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16. September 2005. Analysen: Politik & Recht - Indien Menschenrechte im indischen Kontext

Time will submit to slavery
from illusions's bonds we'll be free
everyone will be powerful and prosperous -
Brahman, Ksatriya, Vaishya, Shudra and Chandala
all have rights: women, children, male and female and even prostitutes[1]
(Tuka [Tukaram], Marathi Sant aus dem 17. Jhd.)

Einleitung

Die Zeiten, in denen der Staat vornehmlich der Gewährleistung von Sicherheit und Ordnung sowie dem Schutz vor äußeren Feinden diente[2], sind vorbei. Der Staat soll nicht mehr nur individuelle Rechtsgüter schützen, wie es noch Locke Ende des 17. Jahrhunderts formuliert hat[3]. Die Verfassungsentwicklung der meisten Staaten in diesem Jahrhundert zeigt, dass es eine Tendenz gibt, die Aufgaben des Staates näher zu bestimmen und staatliches Handeln in eine bestimmte Richtung zu lenken. Dabei werden minimalistische Verfassungsmodelle, welche lediglich die Grundfreiheiten sichern, zunehmend zugunsten von Verfassungen aufgegeben, die nicht nur Staats-, sondern auch Sozialordnungen vermitteln sollen. Das Staatshandeln soll eine bestimmte Zukunft entwickeln helfen, was eher einem dynamischen denn einem statischen Staatsverständnis entspricht. Gleichzeitig nimmt die Verfassung an Programmatik zu und büßt ebenso an unmittelbarer Anwendbarkeit ein. Der deutsche Verfassungsrechtler Grimm ist der Ansicht, dass Verfassungen zu weiten Teilen als Entwurf zu sehen sind; sie sind als normatives Sinngefüge zunächst "etwas Gesolltes, nicht notwendig etwas Bestehendes"[4].

Die indische Verfassung zeichnete sich schon früh dadurch aus, dass ihre Zielsetzung eine umfassende Umwälzung der Sozialordnung verfassungsrechtlich vorgab. Diese Haltung basiert unter anderem darauf, dass es dem indischen Volk als Gesamtheit über Jahrhunderte hinweg nicht vergönnt war, die eigenen Geschicke selbst zu lenken. Deshalb ist eine Ausformulierung von Verfassungsdirektiven mit Verheißungen, die zum großen Teil aus dem Unabhängigkeitskampf Indiens stammen, nur allzu verständlich. Überdies kann auch angesichts der Länge der Verfassung (395 Artikel und 10 Anhänge) von Minimalismus keine Rede sein.

Eng verknüpft mit der in Indien und der Bundesrepublik beabsichtigten unbedingten Absicherung der Grundrechte ist das Verständnis des modernen Verfassungsstaates, womit nicht einfach die nachrevolutionären Staaten schlechthin gemeint sind (denn dann wäre jeder Verfassungsstaat ein moderner Verfassungsstaat!). Der moderne Verfassungsstaat verknüpft eine "Grundrechtsdemokratie" mit dem Rechtsstaat, womit die formelle Rechtsstaatlichkeit als prägendes Strukturprinzip des Staates gemeint ist[5]. Daraus folgt, dass heute ein wesentliches Element des modernen Verfassungs- und Rechtsstaates die Kontrolle des Gesetzgebers durch eine Verfassungsgerichtsbarkeit ist. Sowohl in Indien als auch in der Bundesrepublik haben wir es mit modernen Verfassungsstaaten im dargelegten Sinne zu tun. Beide Länder vereinen den Gedanken der Grundrechtsdemokratie mit dem Rechtsstaatsgedanken und haben ihrem jeweiligen Gesetzgeber durch die Einrichtung des Supreme Court bzw. des Bundesverfassungsgerichts eine wirksame Kontrollinstanz an die Seite gestellt. Dabei hat sich gerade in Indien der Supreme Court als Wahrer der Grundstruktur (basic structure) der Verfassung erwiesen[6]. Demnach kann mit Fug und Recht behauptet werden, Indien sei ein Rechtsstaat mit freiheitlich demokratischer Grundausrichtung.

Fragestellung

Inwiefern der an einer Grundrechtsdemokratie ausgerichtete indische Staat "Menschenrechte" in seiner Verfassung rezipiert hat und diesen Beachtung schenkt, soll im Folgenden schlaglichtartig beleuchtet werden. Im Jahr 2003 zeichnete die Stadt Nürnberg neben dem Pakistaner Ibn Abdur Rehman auch die Inderin Teesta Setalvad mit dem Internationalen Nürnberger Menschenrechtspreis aus. Man stutzt möglicherweise, dass eine Inderin diese Auszeichnung erhalten hat, wird doch Indien durchaus als ein freiheitlich demokratisch ausgerichteter Staat angesehen. Die Jury, der unter anderem auch ein Enkel von Mahatma Gandhi, Herr Prof. Dr. Rajmohan Gandhi, angehört, begründet ihre Entscheidung wie folgt:

"Frau Teesta Setalvad aus Indien und Herr Ibn Abdur Rehman aus Pakistan gehören zu den bedeutendsten Verfechtern der Menschenrechte in ihren Heimatländern. Sie setzen sich seit Jahrzehnten mit bewundernswertem Mut und unter hohem persönlichen Risiko vor allem für die Rechte von diskriminierten Minderheiten, für Demokratie und soziale Gerechtigkeit ein. Als Journalisten kämpfen sie unerschrocken gegen Vorurteile, Hass und Gewalt und nutzen die Möglichkeiten von Medien, Bildung und Erziehung, um Toleranz ebenso wie interreligiöse und interkulturelle Verständigung zu fördern. [...] Mit der Nominierung von Frau Setalvad und Herrn Rehman zu Trägern des Internationalen Nürnberger Menschenrechtspreises 2003 würdigt die Jury nicht nur den vorbildlichen Einsatz beider Persönlichkeiten für die Menschenrechte und Grundfreiheiten. Sie unterstützt damit auch ihre Bemühungen, Frieden und Versöhnung in dieser konfliktbeladenen Region zu fördern."

In diesem kurzen Beitrag ist angesichts dieser deutlichen Begründung anlässlich der Verleihung des Menschenrechtspreises an eine Inderin die Situation der indischen Menschenrechte und die in Indien betriebene Menschenrechtspolitik zu untersuchen, nicht ohne vorher den Begriff der Menschenrechte zu klären.

Definition von Menschenrechten

Nicht mit sich allein lebt der Mensch, sondern mit anderen Menschen. Die Beziehung zu den anderen führt zu der Frage nach seinen Rechten und Pflichten. Menschenrechte sind daher Rechte, die jeder natürlichen Person in ihrer Eigenschaft als menschliches Wesen zustehen. Dies fußt auf der Grundidee, dass jeder Mensch Rechte hat und ihm allein deshalb Achtung gebührt, weil er Mensch ist. In der neuzeitlichen Entwicklung gelten die Menschenrechte als Grenze rechtlich sanktionierter Gewalt. Die Durchsetzung der Menschenrechte soll der Aufgabe dienen, die (staatliche) Gewalt dem Recht zu unterwerfen, die Gewalt also gleichsam mit den Mitteln des Rechts zu bändigen[7]. Dabei sind Menschenrechte nicht mit Grundrechten gleichzusetzen. Die Grundrechte oder Fundamental Rights sind vielmehr als individualstaatliche Ausgestaltung der Menschenrechtsidee anzusehen. Sie sind die Ausformung der je eigenen Anschauung der Menschenrechte bzw. das Maß an Freiheiten, das der jeweilige Staat seinen Bürgern und Einwohnern gewährt. Wie bereits die verfassungsrechtliche Grundlage des indischen Staates manifestiert, sind die in den Grundrechten (Fundamental Rights) und Staatszielbestimmungen (Directive Principles) verbürgten Ausformungen der Menschenrechte und der moderne Staat unlöslich miteinander verbunden[8].

Die Lehre unterscheidet zwischen drei Generationen von Menschenrechten, die alle in der indischen Verfassung verankert sind:

a) Die erste Generation umfasst die klassischen Freiheits- und Abwehrrechte wie das Recht auf Leben, auf freie Meinungsäußerung oder die positive und negative Glaubensfreiheit. Die genannten Rechte sind in der Regel gerichtlich einklagbar gestaltet und können beispielsweise in Deutschland vor dem Bundesverfassungsgericht oder in Indien vor den High Courts oder dem Supreme Court geltend gemacht werden.

b) Die zweite Generation von Menschenrechten betrifft wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte. Zu nennen sind unter anderem das Recht auf Arbeit, auf ein gesichertes Auskommen oder auf einen Kindergarten- oder Ausbildungsplatz. Diese Menschenrechte sind im Unterschied zu den Menschrechten der ersten Generation nicht (unmittelbar) einklagbar.

c) Die dritte Generation der Menschenrechte ist noch programmatischer und noch umfassender, da es sich hierbei zumeist um Gruppenrechte handelt, die mitunter die Gesamtheit der Bevölkerung betreffen können. Hierunter fällt das Recht auf Umweltschutz oder jenes auf Entwicklung und Ernährung. Die Formulierung dieser Rechte und ihr Nutzen sind sehr umstritten, da sie als Verfassungsziele ohne rechtliche Verbindlichkeit verstanden werden.

