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Indiens Entwicklungsweg kann in diesem Sinne ein gutes Beispiel dafür sein, dass Menschenrechte nicht an eine bestimmte Kultur gebunden sind. Denn, wie zu zeigen ist, setzten Inder selbst die Thematik der Menschenrechte auf die politische Tagesordnung und bestimmten folglich den Grad ihrer Durchsetzung.
In Indien wurde die Auseinandersetzung um die Einführung von Grundrechten sowohl gegenüber der Kolonialmacht als auch innerhalb der Unabhängigkeitsbewegung geführt. Wesentliche Elemente dieses Rechtekataloges bildeten sich bereits vor dem Erreichen der Unabhängigkeit heraus. Zudem wurde die Umsetzung dieser Idee mit der progressiven Realisierung der Unabhängigkeit von der britischen Kolonialmacht verbunden. Die wichtigste politische Arena der Debatte war der Indische Nationalkongress (Indian National Congress, INC). Seine Entwicklung soll nachfolgend zur Illustration dieser Zusammenhänge dienen.
Der INC wurde im Jahre 1885 gegründet. Zunächst war er ein exklusiver Klub von Anwälten und Lehrern, der nur auf eine Besserung der Administration der indischen Verhältnisse bedacht war. Im Jahr 1919 wurde Mahatma Gandhi führende Persönlichkeit im INC. Mit ihm war nun ein wichtiger Wandel in der Bewegung angezeigt: Der INC wurde zu einer politischen Massenbewegung, und änderte seine Methoden und politischen Ziele. Er forderte nun einen wachsenden Anteil an der politischen Macht, was den Konflikt zur britischen Kolonialregierung immanent machte. Die im gleichen Jahr stattfindende 34. Sitzung des INC in Amritsar signalisierte diesen Wandel. Erstmals wurde dort auch eine Resolution über Bürgerrechte angenommen.
Doch so sehr Amritsar den Wandel zeigte, so sehr war der INC von den alten politischen Verhältnissen und deren Machtelite gefangen. Ihr nach wie vor starker Einfluss zeigte sich konkret an zwei Momenten. Zum einen verstand der INC sich in Amritsar noch als "Teil des britischen Empires"[2], so dass von der Durchsetzung der Idee nach einer Unabhängigkeit Indiens im INC noch nicht gesprochen werden konnte. Zum anderen blieb auch die Resolution über die Bürgerrechte, die dort eingeführt wurde, noch schwach und widersprüchlich. So fassten die Vertreter des INC in ihr z.B. noch Einschnitte bei der Rede- , Presse- und Versammlungsfreiheit ins Auge, "if under sentence by an ordinary Court of Justice and as a result of lawful and open trial."[3]
Der in Amritsar eingeleitete Prozess fand bereits innerhalb des nächsten Jahres seinen vorläufigen Höhepunkt. Die neue Politik wurde auf einer Sondersitzung des INC in Kalkutta im September 1920 stärker durchgesetzt, als das Programm einer "Politik der progressiven, gewaltlosen Nicht-Zusammenarbeit"[4] angenommen wurde. Konsequenterweise wurde auf der drei Monate später stattfindenden INC-Sitzung in Nagpur eine weiter gehende Deklaration der Rechte präsentiert. Der Präsident des INC, C. Vijiaraghavachariar, stellte sie im Rahmen des Verfassungsentwurfs für das Dominion Britisch-Indien vor. Nun sprach sich der INC explizit gegen Folter und Todesstrafe aus: "No torture or corporal punishment of any kind and no degrading punishment shall be legal."[5] Individuen sollten das Recht erhalten, im Kreuzverhör eines offenen Gerichtsverfahrens vernommen zu werden, Rede- und Versammlungsfreiheit sollten garantiert werden, und Bildung wurde zur wichtigsten Aufgabe der Regierung erklärt.
