspartei zu machen, knüpfte er sowohl mit der Wahl des Parteinamens als auch ideologisch an das Janata-Experiment. Doch der neue Kurs zahlte sich nicht aus: 1984 gewann die BJP nur zwei Unterhaus-Sitze.

Daraufhin setzten sich die Hardliner in der Partei gegen Vajpayee durch, schlugen wieder einen eindeutigen Hindutva-Kurs ein, und L.K. Advani übernahm die Parteiführung. Deutlicher Ausdruck dieses Kurswechsels war die Beteiligung an der Ayodhya-Kampagne, die der Vishwa Hindu Parishad (VHP), die große religiöse Frontorganisation der Sangh Parivar, führte. In der nordindischen Kleinstadt Ayodhya schwelte seit mehreren Jahrzehnten ein Konflikt um die Babri-Moschee, die angeblich auf den Ruinen eines von den Moghul-Kaisern geschleiften Tempels zu Ehren des mythischen Gottkönigs Rama gebaut worden war. Radikale Hindus forderten die Übergabe der Moschee durch die Muslime, um an ihrer statt einen neuen Rama-Tempel zu errichten. Ayodhya und Ram Rajya ("Die Herrschaft Ramas") wurden nun die wichtigsten Wahlkampfthemen der BJP, die mit gnadenlosem Populismus religiöse Symbole für ihre politischen Ziele instrumentalisierte. Die Strategie zahlte sich aus: 1989 zogen die Hindunationalisten mit 89 Abgeordneten als drittstärkste Kraft in die neunte Lok Sabha. Allen ideologischen Gegensätzen zum trotz unterstützte die BJP zusammen mit den Kommunisten die Minderheitsregierung der National Front unter V.P. Singh von außen, um den Kongreß von der Macht zu drängen. Als die Singh-Regierung aber 1990 die Festnahme von Parteichef Advani bei einer Massendemonstration nahe Ayodhya veranlaßte, weil sie berechtigterweise eine Eskalation der Ereignisse befürchtete, entzog die BJP der National Front ihr Vertrauen, und die Regierung stürzte. Aus den Wahlen 1991 ging die BJP abermals gestärkt hervor. Mit 120 Sitzen wurde sie stärkste Oppositionspartei, während sie inzwischen auch die Regierung in vier nordindischen Unionsstaaten und Delhi stellte.

Auch unter der neuen Kongreß-geführten Regierung unter P.V. Narasimha Rao führte die BJP die Ayodhya-Kampagne weiter, die schließlich am 6. Dezember 1992 ihren Höhepunkt erreichte, als Hunderttausende fanatisierter Hindus die Babri-Moschee stürmten und in wenigen Stunden dem Erdboden gleichmachten. Landesweit folgten blutige Ausschreitungen zwischen Hindus und Muslimen, und das säkulare Indien erlebte seine dunkelste Stunde. Die Regierung Rao reagierte mit dem vorübergehenden Verbot von RSS und VHP und setzte alle BJP-geführten Landesregierungen ab.

Die Neuwahlen der Landtage brachten den Verlust der Macht in drei Unionsstaaten. Es schien, als hätte sich die Eskalation der Ereignisse gegen die Hindunationalisten gewendet, was diese veranlaßte, von nun an wieder gemäßigter aufzutreten. Neue Themen rückten in den Vordergrund: Soziale Harmonie zwischen den Kasten wurde propagiert, die Schaffung eines einheitlichen Zivilrechtes gefordert und unter dem Motto wirtschaftlicher Selbstbestimmung (Swadeshi) vor dem Ausverkauf indischer Interessen im Rahmen der Wirtschaftsliberalisierung gewarnt. Schon bald konnte an die früheren Erfolge angeknüpft werden: Bei mehreren Landtagswahlen in den 90er Jahren wurde sie stärkste oder zumindest zweitstärkste Kraft - nun auch in Süd- und Westindien.

1996 schien das Ziel fast erreicht. Bei den Wahlen zur elften Lok Sabha gewann sie gut 20% der Stimmen und überflügelte mit 160 Sitzen erstmals den Kongreß. Vajpayee wurde mit der Regierungsbildung beauftragt, mußte aber nach nur 13 Tagen vom Amt des Premiers zurücktreten, weil er nicht ausreichend Partner für eine mehrheitsfähige Koalition fand. Statt dessen bildete das Parteienbündnis United Front eine vom Kongreß tolerierte Minderheitsregierung unter der Führung von Deve Gowda, der später von Inder K. Gujral abgelöst wurde.