Über die Kategorisierung der Menschenrechte hinaus ist stets zu bedenken, dass der Diskurs über Menschenrechte wohl unvermeidlich die jeweils eigenen kulturellen Hintergründe zugrunde legt. Wenn man über Menschenrechte außerhalb der westlichen Hemisphäre spricht, schwingt auch immer die Frage nach der Universalität der Menschenrechte mit. Diese Frage wird in verschiedenen Kulturkreisen unterschiedlich diskutiert. Dennoch kann so etwas wie ein Grundkonsens der Menschenrechte konstatiert werden, die einen Mindeststandard gewährleisten sollen und von einigen sogar als ius cogens, also als zwingendes Recht, angesehen werden. Elemente dieses Grundkonsenses findet man im indischen Denken bei dem Gesetzesschreiber Manu (2./3. Jahrhundert n. Chr.) und bei Buddha (6. Jahrhundert v. Chr.). Sie formulieren insgesamt elf menschliche Freiheiten und Tugenden, nämlich die sechs sozialen Freiheiten (Freiheit von Gewalt, Not, Ausbeutung, Entehrung, verfrühtem Tod und Krankheit), zu denen fünf Tugenden treten (Toleranz, Gemeinschaftsgefühl, Wissen, Freiheit des Gewissens und der Gedanken, Freiheit von Furcht)[9].

Unter das zwingende Recht fallen das Recht auf Leben und die körperliche Unversehrtheit, das Folterverbot, das Verbot der Sklaverei sowie das Verbot von Menschenversuchen. Die Wiener Erklärung der Menschenrechtskonferenz von 1993 führte diesen Gedanken in § 5 folgendermaßen aus:

"Zwar ist die Bedeutung unterschiedlicher historischer, kultureller und religiöser Voraussetzungen im Auge zu behalten, aber es ist Pflicht der Staaten, ohne Rücksicht auf ihr jeweiliges politisches, wirtschaftliches und kulturelles System alle Menschenrechte und Grundfreiheiten zu fördern und zu schützen."

Das führt uns zu der Frage, ob und wie der indische Staat mit dieser Verpflichtung umgegangen ist und gegenwärtig umgeht.

Menschenrechte in der indischen Verfassung

Im Verlauf der indischen Geschichte haben die Einwohner des indischen Subkontinents ihre Rechte und Pflichten aus der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe abgeleitet, sei es die Familie, die Religion oder die Kaste. Die seit der Unabhängigkeit verbrieften Grundrechte sind von einer anderen Qualität, denn sie knüpfen an das Menschsein als solches an. Daher ist es nicht verwunderlich, dass die indische Verfassung und die darin enthaltenen Grundrechte und Staatszielbestimmungen ihren (jüngeren) geistigen Ursprung in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 und der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte in der französischen Nationalversammlung von 1789 haben. Die indischen Forderungen nach Selbstbestimmung können in das 19. Jahrhundert zurückverfolgt werden, als das patriotische Verlangen nach mehr Mitbestimmung seinen Ausdruck in der Gründung des Indian National Congress (INC) im Jahre 1885 unter dem Vorsitz W.C. Banerjis fand. Die Bestrebungen des INC hatten zunächst hauptsächlich reformatorischen Charakter und wurden von dem Willen zu einer grundlegenden Neuordnung des indischen Lebens getragen. Panikkar stützt diese Beobachtung auf den reformierten Hinduismus als geistiger Basis des indischen Nationaldenkens[10]. Die vorstehend genannten Forderungen wurden fortan in einer Reihe von Resolutionen des INC in den Jahren zwischen 1885 bis 1919 wiederholt. Der antibritische Charakter der Resolutionen wurde immer mehr überlagert von einer Forderung nach Freiheitsrechten[11].

In einer All-Parteien-Konferenz von 1928 wurde die Einarbeitung von Grundrechten sowie sozialen und ökonomischen Rechten diskutiert, die als früheste Vorläufer der Verfassungsdirektiven, also von Menschenrechten zweiter und dritter Generation, gelten können. Im Abschnitt Fundamental Rights waren neben einigen klassischen Freiheitsrechten auch die später in der indischen Verfassung auftauchenden Verfassungsdirektiven genannt, z.B. das Recht auf kostenlose Grundschulausbildung, das allerdings als gerichtlich einklagbar gestaltet werden sollte, sobald die Voraussetzungen dafür geschaffen sein würden; Arbeiter-, Mutterschutz- und Arbeitslosenrechte, das Ziel der Gleichberechtigung von Frauen und Männern sowie der Säkularismus[12].

Die Grundrechtsfragen wurden später in regionalen Komitees weiterverfolgt und dann in allen drei Round Table Conferences in den 1930er Jahren in London zur Sprache gebracht. Diese fortschrittlichen Forderungen, die während der nächsten beiden Round Table Conferences wiederholt wurden, fanden jedoch bei den Engländern, die ohnehin nicht an verfasste Grundrechte gewöhnt sind, kein Gehör und wurden im Abschlußbericht der Round Table Conference nicht einmal erwähnt[13].

Als eigentliche Wurzel der indischen Grundrechte und Staatszielbestimmungen kann die - auf heute pakistanischem Boden gefasste - Karachi Resolution von 1931 angesehen werden, wenn man nicht noch weiter in der Vergangenheit auf die sozialistischen und nationalistischen Strömungen im Indien der 20er Jahre ausgreifen will[14]. Auf der 45. Sitzung des Indischen Nationalkongresses in Karachi (29.-31. März 1931) wurde eine Resolution zur Erklärung der Grundrechte entworfen[15] und von Mahatma Gandhi in die Sitzung eingebracht. Sie enthielt eine Ansammlung von Forderungen, Freiheitsrechten und Staatszielen, die weitgehend ungeordnet und gleichberechtigt nebeneinander standen. Einige Forderungen wurden noch unter dem Eindruck der britischen Okkupation gemacht, wie etwa die Einforderung des Wahlrechts, das Verlangen nach einer Befreiung von der Salzsteuer, Kontrolle über den Geldfluss. Die eingeforderten klassischen Freiheitsrechte beinhalteten die Vereinigungsfreiheit, Meinungs- und Pressefreiheit, Weltanschauungsfreiheit sowie Bewegungs- und Eigentumsfreiheit. Gleichheit, auch die zwischen Frauen und Männern, sollte gewährleistet sein. Andere Forderungen bewegten sich bereits auf dem Gebiet heutiger Staatszielbestimmungen, etwa die nach Bewahrung von Kulturen der Minderheiten, Säkularismus, freier Grundausbildung, Bestimmungen betreffend die Situation der Arbeiter, Finanzfragen. Schließlich enthielt die Deklaration Gandhis Ideen zu einer sozialistischen Planwirtschaft. Es ist erkennbar, dass diese Deklaration eine "verkleinerte" Verfassung Indiens darstellte, da schon wesentliche Bestimmungen der späteren indischen Verfassung in ihr enthalten sind. Allerdings fehlte noch jegliche Angabe darüber, welche Bestimmungen justitiabel, also gerichtlich einklagbar sein sollten. Diese Unterscheidung entwickelte sich erst im Laufe der weiteren Diskussionen und führte zu den heute verankerten Abschnitten III (Fundamental Rights) und IV (Directive Principles of State Policy)[16].

So wurden in Abschnitt III die auch aus dem deutschen Grundgesetz bekannten klassischen Grund-(Menschen-)rechte verankert wie das Gleichheitsrecht (Art. 14), die Meinungsfreiheit (Art. 19 Abs. 1 lit. a)), die Versammlungsfreiheit (Art. 19 Abs. 1 lit. b)), die Vereinigungsfreiheit (Art. 19 Abs. 1 lit. c)), die Bewegungsfreiheit (Art. 19 Abs. 1 lit. d)), die Niederlassungsfreiheit (Art. 19 Abs. 1 lit. e)) sowie die Berufsfreiheit (Art. 19 Abs. 1 lit. g)). Die Unberührbarkeit wurde mittels Art. 17 "abgeschafft" und deren Praktizierung verboten. Leben und persönliche Freiheit werden in Art. 21 garantiert. Die Art. 25 - 28 enthalten diverse religiöse Grundfreiheiten.

