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Mutter Indien als Geburtshelferin des Weltkulturerbes in Südostasien. Bagan in Burma, Angkor in Kambodscha und die Tempelanlagen in Indonesien, der buddhistische Borobudur und der hinduistische Prambanan auf Java als die eindrucksvollsten, gehören zu den bedeutendsten Zeugnissen dieser Inspiration aus dem Subkontinent.
Der Aufbruch nach Südost lässt sich entlang der indischen Ostküste an vielen Orten lokalisieren. Paradeep im Bundesstaat Orissa beispielsweise. Heute ist er einer der größten Häfen Indiens, stetig ausgebaut, mit Computern ausgestattet. Hier werden Phosphate verladen, Sulfate, Eisenerzeugnisse, Kohle, Düngemittel. Gerade läuft ein Containerschiff von der Länge eines Fußballfeldes ein, von Funktionalität und perfekter nautischer Technik gesteuert. Das ist Gegenwart. Doch ein ganz anderes Meeresgefährt mag einem da in den Sinn kommen. Es kämpft gegen die Stürme an, die Segel straff gespannt. Mit aller Kraft rammt sich das Boot in die Wellenberge. Ganz aus Holz ist es gefertigt, von keinem Nagel zusammengehalten, sondern von Tauen aus Kokosnussfasern umschlungen. Die Männer an Bord klammern sich an Masten und Reling fest. Gesteuert wird achtern mit Seitenrudern. Ausleger geben Halt. Und doch wirkt das Boot zerbrechlich, eher das Skelett eines Schiffskörpers denn ein massiver Rumpf. Mehr als 1.200 Jahre ist es alt. Auf den Steinreliefs des Borobudur im zentralen Java ist es zu sehen: etwa 4.000 Kilometer südöstlich von Paradeep entfernt.
Der buddhistische Tempelberg im heutigen Indonesien breitet an seinen Sockeln und Pilgerwegen rund um den einzigartigen Stupa die legendären Begebenheiten der Wiedergeburten des Siddharta Gautama aus, der zum Erwachten wurde, zum Buddha. In den sich über Hunderte von Metern erstreckenden Reliefs öffnet sich ein Bilderbuch von erstaunlich detailgetreuen Alltagsszenen der ersten Jahrhunderte unserer Zeitrechnung. Das steinerne Boot gehört dazu. Mit solchen Schiffen waren die Menschen unterwegs von Küste zu Küste und segelten die Landlinien entlang. Auf solchen Planken wurden Schmuck, Edelsteine, Stoffe, Seide von Indien ostwärts verfrachtet und Schildplatt, Kampfer, Benzoe, Gewürze, Arzneien der Tropen als Tauschobjekte heimgebracht. Leichtgewichtige Güter, der geringen Lademöglichkeit entsprechend, doch edel und wertvoll beim Weiterverkauf. Es waren Luxusartikel für die Oberschichten beiderseits der Küsten. Indes: Mehr noch und folgenreicher als materielle Handelsware gelangte auch der Geist der Zeit über den Horizont hinaus und trug zur Entwicklung Südostasiens wesentlich bei.
Die Beziehungen haben eine lange Geschichte. Schon zu Zeiten des Königs Ashoka zwischen etwa 268 und 231 vor unserer Zeit, wahrscheinlich bereits davor, 2.500 Jahre zurückreichend, wurden am Strand von Paradeep die Schiffe aufgetakelt und mit Wasser und Proviant ausgestattet, unter deren Segeln die Händler, Seeleute, Abenteurer in ungewisse Weiten eintauchten. Das vermeintliche Ende der bekannten Welt war stets Herausforderung gewesen, der Drang, über deren Grenzen hinaus zu gelangen, unwiderstehlich. Nie war das Meer wirkliches Hindernis. Mit dem saisonal wechselnden Monsun trieben die Segel in die Ferne und nach Monaten in die Heimat zurück. Die Winde der Wiederkehr und deren Regelmäßigkeit zu nutzen, war eine der großartigen Entdeckungen gewesen; die Schiffe so auszurüsten, dass sie den Monsunkräften folgen konnten, wurde eine der die Geschichte und Kulturen Südostasiens gestaltenden Leistungen.