Diese politische Entwicklung setzte sich bis zur Annahme der Forderung nach "vollständiger Unabhängigkeit" im Dezember 1929 fort. Auf der 45. Sitzung des INC im März 1931 wurde daraufhin die Resolution "Grundrechte und Wirtschaftsprogramm"[6] vorgestellt, die von keinen Geringeren als Mahatma Gandhi und Villabhai Patel vorgetragen bzw. unterstützt wurde. Die endgültige Fassung dieser Resolution wurde schließlich im August 1931 unter dem Titel "Grundrechte und -pflichten und Wirtschaftsprogramm"[7] angenommen. Spätestens mit dieser Resolution wurde deutlich, dass Forderungen nach Versammlungsfreiheit, Gewissensfreiheit, Minderheitenschutz, Gleichheit vor dem Gesetz unabhängig von Religion, Kaste, Glauben oder Geschlecht, Neutralität gegenüber der Religion, allgemeinem Wahlrecht, Bildungspflicht, Abschaffung der Todesstrafe und Bewegungsfreiheit Eingang in die politische Kultur Indiens und das indische Denken gefunden hatten. Eingebettet in den politischen Kampf des INC wurden diese Forderungen zudem gegenüber der britischen Kolonialmacht als Bedingung für eine positive Realisierung der "Selbst-Regierung" Indiens angesehen. Die Verwirklichung der Grundrechte wurde somit auch abhängig vom Erfolg der Unabhängigkeitsbewegung gemacht. Interessanterweise wurden bereits damals politische Rechte mit wirtschaftlichen und sozialen verbunden.
Allerdings setzte sich der INC weder in den 1930er Jahren noch, wie wir sehen werden, in den Folgejahren für eine vollständige Garantie der Grundrechte ein. Die Gründe hierfür sind vielfältig und müssen vor dem Hintergrund der historischen Situation und der damaligen politischen Verhältnissen verstanden werden: Die Resolution von 1931 wurde vor dem Hintergrund eines Kompromisses mit der britischen Kolonialmacht verabschiedet. Im Rahmen des Gandhi-Irwin-Paktes hatte der INC damals seine Blockadehaltung und die Kampagnen des zivilen Ungehorsams aufgegeben, und Mahatma Gandhi fuhr zu den Verhandlungen der Round Table Conference im Jahr nach London. Mit seiner Kompromissbereitschaft schwächte der INC auch die Substanz der Resolution über die Grundrechte. Somit obsiegten in dem Konflikt zwischen den Befürwortern eines verfassungsmäßigen Strebens nach Unabhängigkeit und denen, die auf zivilen Ungehorsam und eine Mobilisierung der Massen setzten, die Kräfte, die auf einer Kooperation mit der Kolonialmacht bauten. Letztlich zeigte sich aber, dass zur Beförderung der Grundrechte das politische Mandat und die öffentliche Mobilisierung notwendig waren.
Schon die unmittelbare Nachbarschaft des INC kann als gutes Beispiel für diese Zusammenhänge gesehen werden: Die All-India Muslim League, die politische Vorgängerpartei der Staates Pakistan, hat niemals eine Resolution über Grundrechte angenommen. Stattdessen setzten sie und vor allem ihr Vorsitzender M.A. Jinnah auf einen verfassungsmäßigen Weg und Verhandlungen, um die Gründung des Staates Pakistan erringen zu können. Die politischen Konsequenzen dieser Entwicklung wirken bis zum heutigen Tag nach: Beständige Interventionen von Militär und Bürokratie blockieren jegliche Fortschritte bei der Durchsetzung von Bürgerrechten. Die exekutive Macht wurde nachhaltig auf Kosten der Zivilgesellschaft gestärkt. Eine ähnliche, wenn auch nicht vergleichbare, Entwicklung erlebte, wie wir im nächsten Absatz sehen werden, auch Indien.