Wie bereits aus dieser kursorischen Aufzählung von Freiheiten deutlich wird, enthält die indische Verfassung formell gesehen einen ausgeprägten Grundrechtsteil, der durch Staatszielbestimmungen in Abschnitt IV um Menschenrechte der zweiten und dritten Generation wie etwa das Recht auf Arbeit, Bildung und Arbeitslosenunterstützung etc. (Art. 41), das Recht auf einen angemessenen Lebensunterhalt (Art. 42) und diverse andere Rechte und Forderungen ergänzt wird. Diesen Katalogen an Rechten und politischen Wünschen ist die Präambel vorangestellt. Sie drückt der gesamten Verfassung und damit dem indischen Staatsaufbau ihren Stempel auf und spiegelt das freiheitlich demokratische Menschenbild der indischen Verfassungsgeber komprimiert wider:

"WE, THE PEOPLE OF INDIA, having solemnly resolved to constitute India into a SOVEREIGN SOCIALIST SECULAR DEMOCRATIC REPUBLIC secure to all its citizens:
JUSTICE, social, economic and political
LIBERTY of thought, expression, belief, faith and worship;
EQUALITY of status and of opportunity;
and to promote among them all
FRATERNITY assuring the dignity of the individual and the unity and integrity of the Nation [...]."

Schlaglicht auf die Realität der Menschenrechte in Indien - einzelne Themenkreise

Wäre der, formell gesehen, moderne Menschenrechtsstandard indische Realität, würde sich die Fortsetzung dieses Beitrags fast erübrigen. Obsolet wäre auch die Einrichtung einer nationalen Menschenrechtskommission gewesen, wie sie der Protection of Human Rights Act (PHRA)[17] vorsieht.

National Human Rights Commission

Gemäß § 3 Abs. 1 PHRA war der Staat verpflichtet, die National Human Rights Commission (NHRC) zu errichten. Dieser (selbst gesetzten) Verpflichtung kam Indien im Jahre 1993 nach. Die Menschenrechtskommission setzt sich zusammen aus einem ehemaligen Obersten Richter (Chief Justice) des Supreme Court, einem aktuellen oder ehemaligen Richter des Supreme Court und einem aktuellen oder ehemaligen Obersten Richter eines High Court sowie aus zwei in Menschenrechtsfragen erfahrenen Personen, die allesamt vom indischen Präsidenten auf Vorschlag eines Gremiums ernannt werden, dem der Premierminister vorsteht (§ 4 PHRA). Auch die indischen Gliedstaaten haben die Möglichkeit zur Errichtung einer Menschenrechtskommission auf Bundesstaatsebene. Hiervon haben mittlerweile 13 der 28 Unionsstaaten Gebrauch gemacht. Allerdings leiden diese noch stärker als die NHRC unter ungenügender finanzieller Ausstattung und einem Mangel an fachlicher Kompetenz.

Durch das genannte Gesetz sollen nach § 2 Abs. 1 lit. d) PHRA Menschenrechte, die das Leben, die Freiheit, die Gleichheit und die Würde des Einzelnen betreffen, geschützt werden und nach den Worten des Richters Misra "die Kultur der Menschenrechte im Lande gefördert werden"[18].

Die Aufgaben der Kommission umreißt § 12 PHRA:

a) eigenständige (suo motu), durch das Opfer oder im Wege der Popularklage[19] veranlasste Untersuchung

(i) von Menschenrechtsverletzungen oder Anstiftung dazu

(ii) von Tatbeständen, in denen Amtsträger die Verletzung von Menschenrechtsverletzungen zumindest fahrlässig nicht verhindert haben

b) Teilnahme an anhängigen Prozessen mit Erlaubnis des Gerichts

c) Besuch aller Einrichtungen, in denen Personen festgehalten werden können, nach vorheriger (!) Inkenntnissetzung der jeweiligen Landesregierung und

d) die Prüfung der Verfassung sowie des positiven Rechts, Untersuchung von Faktoren, die den Genuss von Menschenrechten verhindern, Forschung, Aufklärung, Förderung mit Menschenrechtsfragen befasster Nichtregierungsorganisationen.

Die NHRC ist mit den prozessualen Möglichkeiten eines Zivilrichters ausgestattet, so dass ihr die gerichtlichen Beweiserhebungsmöglichkeiten zustehen. Allerdings kann in einem ordentlichen Gerichtsverfahren mit Ausnahmen einer Falschaussage nichts gegen den Aussagenden verwendet werden. Neben der Beweiserhebung hat die NHRC gemäß § 18 PHRA fast nur empfehlenden Charakter, welcher nicht durch Sanktionsmöglichkeiten flankiert wird. Ein übler Missstand ist die Blindheit des indischen Gesetzgebers im Hinblick auf das Militär, das im Grunde unantastbar ist. Nach § 19 PHRA kann die Kommission in Fällen, in denen die Armee betroffen ist, nur einen Bericht der Zentralregierung verlangen, zu dem sie lediglich Empfehlungen abgeben kann. Die einzige "Sanktion" besteht darin, dass die NHRC ihren Bericht samt Empfehlung und Stellungnahme der Zentralregierung in ihrem jährlichen Bericht veröffentlichen kann. Mit Zustimmung des Obersten High Court Richters dürfen die Landesregierungen gemäß § 30 PHRA so genannte Menschenrechtsgerichtshöfe einrichten (Human Rights Courts). Fast am Ende des Gesetzestextes sind erhebliche Restriktionen bezüglich der Tätigkeit der Menschenrechtskommissionen "versteckt": § 36 Abs. 1 PHRA verbietet die Einmischung der Kommission in andere bereits bestehende Kommissionstätigkeiten; nach § 36 Abs. 2 PHRA ist die Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen, die länger als ein Jahr zurückliegen, präkludiert. Der indische Zentralstaat sowie die jeweiligen Gliedstaaten finanzieren nach eigenem Gutdünken auf Beschluss der jeweiligen Parlamente diesen vom Menschenrechtsschutzgesetz konstituierten Apparat (§§ 32 f. PHRA).

Jedes Jahr beklagt sich die Kommission über mangelnde Reaktion seitens der Zentralregierung. Nach Ansicht der NHRC sollten insbesondere "armed forces" nicht auch die paramilitärischen Kräfte beinhalten, da gerade ihnen viele Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen werden. Um ihre Rolle zu stärken, machte die NHRC gegenüber der Zentralregierung den Reformvorschlag, auch länger als ein Jahr zurückliegende Fälle zu untersuchen. Diese Vorschläge liegen der Zentralregierung seit längerem zur Beratung vor, die diese Verbesserungsvorschläge freilich für "very sensitive with far-reaching consequences" hält [20].

Die relativ schlechte Finanz- und Personalausstattung führte bisher dazu, dass ein Rückstand von 40.000 Fällen aufgelaufen ist. Ca. 40 Prozent der Fälle betreffen die Polizei, danach rangieren Vorkommnisse in Gefängnissen. Trotz aller Schwächen gibt es auch positive Beispiele der Tätigkeit der NHRC. So überwachte die Kommission nach dem Wirbelsturm im Jahre 1999 in Orissa und dem Erdbeben in Gujarat im Jahre 2001 die Katastrophenhilfe. Die Kommission war auch eine der wenigen Stimmen, die nach den tragischen Ereignissen des 27. Februar 2002 in Godhra in Gujarat und den daraufhin ausbrechenden Pogromen gegen die muslimische Bevölkerung deutliche Kritik an der Landesregierung von Gujarat übte. In letzter Zeit interpretiert die Kommission zunehmend soziale Rechte (z.B. Recht auf Nahrung) als Menschenrechte und weitet so ihr Betätigungsfeld beständig aus. Dies führt nicht selten dazu, dass sie immer wieder in Konflikt mit der Zentralregierung gerät. Im September 2002 sprach sich die NHRC auf der Weltkonferenz gegen Rassismus entgegen dem offiziellen Standpunkt der indischen Regierung dafür aus, Diskriminierungen aufgrund der Kastenzugehörigkeit als Form von Rassismus zu betrachten. Im November desselben Jahres kündigte die NHRC Widerstand gegen die Verabschiedung der Verordnung zur Bekämpfung des Terrorismus an, da sie überflüssig sei und die konsequente Anwendung der vorhandenen Gesetze ausreiche [21].

Die Regierung leistet ihrerseits hinhaltenden Widerstand, indem sie vakante Posten in der NHRC nicht wiederbesetzt. Die Kritiker dieser im Grunde begrüßenswerten Institution sehen und sahen denn auch in ihrer Errichtung lediglich eine Konzession an westliche Staaten, die die Gewährung von Wirtschaftshilfe an die Beachtung der Menschenrechte knüpfen. V.R. Krishna Iyer, ein bekannter und engagierter ehemaliger Supreme Court Richter, sparte denn auch nicht mit beißender Kritik:

"[The NHRC is] an optical illusion, cosmetic coloration, opium for the people at home and brown sugar for countries abroad, a legislative camouflage, a verbal wonder which conceals more than it reveals."[22]

Es ist auffallend, dass sich die Kommissionsmitglieder redlich um eine gewisse Eigenständigkeit gegenüber der Zentralregierung bemühen. Eine Kontrolle staatlicher Macht, die über punktuelle Sachverhalte hinaus wirksam ist, kann die NHRC schon wegen ihrer finanziellen und prozeduralen Abhängigkeit nicht leisten, so dass Krishna Iyer mit seiner Kritik nicht ganz Unrecht haben dürfte.

