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16. September 2005. Analysen: Politik & Recht - Indien Eindrücke einer Reise nach Kaschmir

Obwohl seit Beginn des Friedensprozesses zwischen Indien und Pakistan die Waffenruhe an der Line of Control großteils eingehalten wird, herrscht im indischen Teil Kaschmirs nach wie vor latenter Bürgerkrieg. Zwar ist die Gewalt nach offiziellen Angaben im Jahr 2004 gegenüber den Vorjahren zurückgegangen, allerdings war sie mit sieben Opfern, die im Durchschnitt jeden Tag bei "militancy related incidents" den Tod fanden, immer noch hoch. Seit Anfang 2005 wird wieder ein Ansteigen der gewaltsamen Zusammenstöße zwischen staatlichen Truppen und bewaffneten Widerstandskämpfern registriert.

Ausgestattet mit einem Reisestipendium des österreichischen Kanzleramt für meine Recherchen für ein neues Jugendbuchprojekt war es mir möglich, mit einem "X"-Visa für Forschung und Arbeitsprojekte für nahezu fünf Monate nach Indien zu reisen. Während der vier Monate, die ich davon im Unionsstaat Jammu & Kashmir verbracht habe, konnte ich mir vor Ort einen Eindruck von der Lage der Menschen zwischen den Fronten des Bürgerkrieges machen.

Menschenrechte im Ausnahmezustand

Sowohl militante als auch politische Separatistengruppen sehen den indischen Unionsstaat Jammu & Kashmir als "disputed territory" und kämpfen für einen sofortigen Abzug der indischen Truppen und einen freien und unabhängigen Staat bzw. einen Anschluss an Pakistan. Der indische Staat hat die Region zur "disturbed area" erklärt und bekämpft den seit 16 Jahren andauernden bewaffneten Widerstand mit mehr als einer halben Millionen Soldaten und Paramilitärs, die in der Region stationiert sind. Unter dem Mantel drakonischer Anti-Terror-Gesetze wie dem Disturbed Areas Act, dem Armed Forces (Jammu and Kashmir) Special Powers Act oder dem Terrorist and Disruptive Activities (Prevention) Act kommt es dabei zu schweren Menschenrechtsverletzungen durch Polizei und Armee, die – obwohl sie gegen nationales und internationales Recht verstoßen – meist ungestraft bleiben.

Politische Parteien, Gruppen des bewaffneten Widerstands und Menschenrechtsaktivisten kritisieren das häufig brutale Vorgehen der Sicherheitskräfte unisono als "Staatsterrorismus". Die High Court Bar Association, die Rechtsanwaltskammer des höchsten Gerichts in Kaschmir, geht sogar so weit, von einem "Genozid" zu sprechen, und bezieht sich dabei auf die erschreckend hohe Zahl der in Polizei- und Armeegewahrsam ums Leben gekommenen Menschen.

Die erst nach massivem Druck von Öffentlichkeit und Medien unter dem jetzigen Chiefminister Sayeed Mufti ins Leben gerufene staatliche Anlaufstelle für Menschenrechtsverletzungen in Jammu & Kashmir, die State Human Rights Commission unter Vorsitz des ehemaligen Richters Ali Mohammad Mir, gab für die Jahre 2003 und 2004 allein 575 Fälle von offiziell angezeigten Menschenrechtsverletzungen bekannt. Die Dunkelziffer dürfte aber weit höher liegen. Sanktionen haben Armee und Paramilitärs allerdings kaum zu befürchten, da sie im Gegensatz zur Landespolizei nicht unter der Kontrolle der Landesregierung stehen. Eine offizielle Überprüfung der Vorwürfe durch UNO oder Amnesty International wird von den Behörden abgelehnt. Amnesty ist bis heute nicht in Kaschmir zugelassen.

Um zumindest in irgendeiner Form internationale Aufmerksamkeit zu erreichen, wenden sich Vertreter separatistischer Parteien und Menschenrechtsaktivisten immer wieder mit Memoranden über Menschenrechtsverletzungen an die United Nations Military Observers Group for India and Pakistan (UNMOGIP) mit Sitz in Srinagar. Mehr als symbolischen Wert haben diese Bemühungen allerdings nicht. Trotzdem greifen die Sicherheitskräfte auch hier oft gewaltsam ein und versuchen, die Übergabe der Memoranden zu verhindern.