Das unabhängige Indien verabschiedete seine erste Verfassung am 26. Januar 1950. Die Verfassung reflektierte eine, wie bereits oben angedeutet, widersprüchliche Entwicklung. Sie ist in weiten Teilen sowohl revolutionär als auch konservativ. Revolutionär ist sie insofern, als dass die Verfassung ihre Quelle beim "Volk Indiens"[8] ansiedelt. In diesem Sinne integriert die Verfassung mit Teil III (Fundamental Rights) einen eigenständigen Katalog von Grundrechten (Artikel 12 bis 35). Darüber hinaus räumt die Verfassung den Grundrechten Priorität ein, da Artikel 13 Gesetze, die im Widerspruch zu den Grundrechten standen bzw. stehen, für nichtig erklärt. Des Weiteren deklarierte die verfassungsgebende Versammlung das allgemeinen Wahlrecht (Artikel 326).[9] Auch wurden einige der vorher bestehenden verfassungsrechtlichen Vorbehaltsklauseln (reservations) als in Konflikt mit dieser progressiven Legitimierung stehend angesehen und deshalb beschnitten. So wurde z. B. die Exekutivmacht der Fürstenstaaten abgeschafft.
Konservativ ist die Verfassung des unabhängigen Indien insofern, als dass sie im Kern eine Fortführung des kolonialen Rechts- und Verwaltungssystems, das 1935 mit dem Government of India Act geschaffen wurde, darstellt. Alle Gesetze, die vor dem Inkrafttreten der Verfassung Bestand hatten, sollten nach Artikel 371 auch weiterhin in Kraft bleiben. So gilt z. B. bis heute das Indische Strafgesetzbuch von 1860, das die Todesstrafe (Artikel 121)[10] vorsieht. Die Kongresspartei trat hier hinter ihre eigenen politischen Ziele zurück. Sie schien eine solche Entwicklung als wenig dramatisch bzw. "natürlich" zu betrachten, da sie nun "das administrative System [... in] einem innigen Verhältnis mit dem Volke" [11] verbunden sah.
Die weitgehende Fortführung des kolonialen Systems führte zu verschiedenen Widersprüchen in der Verfassung.[12] Zwar sind die Grundrechte ein wesentlicher Bestandteil der Verfassung, ihre Ausübung wird aber durch so genannte reasonable restrictions u.a. im Interesse von Staatssicherheit und öffentlicher Ordnung eingeschränkt.[13] Auch wenn diese Beschränkungen bei Verabschiedung der Verfassung nicht als absolut angesehen wurden, so waren sie doch geeignet, um von nachfolgenden politischen Eliten für ihre Zwecke genutzt zu werden. Somit sind die Grundrechte entgegen ihrer Prioritisierung durch Artikel 13 in weiten Teilen antastbar. So hinderten die in Artikel 25 festgeschriebenen Bestimmungen zur Religionsfreiheit den Staat nicht daran, in die religiösen Belange einzugreifen. Auch wurde der politische Gehalt der Verfassung durch die Bestimmungen zur Vorbeugehaft weiter eingegrenzt. Artikel 22 und 34 siedeln diese sogar innerhalb des Grundrechtekatalogs an. Darüber hinaus kodifiziert die Verfassung in den Artikeln 352 bis 360 Notstandsbestimmungen (Emergency Provisions). U. a. regeln diese die Beziehungen des Zentrums zu den Unionsstaaten (Artikel 356) und räumen hiermit dem Präsidenten unter bestimmten Umständen die Möglichkeit ein, gewählte Regierungen der Unionsstaaten abzusetzen. Zwar ist ein solches Vorgehen des Präsidenten nur auf Anraten und mit Hilfe des Kabinetts und seines Premierministers vorgesehen (Artikel 74), allerdings erbte das Staatsoberhaupt mit Artikel 356 vom Vizekönig des Government of India Acts "eine legale Machtreserve, die ein entschlossener Präsident sich eines Tages zunutze machen könnte".[14]
Als die Verfassungsgebende Versammlung das Kapitel über die Grundrechte verhandelte, war den Müttern und Vätern der Verfassung die internationale Menschenrechtsdiskussion bekannt und die "Allgemeine Erklärung der Menschenrechte" von 1948 lag bereits seit zwei Jahren vor. [15] Letztlich bewerteten sie die Sicherheit des Staates jedoch höher als die individuellen Menschenrechte. Parteien, die selbst in der Unabhängigkeitsbewegung Repressalien erfahren hatten, forderten nun, dass es Zeit sei, die "extravaganten and idealistischen Forderungen des Volkes zu mildern".[16] Somit brachte auch die Unabhängigkeit keine vollständige Umsetzung des Prinzips der politischen Verantwortlichkeit. Vielmehr trug das indische System langfristige Schäden davon, weil Sondergesetze, die laut einer Reihe von Beobachtern [17] schon im Jahre 1917 zur Ausnahme erklärt worden waren, weiterhin eine machtvolle Position innerhalb des neuen Rechtssystems behielten. Ob Grundrechte in diesem Rahmen gewährleistet oder verwehrt werden, bleibt eine zentrale Frage der postkolonialen Ära.
