Inhalt

22. April 2015. Rezensionen: Indien - Politik & Recht Highway 39

Reportagen aus Indiens aufständischem Nordosten

Der Draupadi Verlag hat das 2012 in Indien in Englischer Sprache erschienene Buch „Highway 39“ von Sudeep Chakravarti jetzt auf Deutsch vorgelegt. Endlich gibt es ein informiertes deutschsprachiges politisches Buch über den Nordosten Indiens.

Cover Highway 39
Foto: Draupadi Verlag

Der Autor ist ein politischer Journalist, der bisher u.a. für seine Bücher über den Kaschmirkonflikt und die Unterdrückung der maoistischen Rebellen in abgelegenen, ressourcenreichen Regionen Indiens bekannt wurde. Er schreibt über die Auseinandersetzungen und Kämpfe in den vergleichsweise wenig bevölkerten Bundesstaaten Nagaland (1,3 Millionen Einwohner) und Manipur (2,5 Millionen Einwohner), zum Teil werden auch Assam, Mizoram und Arunachal Pradesh in die Darstellung einbezogen.  Gemeinsam mit den Bundesstaaten Meghalya und Tripura bilden sie die „ sieben Schwestern“, wie die nordöstlichen Bundesstaaten in Indien auch genannt werden. Den Hintergrund für eine andauernd hohe Anzahl an bewaffneten Konflikten, Menschenrechtsverletzungen und einen hohen Blutzoll der Bevölkerung bildet geopolitisch der Widerhall des indisch-chinesischen Krieges von 1962 um die Region und die heutige Rivalität der beiden asiatischen Riesenländer. Zentrale Problemfaktoren sind die kaum zu kontrollierenden  Grenzen insbesondere nach Bangladesch und Burma mit ihrem Drogen-, Waffen- und Menschenschmuggel, eine Bevölkerung bestehend aus Dutzenden kleinerer und größerer ethnischer Gruppen, die ihre Unabhängigkeit von Indien in je eigenständigen Szenarien über ihre politische Zukunft anstreben sich aber zugleich untereinander an überkommenen Stammesfehden aufreiben. Über allem wölbt sich die wenig glückliche Politik der indischen Zentralregierung.

Sudeep Chakravarti nähert sich der Darstellung der Konflikte in und um Nagaland und Manipur auf dem titelgebenden „Highway 39“. Er führt vom mächtigen Brahmaputra-Fluss im Norden im Bundesstaat Assam durch Nagaland bis in das Städtchen Moreh im Süden Manipurs an der Grenze zu Burma. Die Straße ist eine Schlaglochpiste, aber dennoch die Hauptschlagader dieser 2000 km von Indiens Hauptstadt Delhi entfernten Bundesstaaten. Wer den Highway blockiert, behindert die Versorgung der Bevölkerung, stört Handel und Wirtschaft und unterbindet die Bewegungsfreiheit von Behörden und Militärs.  An ihm liegen die wichtigen Länderhauptstädte Dimapur und Imphal, aber auch die Militärcamps der indischen Armee, die der berüchtigten Sonderpolizeitruppe „Assam Rifles“, die bundesstaatlichen Polizeikasernen genauso wie die Militärlager der Untergrundarmeen und -milizen der Nagas, der Meiteis, der Kukis und anderer ethnischer Gruppen.

Von Nord nach Süd fahrend erzählt der Autor mit profundem Detailwissen über die politischen Strategien der zentralen Akteure am Wegesrand. Die indische Zentralregierung will das Streben nach Unabhängigkeit in der Region aus geo- und aus ressourcen-politischen Gründen unter Kontrolle halten. Die Staatsregierungen und politischen Parteien leisten einen anstrengenden Spagat zwischen der Unterordnung unter den Willen Delhis und den Unabhängigkeitsbestrebungen ihrer multiethnischen Bevölkerungen. Deren politische Vertretungen und Untergrundarmeen haben sich in ihrem Streben nach Unabhängigkeit trotz der Übermacht der indischen Armee einstweilen auf eine Politik der Existenzbehauptung und militärischen Nadelstiche verlegt. Und alle mästen sich an den reichlich fließenden Finanzströmen für die Entwicklung der Region, die daher nie stattfindet. Investitionen in die Infrastruktur und die Entwicklung der Wirtschaft, den Gesundheitssektor, die Bildung und die Kultur stehen auf dem Papier, nichts davon erreicht die Bevölkerung oder schafft  Zukunftsperspektiven.