Nach dem Sturz der United Front-Regierung durch den Kongreß wurde 1998 erneut gewählt. Wieder wurde die BJP mit 182 Sitzen stärkste Kraft, und diesmal gelang es ihr, im Bündnis mit einem Dutzend kleinerer Parteien eine Regierung zu bilden. Angesichts der Heterogenität des Bündnisses blieben die angekündigten großen Reformen aus. Bis auf die Politik außenpolitischer Stärke, die mit den Atomwaffentests und der Proklamation zur Nuklearmacht demonstriert wurde, waren die ersten Monate geprägt von Pannen und koalitionsinternen Intrigen. Fehler in der Wirtschaftspolitik enttäuschten die Wachstumserwartungen und führten zu einer massiven Steigerung der Zwiebelpreise. Bei Landtagswahlen im November verlor die BJP selbst traditionelle Hochburgen an den Kongreß. Die Hardliner in der BJP nutzen diese Schwächung des gemäßigten Flügels um Vajpayee und brachten mit einer Kampagne gegen christliche Missionierung wieder klassische Hindutva-Themen auf die Tagesordnung. Trotz allem setzte Vajpayee seinen Kurs wirtschaftlicher Liberalisierung gegen innerparteilichen Widerstand durch. Im April 1999 wurde Vajpayee durch seine südindische Koalitionspartnerein Jayalalita Jayaram zu Fall gebracht, so daß für den Herbst 1999 Neuwahlen angesetzt wurden. In der Zwischenzeit blieb die Vajpayee-Regierung kommissarisch im Amt. Der Wahlkampf wurde überschattet von der Eskalation des Kaschmir-Konfliktes in der Hochgebirgsregion Kargil. Durch den militärischen Sieg der indischen Armee über die muslimischen Freischärler und pakistanischen Soldaten, die die Line of Control überquert hatten, profilierte sich die BJP-geführte Regierung als Garantin außenpolitischer Stärke.

Bei den Wahlen im Oktober 1999 hielt die BJP mit 182 Sitzen ihr Ergebnis vom Vorjahr, aber ihr Wahlbündnis National Democratic Alliance (NDA) erreichte mit knapp 300 Sitzen diesmal eine komfortable Mehrheit. Die wiedergewählte Regierung Vajpayee kündigte eine Fortsetzung ihres wirtschaftspolitischen Reformprogramms, eine Politik der Stärke gegenüber Pakistan sowie eine Verbesserung der Beziehungen zu den USA und China an. Erste Maßnahmen waren dann auch die Durchsetzung unpopulärer Maßnahmen, wie die Erhöhung der Dieselpreise oder die Liberalisierung des Versicherungsmarktes, die an den Börsen aber mit steigenden Kursen quittiert wurden. Außenpolitisch Punkte sammeln, konnte die neue Regierung durch den Besuch von US-Präsident Bill Clinton im März 2000, der einen Kurswechsel der amerikanischen Südasien-Politik markierte.

Organisation, Wähler und Programm

Kopf der Partei ist der Präsident, der für drei Jahre von den wichtigsten Vertretern der Partei gewählt wird, d.h. von hochrangigen Mitgliedern der Landesverbände, Abgeordneten der Parlamentsfraktionen, ehemaligen Parteipräsidenten und Delegierten der Ortsverbände. Er wird bei seiner Arbeit von mehreren Generalsekretären unterstützt.

Höchstes Organ der Partei ist der Parteitag (Plenary Session), auf dem mindestens alle zwei Jahre etwa 2.000 Delegierte treffen, die verbindliche Richtungsentscheidungen treffen können. In der Zeit zwischen den Parteitagen bestimmt der Vorstand (National Executive), dessen Mitglieder vom Präsidenten ernannt werden, die Tagespolitik. Trotz Elementen innerparteilicher Demokratie insbesondere auf unterer Ebene spielen auf der Führungsebene Kriterien wie Seniorität und Ansehen eine wesentliche Rolle bei Postenvergabe und Entscheidungsfindung.