Das unabhängige Indien hat eine wechselvolle Geschichte durchlebt. Eines der wichtigsten Merkmale der postkolonialen Ära ist das graduelle Übergewicht der Exekutive, die mehrmals von der Möglichkeit Gebrauch machte, den Ausnahmezustand zu verhängen. Im Zuge dessen näherten sich auch Sonder- und Standardgesetz "auf Kosten des letzteren"[18] einander an.
Das Gesetz zur Präventivhaft vom 26. Januar 1950 war diesbezüglich der erste Schritt des unabhängigen Indiens. Mit ihm wurde der District Magistrate, das exekutive Oberhaupt der kleinsten administrativen Einheit, dazu ermächtigt, Personen zu verhaften, um sie an "gegen die Sicherheit des Staats gerichteten Handlungen"[19] zu hindern. Im Zuge der Kriege mit der Volksrepublik China 1962 und mit Pakistan 1965 machte Indien vom 26. Oktober 1962 bis zum 10. Januar 1968 erste Erfahrungen mit der Proklamation des Ausnahmezustandes. Diese Politik setzte sich mit dem Konflikt in Ost-Pakistan fort, als nochmals am 12. Dezember 1971 der Notstand verhängt wurde. Zwar waren der Anlass für die Verhängung der Ausnahmezustände "Angriffe von außen", aber in all diesen Fällen blieben die Ausnahmebestimmungen auch über die Beendigung der Kampfhandlungen hinaus in Kraft.[20] Die Bestimmungen zur Vorbeugehaft waren zwischenzeitlich am 2. Juli 1971 unter dem Namen Maintenance of Internal Security Act (MISA) wieder auferstanden, nachdem das erste Gesetz hierzu am 31. Dezember 1969 ausgelaufen war.
Der Unlawful Activities (Prevention) Act von 1967[21] ist ein weiteres Beispiel für die Standardisierung von Sondergesetzen[22], auch wenn bereits andere Bestimmungen der Exekutive die Eindämmung öffentlichen Protests ermöglichten. Der aus der Kolonialzeit übernommene Code of Criminal Procedure (Act V) von 1898 und sein Abschnitt 144 wurde im ganzen Land zu einem Synonym für die Negierung der Versammlungsfreiheit.[23] Am 25. Juli 1975 erlebte diese politische und rechtliche Entwicklung einen ersten Höhepunkt, als die damalige Premierministerin Indira Gandhi den Ausnahmezustand aufgrund innerer Unruhen ausrief.[24] Der bis zum 21. März 1977 andauernde Ausnahmezustand ist insbesondere für die Verneinung von Bürgerrechten, die Verletzung der Menschenrechte und die Aushebung der Versammlungs- und Pressefreiheit bekannt geworden.[25] Unter den Bestimmungen des MISA und des Defence of India Act wurden innerhalb der knapp zwei Jahre 111.000 Menschen verhaftet. In diesem Kontext wurde durch die 42. Verfassungsergänzung auch die Idee der Grundpflichten (Fundamental Duties) substantiell erweitert, indem mit Teil IVa ein gesamter neuer Abschnitt in die Verfassung aufgenommen wurde. Die Betonung von bürgerlichen Grundpflichten war also auch im indischen Kontext keineswegs selbstverständlich, sondern reflektiert eine politische Entwicklung, die der Exekutive wachsende Macht einräumt.