Der Autor berichtet über die Herausbildung der Untergrundbewegungen, ihre Spaltungen und inneren Konflikte und immer wieder von Menschenrechtsverletzungen, oft begangen von den „Assam Rifles“, aber auch von der lokalen Polizei oder Einheiten der indischen Armee unter dem Schutz des „Armed Forces Special Power Act“ (AFSPA).  Der AFSPA ist ein Gesetz der Indischen Union, verabschiedet in den 1960er Jahren, das den Soldaten und Polizisten Immunität sichert und so auch bei Tötung, Vergewaltigung, Folter, Entführung und Erpressung Straflosigkeit garantiert. Da war z. B. der völlig grundlose Mord an Sanjit und Rabina in Imphal, der Hauptstadt Manipurs am 23.9.2009, zwei jungen Leuten, die tragischer weise zur falschen Zeit am falschen Ort waren. Aus Protest blockierten die Untergrundgruppen wochenlang den Highway 39 um den Ministerpräsidenten  von Manipur, Ibobi Singh, zum Rücktritt zu zwingen - erfolglos. Er ist heute noch im Amt. Auch ist der Kampf gegen den AFSPA bisher nicht voran gekommen. Er ist nach wie vor in Kraft.

Sudeep Chakravarti stellt die komplexen Entwicklungen auch in den Kontext der Geschichte Indiens, wie z. B. die Eroberung des uralten Königreichs Manipur durch die Briten Mitte des 19. Jahrhunderts. Er erzählt von der arroganten Behandlung und der politischen Abfuhr, die der damalige Naga-Führer Zapu Phizo von Premierminister Jawaharlal Nehru am Beginn der indischen Unabhängigkeit erfahren hat oder berichtet über die Schaffung des Bundesstaates Nagaland 1963, nach langen Kämpfen der Untergrundarmee der Nagas gegen das indische Militär. Er geißelt die schlechte Wirtschafts- und Entwicklungspolitik und die Förderung der Korruption durch die indische Regierung. Er kann keinerlei positive Auswirkung darin erkennen, dass diese Bundesstaaten keine Steuern an die indische Regierung abführen müssen und alle Entwicklungsmaßnahmen voll aus der Staatskasse der indischen Union finanziert werden. Im Gegenzug haben sie auch keinerlei Einfluss darauf, welche wirtschaftlichen oder infrastrukturellen Investitionen in Angriff genommen werden und kein Interesse an der Eindämmung der Korruption, weil die Mittel ja nicht aus eigenen Steuern stammen, sondern eben Gelder sind, die der verhassten indischen Regierung gehören.

Highway 39 - Straßenansicht
Der Highway 39 stellt die verkehrstechnische Hauptschlagader des Nordostens Indiens dar. Foto: Brot für die Welt - EED

Indien hat separate Waffenstillstandsabkommen zum Beispiel mit den Nagas (1997) abgeschlossen. Die aber sind politisch zersplittert und fühlen sich keineswegs alle an das Abkommen gebunden. Auch erstreckt sich das Abkommen nicht auf alle von den Nagas bewohnten Gebiete. Die Nagas wollen die Unabhängigkeit in einem eigenen Staat „Nagalim“ erreichen, gebildet aus Naga-Gebieten jenseits der Grenze in Burma, aus mehrheitlich von Nagas bewohnten Distrikten der Bundesstaaten Manipur und Assam und von Nagaland. Das kollidiert scharf mit den Interessen Indiens, Burmas, Assams und Manipurs und der meisten anderen ethnischen Gruppen in der Nordostregion Indiens. Überlegungen Indiens in den 1990er Jahren ein größeres indisches Nagaland zu schaffen, haben im alten Königreich Manipur zu Unruhen mit vielen Toten geführt.