Mit fünf bis zehn Millionen Mitgliedern ist die BJP heute eine wirkliche Volkspartei. Zahlreiche Mitglieder teilen nicht mehr den RSS-Hintergrund der Aktivisten der ersten Stunde. Daher ist die Partei trotz enger Kontakte zum RSS inzwischen mehr als der politische Arm der Sangh Parivar. Opportunistische Politkarrieristen finden sich ebenso in der BJP wie Kriminelle oder gar Angehörige der religiösen Minderheiten. Während die Hindunationalisten lange als disziplinierte Kaderpartei galten, haben in den letzten Jahren die offen ausgetragenen Flügelkämpfe erheblich zugenommen - bis hin zu Abspaltungen von der Partei.

Bis heute findet sich die Stammwählerschaft der BJP unter den städtischen Oberkasten Nordindiens. Allerdings ist es der Partei längst gelungen, ihre Wählerbasis auch auf ländliche Wähler, untere Kasten und die Stammesbevölkerung auszudehnen, die inzwischen - da sie die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung ausmachen - auch die Mehrheit der BJP-Wähler stellen.

Zu den Wahlen 1999 trat die BJP ohne eigenes Programm an. Bereits im Vorfeld einigte sie sich mit den Koalitionspartnern der NDA auf ein gemeinsames Regierungsprogramm, die "Agenda for a Proud, Prosperous India". Das programmatisches Profil der BJP läßt sich nur anhand älterer Wahlmanifeste vermuten: Die BJP steht für einen starken Staat nach innen und außen. Sie tritt ein für eine kompromißlose Haltung gegenüber den Separatisten in Kaschmir und dem Nordosten. Sie befürwortet einen Ausbau von Polizei und Militär - inklusive der Nuklearrüstung. Sie fordert internationale Gleichberechtigung für Indien und erhebt Anspruch auf einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat. Gleichzeitig steht aber die Dezentralisierung durch eine Stärkung der Kommunalverwaltung und die Schaffung neuer Unionsstaaten auf ihrer Agenda. Obwohl sie die Liberalisierung der Wirtschaft unterstützt, steht sie für ein Programm ökonomischer Souveränität (Swadeshi). Swadeshi meint die volle Liberalisierung des Binnenmarktes und eine selektive Öffnung gegenüber dem Weltmarkt, die mit dem Slogan "Computerchips statt Kartoffelchips" auf den Punkt gebracht wird. Während also ausländische Infrastrukturinvestitionen durchaus begrüßt werden, soll der Konsumgüterbereich indischen Unternehmen vorbehalten bleiben. Insgesamt steht sie der Marktwirtschaft positiv gegenüber, betont aber die Notwendigkeit einer korrigierenden Rolle des Staates. In den alten Wahlprogrammen lassen sich keine eindeutig diskriminierenden Forderungen gegenüber den religiösen Minderheiten finden, die BJP lehnte aber jegliche Sonderrechte für Religionsgemeinschaften und Unterkasten ab. Auch fanden sich klassisch hindunationalistische Programmpunkte wie z.B. die Unterstützung der Errichtung des Ram-Tempels in Ayodhya oder die Forderung nach einem landesweiten Rinderschlachtungsverbot, die in der "Agenda" von 1999 aber nicht auftauchen.

Quellen

  • Gurdas M. Ahuja (1994): BJP and the Indian Politics. Politics and Programmes of the Bharatiya Janata Party, New Delhi: Ram
  • Tapan Basu u.a. (1993): Khaki Shorts and Saffron Flags. A Critique of the Hindu Right, New Delhi: Orient Longman
  • Christophe Jaffrelot (1996): The Hindu Nationalist Movement and Indian Politics 1925 to the 1990s. Strategies of Identity-Building, Implementation and Mobilisation, New Delhi: Penguin Books India Ltd.
  • Yogendra K. Malik und V.B. Singh (1995): Hindu Nationalists in India. The Rise of the Bharatiya Janata Party, New Delhi: Vistaar Publications
  • Peter van der Veer (1994): Religious Nationalism. Hindus and Muslims in India, Berkeley: University of California Press

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