Auch nach Aufhebung des Ausnahmezustand und der Machtübernahme durch das Janata-Bündnis blieben Verfassungsänderungen, wie die Fundamental Duties, und alle weiteren unter dem Notstandsregime verabschiedeten Sondergesetze in Kraft. Paradoxerweise richteten sich nun diese, von Indira Gandhi initiierten Sonderbestimmungen gegen sie selbst und die Kongresspartei. Das Janata-Bündnis früherer Oppositionskräfte "leitete [innerhalb von Tagen] eine massive Entfaltung zentralisierter Macht ein".[26]
Diese Entwicklung setzte sich mit der Wiederwahl von Indira Gandhi im Jahre 1980 fort. Umgehend wurde ein neues Gesetz zur Vorbeugehaft verabschiedet, der National Security Act (NSA). Eine neue Art von Gesetz trat dann vor dem Hintergrund der politischen Situation im Punjab in Kraft, nachdem im Jahre 1985 der Terrorist and Disruptive Activities (Prevention) Act (TADA) verabschiedet worden war. TADA ermöglichte erhöhte Strafen und richtete Sondergerichte ein. Das Gesetz wurde mit inneren Unruhen und wachsenden Sezessionsbestrebungen begründet. Bis zu seiner Aufhebung im Jahre 1995 kam es in anderen Landesteilen wie Jammu & Kaschmir, dem Nord-Osten und den zentralen östlichen Unionsstaaten zur Anwendung. Zwischen 2001 und 2004 wurde TADA vor dem Hintergrund der Terrorismusbekämpfung in sehr ähnlicher Form als Prevention of Terrorism Act (POTA) wiedergeboren. Allerdings übertraf POTA seinen Vorgänger in einer wesentlichen Hinsicht: Nicht mehr unter besondere Strafe gestellt wurden Handlungen, die "eine jegliche Bevölkerungsgruppe Volkes entfremdet oder [...] die Harmonie zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen stört". Damit war POTA juristischer Ausdruck einer Zeit, die durch die wachsende Bedeutung des Hindu-Nationalismus geprägt war.[27] Hindu-nationalistische Übergriffe gegen Muslime u. a. sollten im Gegensatz zu früheren Gesetzen nun nicht mehr besonders geahndet werden. Prominentester Häftling unter POTA wurde der Parlamentsabgeordnete der tamilischen Partei MDMK, Vaiko.
Nach dem Auslaufen von POTA sollte im Jahre 2004 der Unlawful Activities (Prevention) Act von 1967 um Anti-Terrorbestimmungen ergänzt werden. Politisch bedeutsam wurde im Laufe des Jahres 2005 die Diskussion um die Überprüfung des Armed Forces (Special Powers) Act von 1958. Dieses Gesetz ermöglicht der Armee im Nord-Osten und Jammu & Kaschmir die ungehinderte Anwendung der Schusswaffen. Nicht unerwähnt bleiben darf an dieser Stelle der häufige Gebrauch der exekutiven Sonderrechte in den Unionsstaaten, wo bis zum heutigen Tage 120 Mal Regierungen abgesetzt und durch die so genannte President's Rule der Zentralverwaltung unterstellt wurden.
Sondergesetze und Ausnahmebestimmungen haben eine machtvolle Position in der rechtlich-politischen Ordnung Indiens erreicht. Die Exekutive hat mehr und mehr an Macht gewonnen und wurde einseitig auf Kosten anderer Regierungsgewalten gestärkt. Vorbeugehaft, Ausnahmeregelungen und Sicherheitsgesetzgebungen wurden in diesem Rahmen im wachsenden Maße verabschiedet und angewandt. Sie hatten in letzter Konsequenz für die "exekutive Macht einen verführerischen Charme"[28] und "die Sicherheitsgesetzgebung stärkte die Macht der Regierung enorm, Bürgerrechte zu beschneiden und die Angelegenheiten der Bürger zu regulieren"[29]. Da zivilgesellschaftliche Institutionen auf breiter Basis fehlten, war der Missbrauch dieser Macht inhärent, und die so genannten Sicherheiten, die einen Missbrauch verhindern sollten, nicht effektiv.[30]
Die Bestimmungen zur Vorbeugehaft waren von den Gerichten kritisch beurteilt worden, denn sie "standen nicht in Einklang mit den Idealen der Rechtsstaatlichkeit"[31]. Allerdings sahen sich die Gerichte kaum in der Lage - auch wenn sie diesen Ermächtigungsgrundlagen "nicht sehr gewogen"[32] waren - etwas gegen diese ausrichten, da der Prozess selbst durch die Verfassung legalisiert worden war. Somit sind Sondergesetze zunehmend zu Standardgesetzen geworden. Grundrechte sind in diesem Prozess in wachsendem Maße beschnitten und durch Pflichten ersetzt worden.