Anti-Terror-Gesetze

Der gewöhnliche Indienreisende wird kaum jemals auf die Idee kommen, dass Indien ein Land mit drakonischen Anti-Terror- und Präventivhaftgesetzen ist. Zunächst gab es das Gesetz über terroristische und umstürzlerische Umtriebe (Terrorist and Disruptive Activities Act = TADA). Das bis Mitte 1995 geltende Notstandsgesetz ermöglichte es, die Grundrechte weitgehend außer Kraft zu setzen. Das Gesetz hatte zur Verhaftung Tausender politischer Gefangener, unter ihnen zahlreiche gewaltlose Aktivisten, geführt. In den indischen Bundesstaaten Jammu & Kashmir sowie im Punjab wurde es noch nach Ablauf der Geltungsdauer als Grundlage für rigide Polizeimaßnahmen herangezogen, wenn die tatbestandsmäßigen Ereignisse bis in das Jahr 1995 zurückreichten. Im Jahre 2002 befanden sich nach Informationen von amnesty international weiterhin Hunderte von Menschen aufgrund des schon lange nicht mehr geltenden TADA in Haft. Im Zuge der Terroranschläge auf das World Trade Center am 11. September 2001 wurden - wie wohl in aller Welt - noch härtere Anti-Terrorgesetze erlassen, zunächst ab 24. Oktober 2002 als Regierungsverordnung in Form des Prevention of Terrorism Ordinance (POTO) und ab 28. März 2003 als Parlamentsgesetz (Prevention of Terrorism Act = POTA)[23].

Das Gesetz zur Prävention von Terrorismus erlaubte den Polizeikräften die Inhaftierung von verdächtigen Personen für einen Zeitraum von bis zu sechs Monaten, ohne dass es bis dahin einer förmlichen Anklageerhebung bedurfte. POTA ließ gemäß § 32 Geständnisse vor der Polizei als Beweis gelten, erst danach war der Geständige innerhalb von 48 Stunden dem Haftrichter vorzuführen. Auf Grundlage der Bestimmungen des POTA oder des TADA genießen und genossen die Angehörigen der Sicherheitskräfte hinsichtlich ihrer Aktivitäten faktisch Straffreiheit. Ein Berufungsurteil des High Court des Hauptstadtterritoriums Delhi machte die Fragwürdigkeit der Maßnahmen deutlich. Mit dem genannten Berufungsurteil wurde ein Urteil eines POTA-Sondergerichtes aufgehoben, wonach ein Dozent des Zakir Hussain College in Delhi, Syed Abdul Rehman Geelani, wegen der Angriffe auf das indische Parlament am 13. Dezember 2001 wegen Verschwörung gegen den indischen Staat zum Tode verurteilt worden war. Die Anklageschrift konnte sich auf keinerlei Beweismaterial stützen, außer auf ein abgehörtes Telefonat, wonach Geelani mit den Angriffen sympathisiert haben soll. Der Freispruch durch den Delhi High Court brachte ans Tageslicht, mit welcher Leichtigkeit die Verfolgungsbehörden die Regelungen des POTA missbrauchen können. Denn das Berufungsgericht konnte eine Strafbarkeit des Beschuldigten nicht erkennen, auch nicht aufgrund des abgehörten Telefonats[24].

Kritisiert wurden Verordnung und Gesetz nicht nur durch Menschenrechtsorganisationen, sondern auch durch die Opposition. Nach dem Wahlsieg der Oppositionskoalition unter Führung der Kongresspartei im Mai 2004 machte die neue Regierung ihr Versprechen wahr: Sie ließ POTA am 21. September 2004 per Regierungsverordnung (The Prevention of Terrorism (Repeal) Ordinance) mit sofortiger Wirkung durch den Staatspräsidenten aufheben. Unberührt blieben allerdings laufende Untersuchungen, Gerichtsverfahren und Haftstrafen. Als Ergebnis, so der ehemalige Chief Justice Rajinder Sachar, wurden selbst manipulierte Verfahren gegen Muslime in Gujarat mit dem Mantel der Legalität versehen und so der dortigen Landesregierung unter Narendra Modi erlaubt, ihre systematische Diskriminierung von Minderheiten fortzusetzen. Darüber hinaus wurde noch am gleichen Tag der Unlawful Activities (Prevention) Act von 1967 ebenfalls per Verordnung um ein Anti-Paket ergänzt, das in wesentlichen Teilen identisch mit POTA ist. So wurde z.B. die Liste der "terroristischen Organisationen" unverändert übernommen, und es blieb die Möglichkeit bestehen, in Verfahren gegen Terrorverdächtige die Identität von Zeugen zu verheimlichen und damit quasi-geheimdienstliche Informationen vor Gericht als Beweise vorzulegen.[25]

Religionsfreiheit

Indien, das Land Gandhis, Nehrus und der Heiligen Kühe, wird im Westen noch immer als ein Land wahrgenommen, in dem Toleranz und Gewaltlosigkeit vorherrschen. Die Religionsfreiheit hat in der Verfassung eine starke Stütze. So sind die freie Ausübung und Verbreitung von Religion gewährleistet. Jeder Glaubensrichtung ist es gestattet, religiöse Institutionen zu gründen, zu unterhalten und zu verwalten. Dabei ist die Trennung von Religion und Staat, wie sie auch schon in der Präambel durch die Aufnahme des Begriffes "säkular" verdeutlicht wird, in Indien in gewisser Weise stärker ausgeprägt als in Deutschland. So gibt es beispielsweise keine allgemeine Kirchen- oder Tempelsteuer. Die strikte Trennung - in den USA auch als "Wall of Separation" bezeichnet - hat jedoch in jüngster Zeit zu großen Spannungen innerhalb der politischen Kreise und in Teilen der Bevölkerung geführt. Dabei nutzen vor allem politische Kräfte die im indischen Volk tief verwurzelte, aber im Grunde nicht politisch ausgerichtete Religiosität zu eigenen Zwecken aus, indem sie gekonnt mit der Angst der Hindumehrheit vor einer Bevorzugung und Verhätschelung ("pampering the muslims") der muslimischen Minderheit spielen.

Nach den massiven und wohl staatlich geduldeten Menschenrechtsverletzungen in Gujarat, denen mehr als 2.000 Menschen, zumeist Muslime, zum Opfer fielen, verwundert es nicht weiter, dass gerade hier das euphemistisch Freedom of Religion Bill genannte Gesetz erlassen wurde[26]. Danach sind alle religiösen Institutionen, speziell die christlichen, aufgefordert, ihre Finanzierung offen zu legen. Wer konvertieren will, benötigt die Einwilligung des Landrats. Zwangsweise Konversionen oder Lockangebote für den Religionsübertritt werden hart bestraft. Die vorgenannten Begriffe sind jedoch sehr vage gehalten, so dass nicht klar wird, ob etwa unter Lockangeboten in Zukunft auch das Betreiben von Krankenhäusern und Schulen zu subsumieren ist. Gerade bei Dalits, also den Kastenlosen und Angehörigen der niedrigsten Bevölkerungsgruppen, könnte dieses Gesetz schikanös benutzt werden, weil gerade Dalits häufig ihrem Schicksal als Unberührbare durch Konversion zu entgehen versuchen. Daher werden sie immer wieder von der Sangh Parivar, also der Familie der hindufundamentalistisch orientierten Gruppen und Parteien, bedroht. Der Innenminister Gujarats begründet dieses Antikonversionsgesetz mit einer angeblich wachsenden Zahl von zwangsweisen Konversionen, die aber durch nichts zu belegen ist.

Vor allem unter christlichen Organisationen, die in jüngster Vergangenheit immer wieder gewalttätigen Übergriffen von Hindu-Fundamentalisten ausgesetzt waren, verbreitet sich Angst aufgrund staatlicher Untersuchungen, obwohl der Staat die geforderten Informationen schon durch die Volkszählung aus dem Jahre 2001 besitzen müsste. Befürchtet wird offensichtlich die staatlich sanktionierte Fälschung von Religionszugehörigkeitsstatistiken, um damit die gewachsene Zahl der Christen zu beweisen. Durch Anfertigung von Listen - so die Angst vieler Christen - könnten Schlägertrupps der Sangh Parivar im Rahmen von (provozierten) Ausschreitungen gezielt gegen christliche Institutionen vorgehen, wie es auch gegenüber muslimischen Institutionen und Geschäften geschehen ist.