Recherche in einem Klima der Angst

Wie angespannt die Situation ist, zeigt sich dem Besucher durch die starke Präsenz von Polizei und Armee: Auf zehn Kaschmiris kommt etwa ein indischer Soldat. Zudem sind Sicherheitskontrollen und Straßensperren häufig, ein Nachtleben existiert nicht und vereinzelt sind Schusswechsel oder Detonationen in der Ferne oder auch Nähe zu hören, deren Hintergrund man erst am nächsten Morgen aus der Zeitung erfährt. Ansonsten aber erscheint alles auf den ersten Blick relativ "ruhig". Die Behörden und Sicherheitskräfte sind um die Sicherheit von Touristen besorgt und behandeln vor allem Reisende aus dem indischen Kernland und Gäste aus dem westlichen Ausland äußerst zuvorkommend.

Möchte man aber Näheres über die Situation im Land erfahren und zeigt sich als allzu neugierig fragender Mensch, kann sich die Lage schnell ändern. Westliche Besucher sind gut beraten, sich genau zu überlegen, wen sie wo wann was fragen, und wie sie mit solchermaßen gewonnenem Wissen überhaupt umgehen. Geraten vertrauliche Information in die falschen Hände, kann es notorischen Fragern aus dem Ausland schon passieren, dass sie in einen Jeep nach Delhi verfrachtet und dort in das nächste Flugzeug nach Hause gesetzt werden, wie das einer kanadischen Journalistin vor einem Jahr passierte, nachdem sie ein Interview mit einem aus der Haft entlassenen "militant" und zum Politiker gewandelten Separatisten veröffentlicht hatte. Für eine einheimische Quelle und ihre Familie kann ein unbedachtes, wenn auch gut gemeintes Vorgehen aber sogar Gefängnis, Folter oder Tod bedeuten. Neben aufrichtigem Interesse und Mitgefühl für die betroffenen Menschen aus allen Lagern ist daher auch viel Geduld und noch mehr Zeit mitzubringen, um in einer von Angst, Misstrauen und gegenseitigen Verdächtigungen geprägten Atmosphäre Vertrauen zu gewinnen.

So ist die Kontaktaufnahme mit Informanten langwierig und erfolgt selten auf offiziellen Wegen, sondern meist über die Weiterempfehlung durch Mittelsmänner. Aber selbst wenn ein Gesprächstermin gefunden wurde, kann es dann immer noch passieren, dass der Informant just am Morgen des vereinbarten Tages verhaftet wird. Zudem müssen zum Teil hohe Sicherheitsüberprüfungen durchlaufen werden. Besucht man z.B. Mirwaiz Umar Faruq, einen führenden Politiker der Hurriyat Conference, der schon mehrere Familienmitglieder während des Bürgerkriegs verloren hat, glaubt man eine Festung zu betreten. Mein Pass wurde kopiert, mit hektischen Telefonaten noch mehrmals abgeklärt, ob ich auch tatsächlich willkommen war. Ähnlich, aber ohne Passkontrolle, verhielt es sich bei Ali Syed Shah Geelani, einem anderen Hurriyat-Conference-Politiker. Im Gegensatz dazu ist Mohammad Yasin Malik von der Jammu & Kashmir Liberation Front (JKLF) stolz darauf, keine bewaffneten Bodyguards zu beschäftigen. Als ich versuchte zu scherzen, wo er denn seine unsichtbaren Leibwächter versteckt habe, fühlte er sich verletzt und geriet in Zorn. Dass ich nach dieser Begegnung dennoch zur Beobachtung von politischen Aktivitäten der JKLF zugelassen wurde, ist allerdings nur dem Umstand geschuldet, dass mich meine Kontaktperson – wie ich später erfuhr – in Absprache mit Malik gründlich durchleuchten ließ.

Hartes Durchgreifen, Identifizierungs-Spießrutenlaufen und sexueller Machtmissbrauch