Die Konsequenzen dieser Entwicklung bedürften einer weiteren Analyse, da die Möglichkeit besteht, dass sie nicht nur die Rechte der Bürger, sondern mittelfristig auch "den Staat schwächt oder sogar in Gefahr des Zusammenbruchs bringt"[33]. Zu verstehen ist dies im Kontext der jüngeren politischen Entwicklungen. Denn mit der Bharatiya Janata Party war in den Jahren von 1998 bis 2004 eine politische Kraft an der Macht, die das Konzept der Menschenrechte in Frage stellt. Ideologisch definiert sie jeden Inder als Hindu und fordert damit die Vorstellung vom Staatsbürger heraus. Zwar erkennt die Partei die Idee des Individuums an, doch sieht sie das Individuum in einen größeren ideologischen Zusammenhang eingebettet, der letztlich das Individuum in seiner eigenen Entwicklung negiert.
Umso mehr also gilt es, sich der Ideale der Unabhängigkeitsbewegung zu erinnern, der Politik wieder zu ihrem Platz zu verhelfen und die Rechte für einen möglichst weiten Teil der Bevölkerung erfahrbar zu machen. Menschenrechte sind Indien nicht fremd. Im letzten Jahrhundert wurde ihre Umsetzung als wesentliches Element im Kampf gegen eine ausländische Macht und quasi-natürliches Ergebnis der Realisierung der Selbst-Regierung des indischen Volkes angesehen. Eine Wiederbelebung dieser politischen Initiative wird Indien nur stärken können und nicht schwächen.
[1] Freeman, Michael (2002): Human Rights: An Interdisciplinary Approach. Cambridge: Polity, S. 167
[2] The Encyclopaedia of the Indian National Congress (INC), Zaidi, A. M (ed.), Volume VII: 1916-20, New Delhi: S. Chand & Company, S. 530-1
[3] INC: VII, a.a.O.
[4] INC: VII, a.a.O., S. 582
[5] INC: VII, a.a.O., S. 680-3.
[6] INC: X, a.a.O., S. 111-21
[7] INC: X, a.a.O., S. 180-183
[8] Der Text der Verfassung bezieht sich unten stehend auf: The Constitution of India (1991), P. M. Bakshi (ed.), New Delhi: Universal Book Traders
[9] Der Entzug des Wahlrechts wurde beschränkt auf "grounds of non-residence, unsoundness of mind, crime or corrupt or illegal practice."
[10] Lt. Indian Penal Code, No. 45 of 1860 (as modified up to the 1st November, 1990), Government of India; Article 121 (Of Offences Against The State): "Whoever wages war against the Government of India, or attempts to wage such a war, or abets the waging of such war, shall be punished with death or imprisonment for life [...] ."
[11] Tandon, P. D. (1950): Presidential Address at the 56th Session of the INC, Nasik, September 21&22, in: INC: XIII, a.a.O., S. 519.
[12] O'Toole, Therese (2001): Secularising the Sacred Cow: The Politics of Cow-Protection (unveröffentlichter Aufsatz)
[13] Wichtige Kriterien waren in dieser Hinsicht "the interests of the security of the State, friendly relations with foreign States, public order, decency or morality, or in relation to contempt of court, defamation or incitement to an offence".