Die minutiöse Niederschrift des Geschehens in Gujarat hat der stellvertretende Chefredakteur der Times of India, Herr Siddarth Varadarajan, als Buch herausgegeben[27]. Über die Sicherheitskräfte schreibt die in dem genannten Band vertretene Nürnberger Preisträgerin, Frau Teesta Setalvad[28]:

"One of the most disturbing aspects of the large-scale anti-Muslim violence that convulsed Gujarat after 27 February [Tag des Überfalls auf den Eisenbahnwagen in Godhra] is the manner in which the police force wilfully abandoned the state and its citizens to the depredations of homicidal mobs."

In der Folge gibt Setalvad Zeugnis über die Verfehlungen und Verbrechen der staatlichen Sicherheitskräfte ab, die in ihrer Deutlichkeit und Gründlichkeit keinen Zweifel an den staatlich sanktionieren Pogromen lassen.

Panchayati Raj und Menschenrechte[29]

Panchayati Raj kann man frei mit kommunaler Selbstverwaltung übersetzen, ohne in Indien jedoch zu große Erwartungen in diese unterste Verwaltungsebene zu setzen. Zu den Menschenrechten gehört auch der Besitz von partizipatorischen Rechten bis in die niedrigste Verwaltungsebene. Diese urdemokratische Idee spielte schon unter Mahatma Gandhi eine wesentliche Rolle, als er und seine Gefolgsleute das Dorf in den Mittelpunkt des indischen Staatsaufbaus stellten. Die unter Gandhi manchmal sicherlich romantisierende Darstellung des "Fünferrates" (Panchayat) als in den Wurzeln demokratisch, fand als kleinste Zelle des Staates nur in der relativ insignifikanten Staatszielbestimmung des Art. 40 der indischen Verfassung ihren Niederschlag. Im Gegensatz dazu polterte Dr. Ambedkar, der Vater und Verfasser der indischen Verfassung:

"Villages are the ruination of India because it is a den of ignorance, communalism and corruption."

Die Stärkung einer kommunalen Selbstverwaltung gehörte nach der Staatsgründung nicht zu den ersten Aufgaben, derer sich die indische Regierung unter Nehru annahm, der hinsichtlich der Dörfer ganz ähnliche Ansichten wie Ambedkar vertreten haben dürfte. So funktionierte der indische Staat lange nur auf zwei Ebenen als Föderation: Zentralstaat und Bundesstaaten. Erst Ende 1992 wurde mit der 73. und 74. Verfassungsänderung die dritte Verwaltungsebene neu geordnet und gestärkt. Nun gibt es ca. 600 Distrikt-Panchayats, 6.000 Block-Panchayats und 250.000 Gram Panchayats im ländlichen Indien, das ca. 72 Prozent der Bevölkerung umfasst, sowie 1.700 Stadtverwaltungen mit insgesamt ca. 3,4 Millionen gewählten Repräsentanten. Hauptmerkmal dieser verfassungsrechtlichen Verwaltungsreform war die Errichtung einer Dorfverwaltung für jedes Dorf oder für eine Gruppe von Dörfern, wobei ein Drittel aller Sitze und Bürgermeisterposten für Frauen reserviert ist.

Ferner gibt es reservierte Mandate für die untersten Kasten (Scheduled Castes) und Stammesangehörigen (Scheduled Tribes) entsprechend ihrer Stärke (davon wiederum ist ein Drittel der Mandate für Frauen reserviert).

Die deutliche Stärkung bisher benachteiligter Gruppen der indischen Bevölkerung ruft bei den oberen Kasten Argwohn hervor. Sie befürchten, dass die niederen Kasten das Panchayat System als Hebel für ihre Rechte gebrauchen könnten. Dies führt regelmäßig - vor allem bei anstehenden Wahlen - zu Spannungen und Ausbrüchen von Gewalt. Eine der wichtigsten Errungenschaften bleibt aber die Empowerment (Ermächtigung oder Stärkung) von Frauen, die zu einem Drittel in der Entscheidungsfindung auf niedrigster Verwaltungsebene beteiligt sind. Zum Vergleich: im Bundesparlament in Neu-Delhi liegt die Frauenquote nur bei ca. 8 Prozent.

Nicht unerwartet überwogen von Anfang an die Vorurteile gegenüber Frauen. Sie seien den Aufgaben nicht gewachsen oder nur Marionetten der dahinter stehenden Männer, aber heute setzt sich immer mehr die Erkenntnis durch: "Women can do it!" Untersuchungen haben bewiesen, dass dort, wo Frauen verantwortlich sind, die Verwaltung effizienter und transparenter ist, etwa in der Errichtung oder beim Betrieb von Dorfschulen.

Kaum, dass die Rechte der Frauen im Rahmen der Verwaltungsreform ausgebaut wurden, droht ihnen neue Gefahr durch Gesetze in einigen Bundesländern wie Haryana, Madhya Pradesh, Rajasthan und Himachal Pradesh, wonach Bürgern mit mehr als zwei Kindern das passive Wahlrecht aberkannt werden soll. Dies würde Frauen, die ohnehin noch ihren Platz in der politischen Arena erkämpfen müssen, besonders treffen. Es gibt Pläne, dieses Gesetz bundesweit einzuführen. Die Chancen stehen gut, da gerade der Supreme Court das in Haryana angefochtene Gesetz für verfassungsmäßig erklärt hat. Es gibt namhafte Autoren, die das Gesetz für sinnvoll halten, weil dies ein guter Weg sei, die Bevölkerungsprobleme in den Griff zu bekommen. Kritiker wiederum behaupten, die beschlossenen Restriktionen würden zu vermehrten Abtreibungen weiblicher Föten führen. Dies konnte allerdings bei Untersuchungen in Andhra Pradesh, das ein ähnliches Gesetz erlassen hat, nicht bestätigt werden. Wahrscheinlich wird nur die Praxis zeigen, ob und welche Auswirkungen ein solches Gesetz haben wird[30].

Momentan sieht es so aus, als würden Dezentralisierung und Demokratie von unten häufig auch mit Gewalt und Verletzung von Menschenrechten einhergehen. Allerdings ist dieser Prozess erst knapp zehn Jahre alt, und inzwischen dürfte er unumkehrbar sein.

Recht auf Nahrung[31]

Das Recht auf Nahrung oder Ernährung rückt immer mehr in das Zentrum des politischen Diskurses und der politischer Agitation. Dies folgt der simplen in Art. 25 Abs. 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte niedergelegten Erkenntnis:

"Jeder Mensch hat Anspruch auf eine Lebenshaltung, die seine und seiner Familie Gesundheit und Wohlbefinden einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztlicher Betreuung und der notwendigen Leistungen der sozialen Fürsorge gewährleistet [...]."

Da das Recht auf Nahrung jedoch kein Grundrecht ist, ist zur Durchsetzung dieses Menschenrechtes public action, also gesellschaftliches Handeln, erforderlich. Hier sind wiederum Frauen in einer Vorreiterrolle. Besonders vehement vertreten die All India Democratic Women's Association (AIDWA) und die Right to Food Campaign diese Forderung und vermögen für ihre Veranstaltungen bereits namhafte Fürsprecher wie den indischstämmigen Nobelpreisträger Amartya Sen zu gewinnen[32]. Sen zufolge ist Indien wegen seiner demokratischen Institutionen relativ sicher gegen Hungersnöte, wie sie regelmäßig Afrika heimsuchen. Dafür leide Indien jedoch an chronischer Unterernährung.