Zu Menschenrechtsverletzungen kommt es häufig bei "crack-downs". Gemeint ist das hermetische Abriegeln eines Stadtviertels, eines Dorfes oder eines Landstrichs und das anschließende Durchkämmen des Gebietes nach bewaffneten Widerstandskämpfern, oder Waffenlagern. Solche Aktionen finden oft in den frühen Morgenstunden statt, wenn die Zivilbevölkerung noch schläft. Nach Erhalt vertraulicher Hinweise durch von der indischen Armee bezahlte Informanten werden die Männer und oft auch – von den Männern getrennt – Frauen und Kinder des betroffenen Dorfes oder Stadtviertels auf einem freien Platz oder draußen vor dem Dorf auf einem Feld versammelt, durchsucht und bei "identity parades" auf ihre Identität kontrolliert. Oft wird die Einwohnerschaft eines ganzen Dorfes gezwungen, für viele Stunden im Freien auszuharren, gleichgültig, ob es regnet oder Minustemperaturen herrschen. Wer keinen Ausweis vorweisen kann, gilt prinzipiell als verdächtig. Schläge und andere Demütigungen zählen zur "Befragungstaktik". Bei den Haus-zu-Haus-Durchsuchungen kommt es nicht nur immer wieder zu Plünderungen und mutwilliger Zerstörung von Eigentum, sondern auch zu sexuellen Belästigungen und Vergewaltigungen von Frauen und Mädchen. Da eine Vergewaltigung in der islamisch geprägten Gesellschaft Kaschmirs als besondere Schande für die ganze Familie gilt, werden solche Fälle nur selten bekannt. Dennoch wurden allein in den letzten zwei Monaten 2004 sechs Fälle gemeldet.

So wurde z.B. in der Nacht vom 5. zum 6. November bei einem "crack-down" im Dorf Badar-i-Payeen in der Nähe der Stadt Handwara die 10jährige Shabnum zusammen mit ihrer Mutter Ayesha von einem Offizier der indischen Armee, vergewaltigt. Gleichzeitig wurde der 13jährige Bruder Shabnums in einem Nebenzimmer bei einem nächtlichen "Verhör" gefoltert. Er gab später zu Protokoll, dass er sich geweigert hatte, dem Major ein weibliches Mitglied der Familie "zur Verfügung" zu stellen. Als der Vater Abdul Rashid Dar, ein Pferdekarren-Lenker, der in der Nacht nicht zu Hause war, am nächsten Morgen von den Vorfällen erfuhr, erstattete er Anzeige bei der Polizei. Die Nachricht verbreitete sich in Windeseile und löste Proteste in ganz Jammu & Kashmir aus.

Schnell reagierte auch Yasin Malik von der JKLF. Nur zwei Tage später fuhr eine Delegation seiner Organisation nach Badar-i-Payeen, die ich begleiten durfte. Um das Haus der Opfer hatte sich bereits eine Menschenmenge versammelt, besonders die Frauen schrieen gegen Armee und Regierung gerichtete Parolen, gemischt mit pro-"Azadi"-Rufen. Man bat uns in einen kleinen ebenerdigen Raum, wo Ayesha neben dem Lager ihrer Tochter auf dem Boden kauerte. Das Mädchen lag in Decken eingehüllt mit weit aufgerissenen Augen auf einer Matratze. Die Mutter berichtete Malik nochmals den Hergang der Ereignisse, er übersetzte mir kurz das Wesentliche. Bei der Erzählung der Mutter begann das Kind zu weinen und am ganzen Körper zu zittern. Obwohl ich kein Wort Kaschmiri verstehe und keine Ärztin bin, war deutlich zu sehen, dass das Mädchen unter Schock stand.

Nach Ansprache an die Dorfbewohner und Fernseh-Interview hielten Malik, die JKLF-Leute und die Rechtsanwälte von Handwara in der Stadt direkt vor dem Armeebunker einen Sitzstreik ab. Trotz Verkehrsbehinderung (dicht hinter den Protestierenden fuhren in regelmäßigen Abständen so genannte Bunkerwagen und Lastwagen voll Soldaten vorbei) hielten sich die Sicherheitskräfte zurück, sogar der Protestmarsch durch die Stadt blieb weitgehend friedlich. Die Polizei verhielt sich fast höflich. Bei diesem "heiklen Fall" wollte sie offensichtlich jede weitere Eskalation vermeiden.

