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01. Februar 2008. Analysen: Kunst & Kultur - Weltweit Bollywood und Dangdut

Von der Slum-Ästhetik des Exzesses zur sauberen Familienromanze

Dangdut vereint indische Bollywood-Lieder mit malaiischen, nahöstlichen und westlichen Elementen. Austausch und Assimilierung finden einmal nicht vom vermeintlich alles dominierenden Westen in die nichtwestliche Peripherie, sondern zwischen nichtwestlichen Ländern statt.

Die Tempel Borobudur und Prambanan auf Java, balinesischer Hinduismus, im Schattenspiel Wayang Kulit bis heute immer wieder neu zum Leben erweckte Geschichten aus dem Ramayana und Mahabharata – der indische Einfluss ist in Indonesien allgegenwärtig und dem Archipel zwischen der malaiischen Halbinsel und Australien seit der Zeit des kolonialen Niederländisch-Indien auch im Namen eingeschrieben.

Doch während der historische Einfluss Indiens auf die Herausbildung religiöser, kultureller und politischer Strukturen der verschiedenen Völker des malaio-indonesischen Raumes in unzähligen wissenschaftlichen Arbeiten herausgearbeitet wurde, scheint das moderne Indien kaum noch prägenden Einfluss auszuüben. Das akademische Schweigen überrascht: Der indische Beitrag zumindest zu einer zentralen Form indonesischer Populärkultur, nämlich des im Inselreich allgegenwärtigen hybriden Popmusikstils Dangdut, wird zwar regelmäßig erwähnt, aber nicht weiter ausgeführt. Dangdut, so liest man immer wieder kurz formuliert, vereine in sich Einflüsse indischer Bollywood-Lieder mit malaiischen, nahöstlichen und westlichen musikalischen Elementen. Ein genauerer Blick auf die sich hier abzeichnenden Einflussströmungen ist bisher ausgeblieben. Sie verweisen auf lange unterschätzte Globalisierungsdynamiken, bei denen der populärkulturelle transnationale Austauschs- und Assimilierungsprozess einmal nicht vom vermeintlich alles dominierenden Westen in die nichtwestliche Peripherie, sondern zwischen zwei nichtwestlichen Ländern erfolgt.

Ein besonderes sinnliches Erlebnis in den Unterschichtkinos

Indische Filme stellen seit 1945 einen festen Bestandteil des modernen Vergnügungsangebots im unabhängigen Indonesien dar. Im Gegensatz zu westlichen Filmen fanden sie ihr Publikum jedoch vornehmlich in den unteren sozialen Schichten. In eher schäbigen Kinos der ärmeren Stadtteile gezeigt, boten sie ihren Zuschauern dennoch ein ganz besonderes sinnliches Erlebnis: auch ohne Untertitel oder Lesefähigkeit waren die stereotypen Handlungen leicht zu verstehen, das sentimentale Pathos typischer zwischenmenschlicher Konfliktkonstellationen allgemein nachvollziehbar, und die charakteristischen Lied-und-Tanz-Sequenzen luden als audio-visueller Höhepunkt zum Mitsingen und damit zur aktiven emotionalen Identifikation ein.

Die Popularität indischer Filme wirkte sich auch auf die in den 1950er Jahren im Entstehen begriffene indonesische Filmindustrie aus. Produzenten und Geldgeber waren zumeist chinesisch- oder, etwas seltener, indischstämmige Indonesier, deren ethnischer Hintergrund zusammen mit den dem lokalen Publikum bereits bekannten "typischen" indischen bzw. chinesischen Filmformen zu entsprechenden Produkten führte. Eine besondere Rolle nahm hier der Regisseur Djamaluddin Malik ein, der in den 1950er Jahren die außerordentliche Beliebtheit indischer und chinesischer Filme zum Anlass nahm, um lokale Versionen dieser Filme zu produzieren. In seinen PERSARI-Filmstudios arbeitete er zeitweise sogar mit einem eigens eingeladenen indischen Regisseur und indischen Technikern zusammen. Doch diese ersten nationalen Filmproduktionen waren aus Sicht der westlich orientierten urbanen Elite ebenso trivial und eskapistisch orientiert wie ihre Vorbilder. Es verwundert daher wenig, dass auch die indonesischen Produktionen zusammen mit indischen, chinesischen und philippinischen Filmen ihren Platz und ihre Fans hauptsächlich in den Unterschichtkinos fanden.