Wie sehr ein Recht auf Ernährung ein existentielles Menschenrecht ist, zeigt sich in einem Land wie Indien besonders deutlich, das in absoluten Zahlen die meisten armen Menschen in der Welt beherbergt. Mit Blick auf das Bevölkerungswachstum[33] Indiens besteht eine vorrangige soziale Aufgabe des Staates darin, die Ernährung für alle Bevölkerungsgruppen zu sichern. Zingel geht anhand seiner Analyse davon aus, dass es Indien gelingen kann, sich aus eigener Kraft zu ernähren. Schon heutzutage liegt die Getreideproduktion (1997: 183 Millionen Tonnen) Indiens etwa auf dem Niveau des gesamten Welthandels (1998/99: 204 Millionen Tonnen). Sie müsste für eine bis zum Stadium des Nullwachstums projizierte Bevölkerungszahl auf 235 Millionen Tonnen gesteigert werden[34], um die dann existierende Bevölkerung ausreichend mit Nahrung zu versorgen. Dabei scheint dank neuer Anbaumethoden nicht so sehr die Produktion dieser Mengen, sondern vielmehr die Verteilung der Nahrung bis in die indischen Dörfer hinein das Problem zu sein. Die erreichte Pro-Kopf-Produktion würde schon heute für eine allgemein hinreichende, wenn auch nicht üppige Ernährung ausreichen. Trotzdem würde es wegen des extrem niedrigen Einkommensniveaus besonderer Verteilungsanstrengungen bedürfen, um alle Inder ausreichend zu ernähren[35]. Daher schlägt der Wirtschaftswissenschaftler Prabhat Patnaik von der Nehru-Universität in Delhi vor, durch gezielte Armutsbekämpfungs- und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen die Kaufkraft der ländlichen Bevölkerung zu steigern, statt einfach auf positive (und bisher ausgebliebene) Effekte des wirtschaftlichen Aufschwungs und Wachstums zu vertrauen[36]. Diese Forderung ist in Maharashtra in Form des Maharashtra Employment Guarantee Scheme (MEGS) mit einigem Erfolg durchgeführt worden. Die Stärkung der ländlichen Bevölkerung hätte nicht unmittelbar Wachstum zur Folge, sondern würde über die Kapitalformation auf dem Lande indirekt positive Impulse geben. Das würde auch die Nahrungsverteilung positiv beeinflussen, denn zur Zeit lagern über 32 Millionen Tonnen in den Getreidespeichern der Food Corporation of India, die wegen mangelnder Kaufkraft auf dem Land nicht abgerufen werden können. Das sind 12 Millionen Tonnen mehr als gegenwärtig notwendig wären und die nicht beansprucht werden, weil selbst die staatlich subventionierten und über das staatliche Verteilungssystem (Public Distribution System = PDS) erhältlichen Grundnahrungsmittel für die Landbevölkerung zu teuer sind. Neben der Tatsache, dass man durch die Steigerung der Kaufkraft der Landbevölkerung die enormen Lagerkosten in Höhe von ca. EUR 500 Millionen jährlich[37] reduzieren und in die Armutsbekämpfung stecken könnte, würde dadurch ein auch die unterprivilegierten Schichten erfassendes Wachstum einsetzen.

Indes scheint die Regierung einen entgegengesetzten Weg zu gehen, indem sie die Preise für die in den Fair Price Shops erhältlichen Grundnahrungsmittel seit Juni 1997 um 68 Prozent erhöht hat. Gleichzeitig hat sie eine Unterscheidung zwischen denjenigen Familien getroffen, die unter (BPL = below poverty line) und die über (APL = above poverty line) der Armutsgrenze liegen. Im Ergebnis hat die Festlegung dieser Grenzen zu einer Ausgrenzung großer und bedürftiger Bevölkerungsteile aus dem System der subventionierten Nahrungsmittelabgabe des PDS geführt. Richtig erscheint, vermögenden Familien dieses ihnen früher ebenfalls zustehende Privileg wegzunehmen. Die Grenze der begünstigten Familien ist aber zu hoch angesetzt und führt zynischerweise zu dem oben genannten Überschuss der Nahrungsmittelspeicher[38]. Dieses System wird vollends unverständlich, wenn man bedenkt, dass indische Nahrungsmittel zu günstigeren Konditionen exportiert als sie an die Menschen unterhalb der Armutsgrenze abgegeben werden. Gleichzeitig sind über 1.000 Menschen im Winter 2003 in Nordindien gestorben. Offizielle Todesursache war die extreme Kälte - die tatsächlich vorherrschte -, mit keinem Wort wurde eine Relation zu Unter- oder Fehlernährung erwähnt.

Hier helfen nur starke Bürgerbewegungen, wie sie die Right to Food Campaign ist. Diese ist aus einer Popularklage vor zwei Jahren erwachsen, die durch die People's Union for Civil Liberties (PUCL) angestrengt wurde. Hintergrund war der seit zwei Jahren ausgebliebene Monsun in vielen Teilen Indiens. PUCL verlangte vor diesem Hintergrund die Ausgabe staatlich gelagerten Getreides zur Abwendung einer Hungersnot. Daraufhin zwang der Supreme Court die Zentralregierung und 16 Landesregierungen zu einer Stellungnahme, insbesondere zur Frage, wie die Ernährungssituation verbessert werden könne. Überhaupt erwies sich das höchste indische Gericht als sehr aktivistisch[39]: Der Supreme Court gab Direktiven aus, wonach durch die Landesregierungen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen neben anderen Maßnahmen ergriffen werden sollten. Zur Überwachung der staatlichen Bemühungen wurden zwei Beamten eingesetzt, wobei die jeweiligen Staatssekretäre direkt dafür verantwortlich sein sollten, dass niemand mehr Hungers sterben muss. Finanzielle Engpässe ließ das Gericht nicht gelten. Jedoch ließ die Umsetzung sehr zu wünschen übrig, denn Jean Drèze beobachtete bei Untersuchungen in Chhattisgarh, Uttar Pradesh und Jharkhand:

"Everywhere I went, the situation was similar: the public distribution system has more or less broken down, and there are no employment programmes in the villages." [40]

Genervt von der mangelnden Umsetzung seiner einstweiligen Verfügungen warnte der Supreme Court die Landesregierungen, dass keinem Land, das den gerichtlichen Direktiven nicht Folge leiste, bundesstaatliche Mittel in die Länderkassen überwiesen würden[41]. Es ist anzunehmen, dass sie diese außergerichtliche Drohung unberührt gelassen haben dürfte. Die gerichtlichen Direktiven sind sicherlich eine Komponente im Kampf gegen die schlechte Versorgungssituation. Die öffentlichen Anhörungen erhöhen den Veranstaltern zufolge ohne Zweifel den öffentlichen und internationalen Druck. Gleichzeitig werden sich die Menschen ihrer Rechte (und Macht) bewusst und werden allmählich zu partizipierenden Akteuren.

Kinderhandel

Ein mit Indien wenig in Zusammenhang gebrachtes Übel ist der Kinderhandel. Kinderhandel wird definiert als Kauf und Verkauf von Kindern zum Zwecke der Gewinnerzielung innerhalb eines Staates oder zwischen Staaten durch Täuschung, Betrug oder Gewalt, welche in der Ausbeutung der gehandelten Kinder mündet. Der Missbrauch der Kinder beinhaltet sexuelle Ausbeutung, Organhandel, Ausbeutung als Bettler oder Drogenkuriere bzw. -schmuggler, Verpflichtung als quasi-versklavte Arbeiter (bonded labourers), als Haushaltshilfen, auf Baustellen, in der Handwerksindustrie oder aber auch zu Adoptionszwecken.

Am besten dokumentiert und sichtbar ist der Kinderhandel zum Zwecke der Prostitution. Ein großer Teil der minderjährigen Prostituierten in Indien sind Mädchen aus Nepal und Bangladesch. Fast 15 Prozent der Prostituierten nehmen diesen Beruf vor ihrem 15. Lebensjahr auf, weitere 25 Prozent folgen im Alter zwischen 15 und 18 Jahren. Ca. 60 Prozent gehören der am meisten benachteiligten Bevölkerungsgruppe der Scheduled Castes/Scheduled Tribes und Backward Castes an[42], wobei viele Prostituierte Kinder von Prostituierten sind.

In Indien wie in Nepal ist auch noch die "religiöse" Prostitution, der sogenannte Devadasi-Kult, verbreitet. Vorpubertäre Mädchen im Alter zwischen fünf und neun Jahren, die vornehmlich aus armen und unterkastigen Haushalten stammen, werden während des Vollmonds im örtlichen Tempel einer Gottheit geweiht, indem sie mit einem heißen Eisen an Schultern und Brust gebrandmarkt werden. Noch vor dem Einsetzen der ersten Regelblutung wird das jungfräuliche Mädchen versteigert, was dazu führt, dass es fortan nur noch im Rahmen der Tempelprostitution leben kann. Jedes Jahr kommen fünf- bis zehntausend neue Mädchen hinzu.

Weit weniger bekannt als etwa in Thailand grassiert auch in Indien der Sex-Tourismus (vor allem in Goa und im Goldenen Dreieck Delhi - Agra - Jaipur) sowie der Missbrauch von Kindern zu pornographischen Zwecken. Besonders schwierig ist der Kinderhandel im Zuge einer Adoption aufzudecken. Es gibt Organisationen und Kinderhändler, die die Bedürftigkeit von Familien vor allem aus den unteren Kasten ausnutzen, indem sie mit unlauteren Mitteln Zustimmungserklärungen für die Freigabe ihrer Kinder zur Adoption erwirken, so dass diese Kinder Ausländern zum Preis von 2.000 bis 3.000 US-Dollar angeboten werden.

Es gibt verschiedene Ursachen, die den Kinderhandel begünstigen. Eine ungute Mischung aus niedrigem sozialen Status, traditionellen religiösen Praktiken und Gesetzen, die Frauen und Kinder benachteiligen oder nicht ausreichend fördern, haben ein Klima geschaffen, in dem vor allem Kinder, darunter wiederum Mädchen, wehrlos sind[43].