Das Schiff in den Reliefs des Borobudur ist ein Schlüsselmotiv zum Verständnis dafür, wie Tausende von Kilometern entfernt vom nördlichen Indien im Geiste Shivas und Buddhas der Aufstieg von Königreichen und Dynastien beflügelt wurde. Mutter Indien sandte ihre Boten über die Meere, und während der Wartezeiten auf bessere Winde tauschten sie Waren aus und berichteten von den indischen Weisheiten, trugen die hinduistischen Götter weiter und verkündeten die buddhistische Weltsicht, und beides fiel auf fruchtbaren Boden hinter jenem Horizont, der beispielsweise von Paradeep zu sehen ist. Als Buddhas Lehre im Ursprungsland längst vergessen war, blühte sie weiter in überseeischer Ferne.
Mit der Ausnahme südindischer Invasionen und Überfälle auf die Nachbarinsel Sri Lanka ging von der ostindischen Küste keine kriegerische Streitmacht aus. Nicht Schiffe der Eroberung wurden in die Wellen gestoßen, sondern Gefährten der See mit Menschen friedlicher Absichten, Kaufleute, Mönche, Brahmanen, Gelehrte, Flüchtlinge. Sie fuhren hinaus aufs Meer und suchten Gold, waren an Austausch interessiert, an Geschäften und an der Weitergabe religiöser Vorstellungen.
Sri Lanka, Burma, Thailand, Kambodscha, Laos, Vietnam, die malaysische Inselwelt, Indonesien. Von der indischen Ostküste wurden sie angesteuert und einbezogen in den indischen Kulturkreis. Mutter Indiens entfernte Verwandte im Geiste wuchsen heran, kopierten nicht einfach die Vorbilder, sondern formten aus den frühen Anregungen bodenständige Kulturen und schufen buddhistisch und hinduistisch inspirierte Kunstwerke eigener Art. Auf den ersten Booten drängten sich ein paar Dutzend Männer zusammen. In den frühen Jahrhunderten unserer Zeitrechnung wurden schließlich Schiffe gebaut, die bereits 200 Passagiere aufnehmen konnten. Ziemlich sicher ist, dass nicht nur indische Segel ostwärts gerichtet waren, sondern ähnliche Schiffe von dort her aufkreuzten und an indischen Gestaden landeten. Eine unerhört fruchtbare und folgenreiche Wechselbeziehung. Indien war zweifellos sehr der gebende Teil mit den einflussreichen geistigen Impulsen nach Übersee. Doch die Handelsgüter, die von dort nach Indien gelangten, vermehrten das Ansehen der Oberschicht, bereicherten die Hofhaltung und stärkten damit das politische Gewicht der jeweiligen Herrscher.
Zu Beginn unserer Zeitrechnung war in der Nachfolge Kaiser Ashokas, der das erste indische Großreich begründet hatte, die innere Ordnung der indischen Staaten gefestigt, die untereinander konkurrierten und sich bekriegten und von Königen regiert wurden, deren Aura sowohl weltliche wie religiöse Autorität vereinte. Dieses politische System und die kulturelle Vielfalt strahlten weit über die Grenzen des Subkontinents hinaus. Die Vermittler auf den schwankenden Schiffen trugen eine Ahnung von den Wundern Indiens nach Südostasien: Berichte von einem hierarchisch aufgebauten Staat, an dessen Spitze ein machtvoller Alleinherrscher regierte; Erzählungen von sakralen Bauwerken wunderbarer Ausmaße; Mitteilung davon, wie Gedanken, Befehle, Wissen in Zeichen einer Schrift zu bannen sind. Über Tausende Kilometer des Indischen Ozeans (bezeichnend der Name), der Malakka-Straße, des Südchinesischen Meeres, mit Zwischenstationen an den Küsten Javas, Sumatras, sprang ein Funke von epochalem geistesgeschichtlichen wie machtpolitischen Format über.