1991/92 strahlte TPI (Televisi Pendidikan Indonesia), der dritte private Fernsehsender Indonesiens, die indischen TV-Serien Ramayana und Mahabharata aus – und erzielte damit außergewöhnlich hohe Einschaltquoten von 48 bis 60. Rahmat Suardi von TPI erklärte die enorme Zuschauerresonanz der beiden Serien mit einem Hinweis auf die angeblich tief verwurzelte "kulturelle Ähnlichkeit" zwischen Indien und Indonesien. 1 An den unerwarteten Erfolg anknüpfend nahm TPI weitere indische Filme mit ins Programm. Ein anderer kommerzieller Sender, Indosiar, begann Mitte der 1990er Jahre ebenfalls mit der Ausstrahlung von Bollywoodfilmen. Das Stigma als vulgäres Unterschichtentertainment blieb allerdings: Bollywood galt als kampungan – "dörflich", peinlich, hinterwäldlerisch, geschmacklos und trivial, zumindest in den Augen der vornehmlich westlich orientierten, ängstlich um deutliche soziale Abgrenzung nach unten bemühten neuen Mittel- und Oberschichten der urbanen Metropolen.

Hartnäckiger Inbegriff all dessen, was in Indonesien seit Jahrzehnten als kampungan gilt, ist jedoch Dangdutmusik. Anders als Bollywoodfilme wird Dangdut trotz seiner engen Beziehung zu indischen Filmsongs als etwas Eigenes, "echt Indonesisches" angesehen: "Dangdut is the music of my country" hieß bezeichnenderweise einer der großen Hits der letzten Jahre. Als eines der ersten Dangdutlieder avant la lettre gilt das von Ellya Khadam (geb. 1938) gesungene Lied "Boneka dari India" (Eine Puppe aus Indien, 1956), das bereits in seinem Titel Indien als zentralen Bezugspunkt nennt. Dass es sich bei diesem Lied, inzwischen längst ein Klassiker modernen indonesischen Liedgutes, um eine Coverversion der Melodie des Hindi-Filmsongs "Sama Hai Bahar Ka" (Film Ashiana, 1952) handelt, ist heute kaum noch bekannt. Ellya Khadam, die auch in frühen Musical-Filmen auftrat und einen ausgeprägt "indischen" Performance-Stil zu ihrem Markenzeichen machte, erhielt im Jahr 2000 von TPI den "TPI Dangdut Award" für ihre Rolle bei der Entstehung von Dangdut als einem eigenständigen Musikstil.

Wie Dangdut zum wahren Kassenschlager wurde

Als eigentlicher "Vater" des neuen Genres und bis heute unbestrittener "Raja Dangdut" gilt jedoch Rhoma Irama. 2 Er war es, der populäre Hindisongs und malaiische Lieder mit westlichen Pop- und Rocksounds aufpeppte und Anfang der 1970er Jahre auch den auf leicht verächtlich-lautmalerischer Umschreibung des typischen Tabla-Rhythmus "dang-dang-dut" beruhenden Namen prägte. Mit der von ihm gegründeten Gruppe Soneta nahm er maßgeblich Einfluss auf den Sound des sich neu herausbildenden Genres. Eine nicht zu unterschätzende Rolle spielten hierbei auch seine Musikfilme, die sich explizit am Erfolgsrezept der beliebten Bollywoodfilme orientierten und zu wahren Kassenschlagern wurden.