Der indische Staat nimmt den zunehmenden Kinderhandel ernst. Staat meint in diesem Zusammenhang vor allem die obersten Gerichte. Man kann sich nicht des Eindrucks erwehren, dass der Supreme Court mit dem Erlass einstweiliger Verfügungen die Exekutive zu mehr Aktivität veranlassen will. In Erfüllung einer Direktive des Supreme Court aus dem Jahre 1990 hat die Zentralregierung im Jahre 1994 (also vier Jahre später!) einen Zentralausschuss für Kinderprostitution eingerichtet, dem sowohl staatliche Beamte als auch Vertreter von Nichtregierungsorganisationen angehören. Im Jahre 1997 wurde wiederum auf Betreiben des Supreme Court ein weiterer Ausschuss für Fragen der Prostitution, Kinderprostitution und Kindern von Prosti­tuierten gebildet. Daneben wurden Heime eingerichtet und Nichtregierungsorganisationen staatlich gefördert, die Kinder von Prostituierten betreuen. Etwas besser und auf praktische Umsetzbarkeit bedacht sind die gliedstaatlichen Maßnahmen, die versuchen mit diversen Rehabilitations- und Wiedereingliederungsprogrammen dem Übel des Kinderhandels entgegenzuwirken.

Recht auf gesundheitliche Fürsorge

Anlässlich des 25. Jahrestages der Alma-Ata-Deklaration ("Gesundheit für alle bis zum Jahr 2000") fand im September 2003 in Mumbai eine landesweite Konferenz zur Frage nach dem Recht auf gesundheitliche Fürsorge statt. Zwar beinhaltet die indische Verfassung nicht ausdrücklich das Recht auf gesundheitliche Fürsorge. Dieses wird aber zunehmend vom - von wem auch sonst - Supreme Court als kombiniertes Recht aus dem Recht auf Leben (Art. 21) und der staatlichen Verpflichtung zur Verbesserung der Gesundheitslage (Art. 47) abgeleitet. In Indien ist - ähnlich wie in Deutschland - ein Rückzug des Staates aus der Deckung der Grundbedürfnisse festzustellen. Der Anteil der zentralstaatlichen Ausgaben für gesundheitliche Fürsorge ist gemessen am Bruttosozialprodukt im Zeitraum vom 1990 bis 1999 von 1,3 Prozent auf 0,9 Prozent gefallen. Im Gegensatz dazu empfiehlt die WHO einen Anteil von fünf Prozent. Damit ist Indien vermutlich das Land mit dem am stärksten privatisierten Gesundheitssystem. Mehr als 83 Prozent der Gesundheitsausgaben werden aus privater Hand finanziert[44]. Selbst die knapp 20 Prozent der Patienten, die staatliche Krankenhäuser aufsuchen, erhalten immer weniger Leistungen. Untersuchungen haben gezeigt, dass 40 Prozent der Krankenhauspatienten zur Bestreitung der Behandlungskosten ein Darlehen aufnehmen oder ihre wertvolle Habe verkaufen müssen. Besonders schlimm ist die Lage in ländlichen Gebieten, wo die zwar teilweise vorhandenen, aber nicht oder schlecht besetzten Dorfkrankenhäuser ihrer Aufgabe nicht gerecht werden können. Auf der vorgenannten Konferenz haben sich bekannte Juristen wie der ehemalige Präsident des Supreme Court, Richter Anand, sowie der Verfassungsrechtler, S.P. Sathe, für ein stärkeres Engagement des Staates in gesundheitlichen Fragen ausgesprochen. Die Verpflichtung zu sozialstaatlichem Handeln erwachse dabei unmittelbar aus den Staatszielbestimmungen der Verfassung. Die Nationale Menschenrechtskommission hat sich auch in dieser Frage eingemischt und verlangt, dass das Recht auf gesundheitliche Fürsorge in ein einklagbares Grundrecht verwandelt wird. Die eingeladenen Regierungsvertreter glänzten hingegen durch Abwesenheit.

Fazit

Die vorangehenden Schlaglichter auf menschenrechtsrelevante Felder der indischen Wirklichkeit beleuchten nur einen winzigen Ausschnitt aus dem weiten Themenfeld der Menschenrechte. In der öffentlichen Diskussion stehen nicht nur die klassischen Menschenrechte in Form der Grundrechte, die in diesem Beitrag eher beiläufig erwähnt wurden, sondern vor allem auch die weitaus schwerer zu realisierenden Rechte der zweiten und dritten Generation. Aber auch das sehr umstrittene Eigentumsrecht, das in der indischen Verfassung nicht im Grundrechtsteil steht, sondern "nur" einfachen Verfassungsrang hat, gerät zunehmend in das Blickfeld der Grundrechtsdiskussion. Denn der Supreme Court stellt - der westlichen Rechtstradition folgend - Leben, Freiheit und Eigentum in einen unauflösbaren Zusammenhang[45]. Zwar wird eine Neuorientierung im Verhältnis von Eigentumsrecht und persönlicher Freiheit erkennbar, was jedoch nichts daran ändert, dass diese Überlegungen in der aktuellen Menschenrechtsdiskussion wohl keine Rolle spielen dürften. Diese kreist mehr um die menschlichen Grundbedürfnisse, wie die vorgestellten Themenkreise zeigen sollten.

Indien erlebt eine Periode, in der sich sowohl die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung als auch die zahlreichen Minderheiten ihrer Rechte und ihrer Macht bewusst werden. Wie sich bei den jüngsten Spannungen zwischen indischen Bevölkerungsgruppen gezeigt hat, geraten dabei die Menschenrechte nicht selten unter Druck. Jahrtausende alte Traditionen und primordiale Bindungen lassen sich nicht ohne weiteres durch gesetzliche Regelungen und Reformen verändern. Ob und wie schnell sich die althergebrachten Verhaltensweisen ändern, hängt nicht zuletzt von der staatlichen Unterstützung und Sicherung solcher Institutionen wie den Panchayats und der Förderung von Frauen und benachteiligten Bevölkerungsgruppen ab.

Jedoch sollte nicht allein auf staatliche Institutionen vertraut werden, die - wie die Menschenrechtskommission - zudem noch staatlich errichtet und finanziert wurde. Ebenso verhält es sich mit den auf Druck des obersten indischen Gerichts eingesetzten Ausschüssen. Diese Einrichtungen sind letztendlich ausschließlich vom politischen Willen der sie einsetzenden Organe abhängig und können nicht wirklich staatliche Macht einschränken oder kontrollieren.

Festzuhalten bleibt, dass Indien formell gesehen einen hohen Menschenrechtsstandard aufweist und auch Signatarstaat zahlreicher Menschenrechtskonventionen ist. Allerdings müssen die politisch Verantwortlichen stärker darauf achten, den hohen Grundrechtsstandard der Anfangsjahre nicht durch fundamentalistische und ausgrenzende Tendenzen einzubüßen, insbesondere, wenn diese staatlich subventioniert sind.

Zur Wahrung und Behauptung der Menschenrechte bedarf es daher wacher Gruppen und Aktivisten, wie sie die indische Preisträgerin Setalvad ist, und einer menschenrechtsfreundlichen Gerichtsbarkeit. Beides ist in Indien in großem Maße vorhanden, so dass Indien - wie der Historiker Dietmar Rothermund in einer Fernsehsendung über die Gegenwart und Zukunft Indiens sagte - sein Schicksal schon meistern wird. Ob die eingangs wiedergegebene Vision Tukarams Wirklichkeit wird, ist allerdings ungewiss.

Anmerkungen

[1] zitiert nach Gail Omvedt, "Caste and Hinduism", in: Economic and Political Weekly (EPW) 2003, S. 5004.

[2] Jain, Indian Constitutional Law, 4. Auflage Nagpur 1994, S. 737; s. auch Seckendorff, zitiert bei Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen, Tübingen 1997, S. 14: "...die innerliche ruhe des landes und sicherheit von den feinden..."

[3] John Locke, The Second Treatise of Civil Government, zitiert bei Sommermann, S. 31: Der Staatszweck reduziert sich hier auf "the mutual preservation of their lives, liberties and estates". Oder anders formuliert: "The great chief end, therefore, of men's uniting into commonwealths and putting themselves under government is the preservation of their property."

[4] Grimm, "Verfassungsfunktion und Grundgesetzreform", in: Archiv des öffentlichen Rechts (AöR) 97 (1972), 489 (500).

[5] Sommermann, S.209 f.; vgl. auch Schreckenberger, in: Der Staat 34 (1995), 503, der das Konzept des modernen Verfassungsstaates in der Verbindung der "Rechtsstaats- und Nationalstaatsidee" sieht. Dieses wiederum setzt er in Beziehung zur "Weltgemeinschaft" als Ausdruck internationaler Ordnung. Vgl. dazu wieder die Internationalisierung der Staatsziele im Völker- und Europarecht, Sommermann, S. 252 ff. und S. 280 ff.