Im Spital von Handwara, wo Mutter und Tochter untersucht wurden, versprach die behandelnde Gynäkologin, sich von den Soldaten nicht unter Druck setzen zu lassen und die DNS-Spermien-Probe nicht der Armee, sondern nur den untersuchenden Behörden auszuhändigen. Schließlich – laut Medienberichten sogar das erste Mal in dem seit 16 Jahren andauernden Bürgerkrieg – kam es auf öffentlichen Druck hin zu einer offiziellen Anklage: Der Major wurde im Januar 2005 vor ein Kriegsgericht gestellt. Und das, obwohl noch unmittelbar nach dem Vorfall sowohl der Chiefminister von Jammu & Kashmir als auch der indische Innenminister in einer gemeinsamen Pressekonferenz behauptet hatten, es hätte in Badar-i-Payeen keine Vergewaltigung gegeben. Zwar urteilte das Gericht, dass die Sperma-Spuren in der Vagina der Opfer angeblich nicht mit denen des angeklagten Majors übereinstimmen (was in den Medien, die an andere Fälle von ausgetauschten Beweisstücken erinnern, massiv angezweifelt wurde), doch der Offizier wurde wegen "misbehaviour" gegenüber den Frauen aus dem Dienst entlassen. Die Armee "adoptierte" die Familie, was heißt, dass sie Geld zur Wiedergutmachung, ärztlichen Betreuung und für eine gute Schulausbildung erhält. Der Vater Abdul Rashid Dar muss sich jedoch von Lokalbehörden und Polizei immer wieder den Vorwurf anhören, durch seine Anzeige "die ganze Gegend in Aufruhr versetzt zu haben".

Entführungen, Folter und extralegale Hinrichtungen

Um willkürliche Verhaftungen durchzuführen, bedienen sich die Sicherheitskräfte gerne so genannter Ikhwanis, ehemaliger Widerstandskämpfer, die um ihren eigenen Hals zu retten oder auch aus finanzieller Not, als "government sponsored gunmen" in die Dienste Delhis treten und mit der Armee zusammenarbeiten. Sie tauchen meist schwer bewaffnet in Zivil auf und zwingen ihre Opfer in einen Wagen ohne Nummernschild. Die Familien der Entführten dürfen von Glück reden, wenn ihre Angehörigen nach einigen Tagen mittel oder schwer verletzt wieder vor ihrer Haustür liegen. In diesen Fällen scheint nicht einmal die Anwendung von Folter einen "Beweis" erbracht zu haben, dass die Verschleppten mit einer militanten Gruppe in Verbindung stehen. Oft "erbetteln", sprich erpressen, Ikhwanis von der Bevölkerung auch Geld und Nahrungsmittel, da ihre offizielle Bezahlung nicht für das Lebensnotwendige ausreicht.

Den Ikhwanis wird aber auch nachgesagt, im Auftrag der Armee Anschläge gegen die Zivilbevölkerung zu verüben, um den bewaffneten Widerstand in Misskredit zu bringen. Militante Gruppen, wie z.B. die Hizbul Mujahedeen, betonen, dass sie ausschließlich militärische Ziele angreifen, aber auf keinen Fall gegen Zivilisten vorgehen würden. Amnesty International berichtet allerdings, dass auch Informanten, mit Delhi kooperierende Politiker und deren Angehörige sowie einfache Passanten bereits öfter Opfer von Anschlägen durch Widerstandskämpfer wurden. Auch ehemalige Widerstandskämpfer, die freiwillig – oft auf Bitten ihrer Familien, die ihrerseits von Polizei und Behörden unter massiven Druck gesetzt werden – ihre Waffen offiziell niedergelegt haben und für die ersten "Übergangsjahre" eine staatliche, relativ niedrige Monatspension von ca. 2.500 Rupien beziehen, leben gefährlich: Viele von ihnen fallen Vergeltungsaktionen ehemaliger Gesinnungsgenossen zum Opfer.

Immer wieder berichtet wird von "custodial killings", also dem Verschwinden und der Ermordung willkürlich Verhafteter in Armee-Lagern oder Gefängnissen. Wer einmal für längere Zeit verschwunden ist, wurde vermutlich Opfer dieser Praxis. Es geschehen aber auch "Wunder": So tauchte im Januar 2005 ein verhafteter Widerstandskämpfer nach 22 Monaten "zufällig" wieder in einem inoffiziellen Armeegefängnis auf, nachdem seine Familie bereits die letzten Riten für ihn abgehalten hatte.

Dem Schicksal der etwa 6.000 bis 8.000 verschwundenen Kaschmiris auf die Spur zu kommen, hat sich Association of Parents of Disappeared Persons zur Aufgabe gemacht. Sie gehört zur Jammu & Kashmir Coalition of Civil Society unter dem Vorsitz von Rechtsanwalt Parvez Imroz. Einmal im Monat treffen sich Eltern und Angehörige der Opfer in einem öffentlichen Park in Srinagar und protestieren gegen das Verschwinden ihrer Kinder und Verwandten. Dass die Aktivisten mit solchen Formen gewaltsamen Protestes einiges riskieren, zeigte der gescheiterte Anschlag gegen Pervez Imroz im April 2005.