Sudeep Chakravarti interviewt wichtige Entscheidungsträger, die etwas in der Region zu sagen haben. Die wichtigen Generäle der Armee, Offiziere der Assam Rifles, leitende Beamte der Staatsregierungen, auch die Chefs der Untergrundarmeen und –milizen. Er trifft sich mit Zeitungsleuten, mit NGOs, Musikern und Dichtern, mit den Heroen der Unabhängigkeitsbewegung aus der Generation der Großväter und -mütter und mit vielen hoffnungsvollen jungen Leuten, die sich fragen, ob sie je in Frieden und Freiheit leben werden.

Das zweifelsohne interessanteste Interview führt er mit Thuingaleng Muiwah, dem Generalsekretär des National Socialist Council of Nagaland - Isak/Muivah. Onkel Muivah, wie der genannt wird, ist zwar umstrittenen, aber sicherlich der einflussreichste politische Führer der Nagas. Er lebt als Gast der indischen Regierung in einem ihrer Gästehäuser in Delhi. Er sagt, Nagaland hat nie zu Indien gehört und eine Lösung des Konflikts könne es nur geben, wenn sie für beide Seiten ehrenhaft und akzeptabel ist. Er mahnt Indien, dass es für die Nagas auch China und Burma als Bündnispartner gibt und gießt damit Öl ins Feuer. Selbstbewusst sagt er, Frieden wird es nur geben, wenn die Nagas Frieden wollen, sonst gibt es Krieg.

Hügel im Nordosten Indiens
Foto: Brot für die Welt - EED

Man kann dem Buch ankreiden, dass es sich allzu sehr auf die Nagas konzentriert. Es gibt auch andere ethnische Gruppen, z.B. die Meitei oder die Kukis, die von sehr unterschiedlichen Ausgangssituationen aus aber trotzdem machtvoll an den politischen Auseinandersetzungen teilnehmen. Man kann auch kritisch anmerken, dass der Autor die soziale und die wirtschaftliche Analyse und die zentralindische Ressourcennutzung der Region vergleichsweise stiefmütterlich behandelt. Die Ausbeutung von Bodenschätzen wie Öl und Gas, die über Hundert geplanten Wasserkraftwerke, deren Strom nach Zentralindien abfließen soll, sowie die damit verbundenen Umsiedlungen, ökologischen Schäden und die Auswirkungen auf die Bevölkerung werden eher am Rande erwähnt.

Stattdessen macht der Autor es sich zur Aufgabe, Nagaland und Manipur aus der  sozio-kulturellen Perspektive seiner Menschen zu betrachten. Er hat sich ohne Zweifel in die Region und ihre Bevölkerung verliebt. Und so findet er auch keinen Ausweg aus dem Dilemma, dass er die Menschen und ihren Traum von der Unabhängigkeit bestens verstehen kann. Folgerichtig argumentiert er politisch auch in diese Richtung. Gleichzeitig kann er sich als patriotischer Inder aber nicht vorstellen, sie aus dem indischen Staatenbund zu entlassen.

Insgesamt legt Sudeep Chakravarti mit Highway 39 für politisch und regional Interessierte ein lesbares und sehr informatives Buch zur Einführung in die Region vor. Auf den ersten hundert Seiten hätte ihm manchmal eine mutigere, freiere Übersetzung gut getan - danach wird sie stellenweise richtig gut - und am Ende wäre ein Sachwortregister hilfreich für raschen Rückbezug auf Themen und Abkürzungen. Wenn es weitere Auflagen gibt, was man dem Buch wünschen sollte, muss der Verlag das unbedingt berücksichtigen.


Sudeep Chakravarti:
Highway 39,
Reportagen aus Indiens aufständischem Nordosten
370 Seiten, 24,80 Euro
Draupadi Verlag
ISBN 978-3-937603-95-7

 

Kommentare

Als registriertes Mitglied können Sie einen Kommentar zu diesem Beitrag verfassen.