[6] siehe Dohrmann, Directive Principles of State Policy in der indischen Verfassung, Würzburg 2002.

[7] Huber, Gerechtigkeit und Recht, (1996), S. 234.

[8] zur Rolle der Staatszielbestimmungen: Dohrmann (2002), S. 107 ff.

[9] Heidelmeyer (Hrsg.), Die Menschenrechte, 4. Auflage Paderborn u. a. 1997, S. 11.

[10] Panikkar, Indien, S. 16.

[11] Nehru Committee, S. 89 f.: "... our first care should be to have our Fundamental Rights guaranteed in a manner which will not permit their withdrawal under any circumstances...". Das Komitee wurde benannt nach Motilal Nehru, dem Vater Jawaharlal Nehrus.

[12] a.a.O., S. 102 f.

[13] Markandan, Directive Principles of State Policy in the Indian Constitution, Jalandhar 1987, S. 44.

[14] Austin, Indian Constitution: Cornerstone of a Nation, Oxford 1966, S. 76.

[15] The Indian Annual Register = I.A.R., January-June 1931, Vol. I, S. 278.

[16] Interessanterweise hat Indien diese innerstaatliche Unterscheidung zwischen rechtlich durchsetzbaren Grundrechten und rechtlich nicht verbindlichen Sozial- und Kulturrechten auf internationaler Ebene bei der Verabschiedung des bürgerlichen und politischen Paktes sowie beim Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte angeregt (19. Dezember 1966). Die Trennung der Menschenrechte in zwei Pakte entsprach einem Vorschlag Indiens in der Menschenrechtskommission, da wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte eines anderen Realisierungssystems bedürften als die bürgerlichen und politischen Rechte (vgl. Norman Paech, "Soziale Menschenrechte fehlen auf der Tagesordnung", in: Frankfurter Rundschau v. 13.09.2003.

[17] Wortlaut des Gesetzes in Basu, Shorter Constitution of India, (2001).

[18] zitiert bei Nirmal, Human Rights in India, New Delhi 2003, S. 211.

[19] zur Popularklage siehe Dohrmann/Fischer, "Public Interest Litigation in Indien", in: INDIEN 2003, Institut für Asienkunde Hamburg 2003, S. 145 ff.

[20] Venkatesan, "A Commission in Limbo", in: Frontline v. 14.02.2003, S. 121 (122).

[21] ai Jahresbericht 2002 zu Indien unter www.amnesty.de

[22] V. R. Krishna Iyer, zitiert bei Nirmal (2002), S. 216; Banerjee, "Human Rights in India in the Global Context", in: EPW 2003, 424.

[23] eine kurze Übersicht über TADA/POTO/POTA gibt Ujjwal Kumar Singh, "POTA Review: What will it achieve?", in EPW 2003, S. 5155 ff.

[24] Siddarth Narrain, "Reversing a Verdict", in: Frontline v. 21.11.2003, S. 20 f.

[25] Sachar, Rajinder, "Prevention of Terrorism Act (POTA) Repeal Ordinance - Myth And Reality", in: South Asia Citizens Web, v. 8.10.2004,

[26] Bunsha, "A Divisive Act", in: Frontline v. 24.04.2003, S. 51 f.

[27] Siddarth, Varadarajan, Gujarat - The Making of a Tragedy, New Delhi 2002.

[28] Setalvad, "When Guardians Betray - The Role of the Police in Gujarat", in: Varadarajan, a. a. O., S. 177 ff.

[29] Mathew, "Panchayati Raj Institutions and Human Rights in India", in: EPW 2003, 155 ff.

[30] Eine gute Übersicht über den Stand der Diskussion liefert, Bhat, "Two-Child Norm - In defence of Supreme Court Judgment", in: EPW 2003, S. 4714 ff.

[31] Jha, "Hunger and Starvation Deaths", in: EPW 2002, S. 5159 ff.; Rajalakshmi, "Spotlighting Hunger", in: Frontline v. 23.05.2003, S. 88 f.

[32] Muralidharan, "A Platform for the Poor", in: Frontline v. 14.02.2003, S. 100 ff.

[33] Schon heute erhält Indien mehr Zuwachs als jedes andere Land - China eingeschlossen - und wird damit China in wenigen Jahren eingeholt haben. Es wird geschätzt, dass Indien 1.888 Mio. und China 1.680 Mio. Einwohner haben werden, bis sich ein Nullwachstum der Bevölkerung eingestellt haben wird. Zingel in: Indien 1999, S.219.

[34] Zingel, "Genug Nahrung für eine Milliarde Inder?", in: INDIEN 1999, Institut für Asienkunde Hamburg 2003, S.220 f. Davon geht auch die BJP-geführte Regierung in ihrer Agenda for Governance aus: "We will ensure food security for all, create a hunger-free India in the next five years, and improve the public distribution systems so as to serve the poorest of the poor in rural and urban areas. We will also ensure price stability by all appropriate means and necessary legislation."

[35] Zingel, a. a. O., S.223.

[36] Prabhat Patnaik, "The development outlay disaster", in: Frontline v. 03.03.2000, S.12 f.: "Poverty does not get eradicated merely through higher growth. What is important in this context is the nature of that growth, in particular the extent to which growth is employment-augmenting."; a.A.: Kruse, "Soziale Sicherung in Indien", in: INDIEN 1999, S.279, die Kaufkrafttransfers nur als punktuelle Verbesserungen einschätzt, weil gleichzeitig die Selbsthilfekapazität geschwächt und die gewachsenen Sozialstrukturen beeinträchtigt würden.

[37] Zingel, a. a. O., S.220; Patnaik in: Frontline v. 03.03.2000, S.13.

[38] ausführlich zu dieser Problematik, Madhura Swaminathan, "A Demolition Job", in: Frontline v. 31.03.2000, S. 98-100.

[39] s. zu richterlichem Aktivismus in Indien: Dohrmann, "Informelle Gerichte und gerichtlicher Aktivismus - Indiens 'ingeniöses' Rechtssystem", in: INDIEN 2003, Institut für Asienkunde Hamburg 2003, S. 93 ff.

[40] Drèze zitiert bei Raghav Gaiha, "Does the Right to Food matter?", in EPW 2003, S. 4269 ff.

[41] Times of India v. 4.9.2002

[42] Times of India v. 10.11.1998

[43] ausführlich zum Kinderhandel in Indien mit vielen Beispielen und Erklärungen zu den Hintergründen, siehe HAQ Centre for Child Rights, Child Trafficking in India, New Delhi 2001.

[44] Anant Phadke, "Right to Health Care", in: EPW 2003, 4308.

[45] vergleiche hierzu Stefan Sauer, Eigentumsschutz und Verfassungsstruktur in Indien, Frankfurt am Main 2004, S. 237 ff.

Quelle: Dieser Beitrag ist die redaktionell bearbeitete und aktualisierte Fassung eines Artikels der im Original erschienen ist in: Werner Draguhn (Hg.) (2004), Indien 2004. Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Hamburg, Institut für Asienkunde.

Dieser Beitrag gehört zum Schwerpunkt: Menschenrechte in Indien .

Quellen

  • Austin, Granville (1966): Indian Constitution. Cornerstone of a Nation, Oxford
  • Basu, Durga Das (2001): Shorter Constitution of India, New Delhi, 13. Auflage
  • Chandra, Bipan (Hg.) (1998): India´s Struggle for Independence, New Delhi, 21. unveränderte Auflage
  • Dohrmann, Jona Aravind (2002): Directive Principles of State Policy in der indischen Verfassung, Würzburg
  • Galanter, Marc (1992): Law and Society in Modern India, New Delhi
  • Huber, Wolfgang (1996): Gerechtigkeit und Recht. Grundlinien christlicher Rechtsethik, Gütersloh
  • Jain, M.P. (1994): Indian Constitutional Law, Nagpur, 4. Auflage
  • Markandan, K.C. (1987): Directive Principles of State Policy in the Indian Constitution, Jalandhar
  • Nirmal, Chiranjivi J. (2002): Human Rights in India, New Delhi
  • Panikkar, K.M. (1963): Indien (Titel des Originals "Common Sense about India"), deutsch von Jochen Voss, Gütersloh
  • Sauer, Stefan (2004): Eigentumsschutz und Verfassungsstruktur in Indien, Frankfurt/Main
  • Setalvad (1960): The Common Law in India, London
  • Siddarth, Varadarajan (2002): Gujarat. The Making of a Tragedy, New Delhi
  • Sommermann, Karl-Peter (1997): Staatsziele und Staatszielbestimmungen, Tübingen

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