Bei "fake encounters" präsentieren die Sicherheitskräfte der Öffentlichkeit die Leichen erschossener Widerstandskämpfer samt Waffen und Ausrüstung unter genauer Angabe von Zeit und Örtlichkeit eines angeblichen Gefechts, bei dem die Toten erschossen worden sein sollen. Zwar handelt es sich bei den Toten in der Mehrzahl wirklich um bewaffnete Kämpfer, aber Augenzeugen aus der lokalen Bevölkerung berichten nicht selten davon, dass diese zuerst verhaftet und erst Tage später ihre Leichen präsentiert werden. Zudem berichten Medien auch gelegentlich von Fällen, in denen unbeteiligte Zivilisten, die in einen Schusswechsel zwischen die Fronten geraten oder als "verdächtig" aufgefallen waren, getötet und dann für Presse und Öffentlichkeit als Widerstandskämpfer "hergerichtet" werden.

Repression von gewaltfreiem Protest und politischen Versammlungen

Demonstrationen von Separatisten-Parteien für "Azadi", die "Freiheit", und politische Unabhängigkeit, gegen Menschenrechtsverletzungen oder von Delhi "kontrollierte" Wahlen werden nur selten geduldet, auch wenn es sich um weitgehend gewaltfreie Protestaktionen handelt. In Extremfällen – in den letzten Monaten meines Wissens nach "nur" außerhalb Srinagars auf dem Land geschehen – wird "zur Warnung" nicht nur in die Luft, sondern auch in die Menge geschossen. Ich selbst wurde mehrmals Zeugin, wie die Polizei ohne vorherige Provokation mit Schlagstöcken auf Demonstranten einprügelte, "Rädelsführer" verhaftete und den Rest der Demonstranten mit Tränengas auseinander trieb.

Am 5. November 2004 trug JKLF-Chef Yasin Malik seine viel beachtete Unterschriften-Kampagne für die Einbeziehung der kaschmirischen Bevölkerung in die Lösung der Kaschmir-Frage auch in den Distrikt Budgam. Etwa 1,5 Millionen Unterschriften (bzw. Daumenabdrücke) hatten seine Mitstreiter seit Sommer 2003 schon gesammelt. "We demand our active involvement in the process relating to resolution of Kashmir dispute", steht auf dem Unterschriftenzettel gedruckt, trotz der diplomatischen Wortwahl eine Herausforderung an das Demokratieverständnis der Landesregierung.

An diesem Freitag wurde ich mitgenommen. Es standen zwei kleine Dörfer auf dem Programm. Malik hielt seine von Koranversen und Vierzeilern des Sufi-Mystikers Nur-ud-Din Wali umrahmte politische Ansprache, ging auf die letzten lokalen Verhaftungen ein, verlas laut die Namen der Verschleppten und versprach, sie an die Medien weiter zu geben. In einem der Dörfer hatten Sicherheitskräfte vor zwei oder drei Tagen einen Traktorfahrer, der Widerstandskämpfer auf seinem Gefährt mitgenommen hatte, gleich zusammen mit den Untergrundkämpfern erschossen. Die JKLF-Delegation nahm an einem kurzen Totengebet teil. Den Abschluss der Tour bildete das Städtchen Chadura. Nach dem Freitagsgebet in einer Moschee hielt der Separatistenführer dort vor etwa 2.000 Menschen seine Rede. Die Stimmung war angespannt, die Ansprache sollte ursprünglich nicht vor der Moschee, sondern auf dem Hauptplatz der Stadt stattfinden, doch ein dichtes Polizeiaufgebot verhinderte dies. Nach der Veranstaltung strömten die Menschen auf den Hauptplatz. Malik folgte mit seinen Begleitern. Anhänger jubelten dem Politiker zu, drängten sich um ihn. Die Polizei wurde unruhig, wollte die Menge auflösen und die ungebetenen JKLF-Gäste wieder wegschicken. Hitzige Wortgefechte steigerten sich zu Handgemengen, die Sicherheitsbeamten begannen mit Stöcken auf die Menschen einzuschlagen. Malik wurde wütend, beschimpfte den anwesenden Oberkommandierenden der Polizei von Chadura. Der Kampf entbrannte jetzt auch um den JKLF-Chef. Schließlich wurde er verhaftet und im Bunkerwagen abtransportiert; davor rettete er noch meine Kamera, die mir ein Polizist entreißen wollte, als ich die Festnahme fotografierte. Einige Stunden später wurde er nach einigem Hin und Her wieder freigelassen.