So entstanden Niederlassungen mit indischer Besatzung; es kam zu Einheiraten in bodenständige Familien, die im eigenen Interesse die Kastenvorstellungen der Inder übernahmen und somit neue Oberschichten bildeten. Die Kulturen vermischten sich. Mit Beginn des ersten Jahrhunderts setzte ein, was für Südostasien bis in die Gegenwart hinein bestimmend werden sollte: In vorhandene Lebensweisen wurde nur das übernommen, was mit den lokalen Bedürfnissen in Einklang zu bringen war, das heißt natürlich in besonderer Weise: mit den Bedürfnissen der Oberschicht. Das Nebeneinander hinduistischer Kulte und verschiedener buddhistischer Schulen war möglich; niemand musste den alten, gewachsenen Stammesreligionen mit Ahnenverehrung und Schamanentum abschwören; Adat als überliefertes Recht blieb bestehen. Kein eifernder Bonifazius fällte mit der Axt und der Anmaßung, die einzig gültige Wahrheit zu besitzen, einheimische Bäume volkstümlichen Glaubens.
Selbstverständlich ging es auch um Macht und Politik. Mit der aus Indien übernommenen Gleichsetzung von Gott und göttlicher wie weltlicher Autorität konnten sich die nun aufstrebenden neuen Herrscher über die Stammesverbände stellen und ein Herrschaftsprinzip durchsetzen, das für die folgenden Jahrhunderte bestimmend wurde. Schon Kaiser Ashoka nutzte in seiner Regentschaft verbindend Politik und Religion als Machtinstrument und erhob den Buddhismus gewissermaßen zur Staatsdoktrin und schickte seinen eigenen Sohn als buddhistischen Sendboten nach Sri Lanka. Mit dem adaptierten Geist Indiens erstarkten zuerst die Fürstentümer an den Küsten, wo mit der Kontrolle des Seehandels und der eigenen Beteiligung daran die materielle Grundlage für die Machtausübung gegeben wurde. Aus einer Reihe rivalisierender lokaler Machtzentren behauptete sich schließlich Srivijaya als erstes buddhistisches Großreich, das in die Geschichte Südostasiens einging. Vom Ende des 7. Jahrhunderts bis hinein ins 13. konnte es seine Stellung halten. Das Zentrum lag (vermutlich) in der Nähe der heutigen Stadt Palembang am geschützten Oberlauf des Musi-Flusses im Südosten Sumatras. Die militärisch-politische Autorität Srivijayas wurde von tributpflichtigen Fürsten in weiten Teilen Südostasiens anerkannt. Jahrhunderte lang war Srivijaya der Machtfaktor Nummer eins und bot mit seiner Hauptstadt ein bedeutendes buddhistisches Geisteszentrum, dessen Gelehrsamkeit und religiöse Ausstrahlung in ganz Süd- und Südostasien berühmt waren. Srivijaya bildete keinen Territorialstaat mit zentralistischer Verwaltung und wirksamen Einzugsinstrumenten seiner Tributforderungen, es war vielmehr ein see-orientierter Stadtstaat mit "Filialen", die vom Zwischenhandel profitierten und mit militärischer Gewalt den Anspruch von Zoll und Vasallentreue durchzusetzen vermochten. Die Grenzen zwischen staatlich legitimierter Macht und nomadisierendem Seepiratentum waren buchstäblich fließend. Später bildeten sich auch Binnenmächte heraus wie die Sailendra-Dynastie im zentralen Java, die Khmerreiche in Kambodscha und Champa im südlichen Vietnam, schließlich Siam, das spätere Thailand, und Burma. Allen gemeinsam ist, dass sie ihre geistige und religiöse Stärke aus dem Erbe Indiens bezogen. So entstand in Südostasien ein kultureller Großraum mit gleichen Wurzeln, aus denen eigenständige Machtzentren und Kulturen erwuchsen.