Auch nach "Boneka dari India" blieb das imaginäre "Indien" der Bollywoodfilme eine ausgiebig genutzte musikalische und visuelle Inspirations- und oft auch Kopierquelle für neue Dangdutlieder. Einige der größten Dangduthits sind Coverversionen von Hindi-Filmsongs, wobei die indonesischen Liedtexte meist nichts mit denen der Originalversionen zu tun haben und viele Indonesier sich auch nicht darüber bewusst sind, dass es sich um Coverversionen handelt. So geht "Sifana" von Rhoma Irama zurück auf "Jeeye To Jeeye Kaise" (Film Saajan, 1991), und "Mabuk dan Judi" ("Trunkenheit und Spielsucht", gesungen von Cucu Cahyati Anfang der 1990er Jahre) ist eine Coverversion des Bhangra-Hits "Gur Nalon Ishq Mitha" von Malkit Singh. Seit dem Aufkommen von Videoclips Mitte der 1980er Jahre wurden viele Dangdutlieder zudem mit visuellen Szenen von opulenten orientalistischen Haremsphantasien aus 1001 Nacht und "exotischen" indischen Tänzerinnen unterlegt. Es war der schon erwähnte Bollywood-"freundliche" TV-Sender TPI, der auch zu den ersten indonesischen Fernsehstationen gehörte, die Dangdutmusik in ihr Programm aufnahmen, weitere folgten in den 1990er Jahren. Bollywood und Dangdut wurden in den nationalen Massenmedien zunehmend sichtbar und zum Thema medialer Diskurse, von intellektuellen Debatten bis zum üblichen Klatsch und Tratsch um Stars und Sternchen.

Rhoma Irama nutzte seine Popularität früh, um Dangdut auch als "The Sound of Islam" bzw. dangdut dakwah zu propagieren und zum Sprachrohr für eine religiös-moralisch inspirierte Sozialkritik zu machen. Von Rhomas dangdut dakwah abgesehen handeln allerdings so gut wie alle Dangdutliedtexte von (meist verlorener) Liebe und Beziehungsproblemen. Anders als der vom musikalischen Idiom her rein westliche Pop Indonesia nimmt Dangdut kein Blatt vor den Mund: Es geht neben den üblichen Liebesklagen durchaus auch um Armut, untreue Ehemänner, vermeintliche Junggesellen, unüberbrückbare Klassenunterschiede, Polygamie, Alkohol- und Spielsucht, ja sogar häusliche Gewalt ist kein Tabuthema. Dabei ist Dangdut trotz seiner oft explizit weiblichen Perspektive jedoch ebenso wenig wie Mainstream-Bollywoodfilme einem sozialkritischen Bewußtsein verpflichtet – im Gegenteil, es geht paradoxerweise um ein genußvoll-eskapistisches Sich-Hinwegtanzen über das in den Liedtexten häufig beklagte männliche Versagen. Denn anders als Pop Indonesia ist Dangdut vor allem Musik zum Tanzen, und die Liveaufführungen besonders auf kampung-Ebene sind berühmt-berüchtigt für die erotisch gewagten Hüftschwungvarianten mancher Sängerinnen. Deren Kapital liegt oft mehr in ihren Körperformen denn in ihren stimmlichen Fähigkeiten.

Die in den Augen der Elite so abstoßend-vulgäre Ästhetik von Dangdut und seinen Performancepraktiken, bei denen die unterschiedlichsten Elemente – tragische Liedtexte, mitreißender Rhythmus, erotische Sängerinnen, bizarre Kostüme, triviales Pathos, ständige Vermischung von Realität und Phantasie, sozialer Kritik und trivialen Klischees – ganz selbstverständlich Teil eines Ganzen bilden, ähnelt durchaus den typischen "masala-Zutaten" eines Bollywoodfilms: von allem etwas, alles möglichst dick aufgetragen, je mehr und farbenfroher, desto besser. Beide bieten eine Art "Slum-Ästhetik des Exzesses" an: Ein Exzess an emotionalem, auralem und visualem Erleben, bei Dangdut zusätzlich noch das Angebot der spontanen sinnlich-körperlichen Identifikation im Tanz. Ein praller masala-Mix also, der auf verschiedenen Ebenen der Signifikation unterschiedliche, ja widersprüchliche Bedeutungen zu vereinen vermag und gerade daraus seine unmittelbare sinnliche Fülle gewinnt.