Ein "normaler" Tag im Leben eines Separatistenpolitikers? Es kann auch anders ausgehen: So geschehen laut Zeitungsberichten am 3. Februar 2005, als die Polizei Malik während einer Demonstration bei Anantnag bewusstlos schlug und ihn trotz des Protestes von Passanten einige Stunden lang bei Minusgraden ohne medizinische Versorgung und Hilfeleistung auf dem Boden liegen ließ. Erst später wies man ihn auf Anweisung eines Polizeiarztes in ein Spital nach Srinagar ein.

Zivilbevölkerung unter Generalverdacht und entfesselte Kriegshunde

Besonders in abgelegenen Siedlungsgebieten tragen Korruption, Diebstahl, Raub und Erpressung durch Polizei und Armee tragen zur Unbeliebtheit der Sicherheitskräfte bei und machen vergessen, dass indische Truppen auch zur Entwicklung Kaschmirs beitragen, indem sie z.B. beim Straßen- und Brückenbau helfen, auf dem Land medizinische Versorgung anbieten und schulische Aktionen oder die rasche Hilfe bei Naturkatastrophen organisieren.

Am 31. Juli 2004 fuhr ich mit einer JKLF-Delegation zu einem kleinen Dorf in der Nähe von Pattan im Distrikt Baramullah. Vier Tage zuvor hatten dort indische Truppen unter dem Vorwand, Untergrundkämpfer hätten sich im Dorf verschanzt, zwei Häuser zerstört. Ich konnte mit den Betroffenen sprechen, da der Führer der Delegation dolmetschte. Nach anfänglichem Misstrauen ("Our eyes have seen, but our lipps are closed.") wurde ich von den Frauen des Dorfes zum Tee eingeladen und erfuhr ihre traurige Geschichte: Von Informanten unterrichtet, hatte die Armee das Dorf umstellt und zwei Häuser, in denen sich angeblich Widerstandskämpfer versteckt hielten, in den frühen Morgenstunden unter Beschuss genommen. Die geschockten zivilen Bewohner "durften" die Häuser verlassen. Ihren Beteuerungen, keinen Kämpfern Unterschlupf gewährt zu haben, wurde nicht geglaubt. Als Hausdurchsuchungen kein zufrieden stellendes Ergebnis brachten, schleppten die enttäuschten Soldaten alles, was ihnen von Wert erschien, ins Freie: Mobiliar und vor allem Bargeld und Goldschmuck, der von den Familien seit Jahren für die geplante Hochzeit der Töchter gesammelt worden war. Die Beute wurde von den Truppen abtransportiert, die zwei Häuser mit allem, was sich noch darin befindet (Hausrat, Kleidung, Schulbücher der Kinder) zerstört: Ein Haus bulldozerten die Soldaten bis auf die Fundamente nieder, das zweite zündeten sie an. Die ehemaligen Bewohner mussten hilflos zusehen, wie sie alles Hab und Gut verloren. Sie konnten nur ihr Leben und die Kleider, die sie auf dem Leib trugen, retten. In den Ruinen der Häuser wollen die Soldaten dann eine Leiche gefunden haben, angeblich einen Widerstandskämpfer. Der Dorfvorsteher schüttelte den Kopf. Nein, das sei ein ihm total Unbekannter gewesen, meinte er. Da habe die Armee wieder einmal irgendwo jemand umgebracht, den armen Kerl dann hergerichtet und die Leiche als "Beweis" zur Rechtfertigung für die Zerstörung und den Raub. nachträglich in eines der zerstörten Häuser "geschmuggelt". "Aber nichtsdestotrotz bin ich immer noch glücklich", sagte die Großmutter von zwei Mädchen, die mangels Schulbüchern und Unterlagen ihre Abschlussprüfungen erst ein Jahr später machen werden können: "Ich habe meine Ehre nicht verloren. Meine geliebten Schätze sind hier." – sie umarmt ihre Enkelinnen - "Sie wurden nicht vergewaltigt. Gelobt sei Allah der Barmherzige!"

 

Dieser Beitrag gehört zum Schwerpunkt: Menschenrechte in Indien .

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