[14] Conrad, Dieter (1999): "Konstitutionelles Ausnahmerecht in Indien", in: Conrad, Dieter: Zwischen den Traditionen. Stuttgart: Franz Steiner, S. 11
[15] National Commission to Review the Working of the Constitution (2002), Report, Volume I, New Delhi, S. 65
[16] Sitaramayya, B. P. (1948): Presidential Address at the 55th Session of the INC, Jaipur, December 18, in: INC: XIII, a.a.O., S. 220
[17] Conrad (a.a.O., S. 4) nahm hier die Deklaration vom 20. August 1917 zum Beweis seiner These: "increasing association of Indians in every branch of the administration and the gradual development self-governing institutions with a view to the progressive legislation realization of responsible government in India as an integral part of the British Empire" (in: Report on Indian Constitutional Reforms, 1918, Calcutta: Superintendent Government Printing, S. 1)
[18] Conrad, a.a.O., S. 36
[19] "Preventive Detention Act", 1950 (Act No. 4 of 1950). in: The National Security Act, 1980 along with other laws on Preventive Detention, Past and Present (1991), Vijay Malik (ed.), Lucknow: Eastern Book Company, S. 141. Der Höchstzeitraum der Verhaftung war 12 Monate (Artikel 11). Der Haftbefehl konnte jedoch erneuert werden (Artikel 13).
[20] Der Rückzug der chinesischen Truppen wurde am 21.12.1962 bekannt gegeben. Das Tashkent-Abkommen vom Januar 1966 beendete den Krieg mit Pakistan. Der äußere Ausnahmezustand des Jahres 1971 hielt bis zum 27 März 1977 an, wohingegen das pakistanische Oberkommando das "Instrument of Surrender" am 16. Dezember 1971 unterzeichnete. In: Austin, G. (2001): Working a Democratic Constitution, The Indian Experience, Oxford: University Press, S. 63, 432.
[21] Gemäß dieses Gesetzes kann die Regierung "any association" durch Bekanntmachung als "unlawful" erklären. Ein Tribunal, das von einem Richter des High Court geführt wird, befindet kann diese Bekanntmachung prüfen.
[22] Conrad, a.a.O., S. 34.
[23] Lt. Abschnitt 144 (power to issue in urgent cases of nuisance or apprehended danger), kann ein District Magistrate "direct any person to abstain from a certain act [...] if such Magistrate considers that such direction is likely to prevent [...] obstruction, [...] disturbance of the public tranquillity, or a riot, [...] ." (B. B. Mitra on the Code of Criminal Procedure, 1973, Act 2 of 1972 (1978): (15th edition), by A. R. Biswas, Vol. 1, Calcutta: Debooks Eastern Law House, p. 616. Siehe auch das Kapitel "Use and misuse of the law against human rights defenders", in: Amnesty International (2000): INDIA Persecuted for challenging injustice: Human Rights defenders in India, London, AI Index: ASA 20/08/00, S. 12-20.
(22.07.2003)
[24] Zur Beschreibung der politischen Umstände vgl. Austin, a.a.O., S. 314-27
[25] Austin, a.a.O., S. 309; Sorabjee, S. (1977): The Emergency, Censorship and The Press in India, 1957-77, New Delhi: Central News Agency.
[26] Austin, a.a.O., S. 441.
[27] Siehe Amnesty International India (2003): Special ‘Security' Legislation and Human Right, Delhi, March.
[28] Austin, a.a.O., S. 67
[29] Austin, a.a.O., S. 63
[30] Der Möglichkeit zum Missbrauch dieser Gesetze war man sich in Indien hingegen stets bewusst. In den 1950er Jahren gingen die Gerichte einfach davon aus, dass "a great safeguard against any abuse of power" bestehen würde. In: Banerjee, D. N. (1960): Our Fundamental Rights, Their Nature and Extent (As Judicially Determined), Calcutta: The World Press Private, S. 145
[31] Banerjee, a.a.O., S. 260-1
[32] Banerjee, a.a.O., S. 260
[33] Conrad, a.a.O., S. 38
Dieser Beitrag gehört zum Schwerpunkt: Menschenrechte in Indien .
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