Der große, alle sozialen Schichten übergreifende Durchbruch für Bollywood in Indonesien kam schließlich mit Kuch Kuch Hota Hai (im folgenden KKHH, 1998). Die Geschichte um die kleine Anjali, die den letzten Wunsch ihrer verstorbenen Mutter zu erfüllen sucht, nämlich ihren Vater mit seiner ersten großen Liebe aus Collegezeiten wieder zu vereinen, rührte die Herzen der indonesischen Zuschauer wie kaum ein anderer Bollywoodfilm. An Silvester 1998 wurde KKHH im Planet Hollywood Jakarta gezeigt, danach im Cineplex der luxuriösen Shopping Mall Plaza Senayan. Ende Juli 2001 hatte KKHH seinen Weg ins indonesische Fernsehen gefunden und löste einen wahren Bollywood-Boom aus. Bollywood war plötzlich "in", neue Infotainmentformate wurden von den TV-Sendern produziert, Bindi und Sari-Elemente wurden von der Mode aufgegriffen, und das KKHH-Lied war überall im Land zu hören, in seiner Originalversion sowie in unzähligen Coverversionen, in verschiedenen Lokalsprachen und unterschiedlichen Musikgenres. Die Tageszeitung Kompas sprach gar von einem "Indischen Film-Fieber". 3

Ein Hauptgrund für die neue Akzeptanz von indischen Filmen auch in den aufstrebenden Mittelschichten mag nicht zuletzt in der Weiterentwicklung von Bollywood selbst liegen. In bewusster Distanzierung zu den blutrünstigen Action-Schinken der 1970-und 80er Jahre entstanden in den 1990er Jahren Filme, die Patricia Uberoi als "romantic family drama" charakterisiert. Filme wie Hum Aapke Hain Koun…!, KKHH und Kabhi Khushi Kabhi Gham präsentieren "saubere" Beziehungsdramen in Oberschichtsfamilien, deren Mitglieder sich als erfolgreiche global players ebenso selbstverständlich im Westen wie bei opulenten arrangierten Hochzeitsfeiern bewegen. Die schmutzige, gewalttätige Unterwelt des "Slums" wird ausgeblendet, die Familie lebt in einer Welt westlicher Statussymbole, globaler Jugendkultur und internationaler Designer-Fashion und ist dabei doch tief verwurzelt in lokalen indischen Traditionen und Wertvorstellungen. Die in den Filmen entfalteten Konfliktkonstellationen kreisen um mögliche Formen der Vereinbarung von westlicher Moderne und Konsumismus mit lokalen Normen und Moralvorstellungen, also um Kernfragen der Sexualität, Familie und kulturellen Identität. Sie greifen jenseits der phantastisch-luxuriösen Oberfläche tiefliegende, oft ambivalente Wünsche, Ängste und Phantasien auf, in denen sich auch Indonesier aller Schichten leicht wiedererkennen können. Und das übliche Happyend macht optimistisch, denn es zeigt: Man kann also in der globalen Moderne erfolgreich sein und dabei doch weiterhin unverwechselbar indisch – und damit auch indonesisch – bleiben.

Inzwischen ist der Bollywood-Boom des Millenniumbeginns wieder etwas verebbt, derzeit stehen koreanische, japanische und taiwanesische TV-Dramen hoch im Kurs. Doch Bollywood wird mit Sicherheit auch weiterhin eine der vielfältigen Einflussquellen indonesischer Populärkultur bleiben, nicht zuletzt aufgrund seiner engen "verwandtschaftlichen" Beziehung zu Dangdut. 4

Fussnoten

[ 1 ] CP/BRE, "Tetangga Dekat Bernama Film India", Kompas, 13. Oktober 2002.

[ 2 ] Zu Rhoma Irama siehe William Frederick, "Rhoma Irama and the Dangdut Style: Aspects of Contemporary Indonesian Popular Culture", in: Indonesia 34 (1982), S.102-130.

[ 3 ] CP, "Sekarang Masanya Shahrukh Khan", Kompas, 3.11. 2002.

[ 4 ] Ein ausführlicher Artikel zu diesem Thema wird erscheinen als "Intimate Neighbours. Bollywood, Dangdut Music, and Globalising Modernities in Indonesia", in: Gopal, Sangita and Sujata Moorti (eds.), Global Bollywood: Travels of Hindi Song and Dance, University of Minnesota Press, Minneapolis (forthcoming).

 

 

(Der Beitrag ist Bestandteil der in einer Kooperation des Südasien-Informationsnetz mit der südostasien-Informationsstelle am Asienhaus Essen erschienen Ausgabe der Zeitschrift südostasien 4/2007.)

Dieser Beitrag gehört zum Schwerpunkt: Südasien und Südostasien .

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