Was daraus erblühte an Staaten und Königreichen, war nicht immer von langer Dauer, war von Rivalitäten und Kriegen erschüttert. Auch Buddhisten, auf Gewaltlosigkeit eingeschworen, brachten sich gegenseitig um. Die Gräuel der Roten Khmer in Kambodscha sind das grausamste und jüngste Geschehnis solcher Entartung; die Überfälle der Burmesen auf thailändisches Gebiet und thailändische Angriffe auf Laos, allesamt Länder mit buddhistischem Hintergrund, reichen weiter in die Geschichte zurück. Gleichwohl hat sich gerade in diesen Staaten Buddhas Geist am dauerhaftesten erwiesen und der Religion standgehalten, die nach der ersten Jahrtausendwende die Entwicklung der anderen Regionen Südostasiens bestimmte – der Islam.
Schon in den ersten Jahrhunderten nach Mohammeds Tod, im Jahre 632, kreuzten persische und arabische Händler in den Archipelen Südostasiens auf, um sich an den lukrativen Geschäften zu beteiligen, die zuvor chinesische und indische Kaufleute und Seefahrer angelockt hatten. Bei diesen frühen Kontakten machte offenbar keiner der Muslime einen nachhaltigen Versuch, die Religion mit dem monotheistischen Gott – etwas Neues in der damaligen südostasiatischen Welt des Glaubens – zu verbreiten. Dafür war deren Anzahl zu gering; und außerdem dürften Zeit und Aufnahmebereitschaft noch nicht reif gewesen sein, weil die Schicht, die wesentlich zum Träger des Islam werden sollte, sich erst herausbilden musste: die Schicht der einheimischen Kaufleute.
Mit den Handelsverbindungen über Land, den berühmten Seidenstraßen bis China, fand der Islam einen Weg der Verbreitung in Zentralasien. Aber wiederum spielte auch das Meer eine wichtige Rolle der Vermittlung. Im 13. Jahrhundert war das nordwestindische Gujarat islamisch geworden; und mit den indischen Muslimen hatte die neue Religion bald erfolgreiche Propagandisten auch in Südostasien. Durch sie war der Islam in Asien aufgenommen worden, hatte bereits im indischen Kulturkreis eine gewisse Anpassung vollzogen und traf nun im Norden Sumatras und entlang der Straße von Malakka willige Gefolgsleute. Abermals waren es die Küstenbereiche, deren Herrscher und Händler und folgend deren Bewohner aufgeschlossen und weltoffen den geistigen die materiellen Austausch ermöglichten. Geschäft, Politik und Islam gingen eine enge Verbindung ein. In Malaysia, Indonesien, in Brunei und den südlichen Philippinen vor allem und bis heute.
Wie ein Jahrtausend zuvor der Politik und Kultur inspirierende Geist Shivas und Buddhas bedeutete nun Islam gesellschaftspolitischen Fortschritt, um es mit einem modernen Begriff zu benennen. Islam in jenen Anfängen war nicht fremdbestimmte Forderung nach Abgaben und Gütern und Unterwerfung unter eine ferne Krone, wie später das Christentum es durch seine Abgesandten verlangte; Islam schuf eigenständige Identität und brachte praktische Neuerungen bei Technik, Verwaltung, Rechtspflege, Wissenschaften.Eine merkwürdige historische Parallele: Wie einst buddhistische und hinduistische Glaubenssätze und Kulte aus dem indischen Subkontinent nach Südostasien getragen wurden und dort Hochkulturen begründeten, so war es, mehr als ein Jahrtausend später, wiederum Indien, das befruchtende Glaubensströme weitergab, die nun mit anderen Inhalten und Folgen eine neue Epoche in der Geschichte der Region einleiteten. Ohne Mutter Indien und ihren Einfluss sind eben diese Geschichte und deren Auswirkungen für die Gegenwart gar nicht zu verstehen.
(Der Beitrag ist Bestandteil der in einer Kooperation des Südasien-Informationsnetz mit der südostasien-Informationsstelle am Asienhaus Essen erschienen Ausgabe der Zeitschrift südostasien 4/2007)
Dieser Beitrag gehört zum Schwerpunkt: Südasien und Südostasien .
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Im Geiste Shivas und Buddhas