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01. Juni 2015. Rezensionen: Geschichte & Religion - Indien Tribale und weltreligiöse Frömmigkeitswelten Odishas in Geschichte, Gegenwart und Farbe

Rezensionen: The Divine Play on Earth & Die vertauschten Götter

Cornelia Mallebrein hat in jahrelangen Forschungen vor Ort einmaliges Bildmaterial produziert, das sich kein Indienbegeisterter entgehen lassen sollte. Vorgestellt werden zwei ihrer Publikationen, die beide die Formate Bildband und indologische Fachpublikation auf höchstem Niveau vereinen.

Cornelia Mallebrein & Heinrich von Stietencron (2008): The Divine Play on Earth: Religious Aesthetics and Ritual in Orissa.

Der erste Band ist mit fast 300 Farbabbildungen in englischer Sprache erschienen. Der mittlerweile emeritierte Tübinger Indologieprofessor Heinrich von Stietencron verfasste sechs Unterkapitel. Ein weiteres Unterkapitel von Angelika Malinar, Professorin für Indologie in Zürich, analysiert die Entwicklungen der Caitanya Tradition in den Küstengebiete Odishas. Inhaltlich fokussiert dieser Band die Interaktionsprozesse zwischen den sanskritischen, dörflichen und tribalen Religionserblinien anhand dichter Beschreibungen zentraler Jahresfeierlichkeiten und des Ritualwandels.

Schamanin mit Zigarre
Lanjia Sora Schamanin mit Zigarre (Bd. 1, S. 16) Foto: Cornelia Mallebrein

Das Buch beginnt mit einer landeskundlichen Einführung. Odisha ist etwa halb so groß wie Deutschland und insbesondere seine Bergregionen sind die Heimat für 62 tribale Völker. Klassisch gilt Odisha als das Land der Elefanten, die hier für Militär- und Arbeiterdienste trainiert wurden und über Jahrhunderte ein zentrales Exportgut darstellten. Religionsgeschichtlich hat Odisha eine hochdynamische Vergangenheit. Unterschiedliche Strömungen des Shivakultes wurden vom sechsten bis zum zwölften Jahrhundert von Herrscherdynastien gefördert. Neben orthodoxen Shaivas wie den Somavamshis gab es auch die tantrischen Praktiken der Bhauma-Karas. Waren die Pashupatas zunächst antibrahmanisch und unorthodox (z.B. Einreiben des Körpers mit Asche zur Symbolisierung der eigenen Sterblichkeit), wurde Shiva ab dem zehnten Jahrhundert orthodoxer – d.h. die blutrünstige und dämonentötende Durga-Mahishasuramardini wurde zunehmend durch die deutlich charmantere Ehefrau Parvati ersetzt. Auch versuchte die Somavamshi-Dynastie die Verschmelzung von Shiva und Vishnu voranzutreiben und förderte Lingaraja-Tempel für Harihara, halb Shiva, halb Vishnu. Die mittelalterliche tantrische Geheimsekte der 64 Yoginis hat mindestens drei Tempelanlagen in Odisha und in Gesamtindien haben sich nur sehr wenige erhalten. Die Verehrung der Yoginis hatte im neunten und zehnten Jahrhundert ihren Höhepunkt und war v.a. in Odisha und Madhya Pradesh verbreitet. Ihre acht Mütter symbolisieren die acht Grundlaster (oder Todsünden) des Menschen und man erzählt sich, dass sie nachts als blutgierige Hexen männervergewaltigend um ihre dächerlosen Tempelanlagen herumfliegen.

Dadhibamana
Dadhibamana, Krishna alleine aus der Jagannathtriade nebst Abbildungen von Caitanya und seinem älteren Bruder Nityananda im Jagannathtempel in Borikel. (Bd. 1, S. 123) Foto: Cornelia Mallebrein

Der Jagannath-Tempel machte Puri später zum bedeutensten Pilgerort an der Ostküste. Der große Vaishnavaheilige Shri Caitanya (1486-1534) verbrachte hier sein Leben prägende Jahre. Der Ekstatiker predigte liebende Hingabe zu Gott Krishna durch Lobpreis der göttlichen Namen in Meditation, Gesang und Tanz. Durch sein Vermächtnis wurde im sechszehnten Jahrhundert das Vaishnavatum dominante Religion in den Küstengebieten. Der Erfolg des Krishnaismus popularisierte dann auch die Identifikation von Jagannath mit Krishna. Der Durga-Kult hat ebenfalls tiefe Wurzeln und allein in Odisha gab es flächendeckend die Tradition des Menschenopfers (balijena) zu ihren Ehren.

Prozession für Göttin Bhagavati
Anstelle des Menschenopfers für die Göttin Bhagavati wird in Banpur eine Ziege geköpft und ihr toter Kopf dem symbolischen Menschenopfer in die Hand gegeben, dessen "lebloser Körper" in einer Prozession herumgetragen wird. (Bd. 1, S. 56) Foto: Cornelia Mallebrein

In Banpur wird das Menschenopfer noch symbolisch vollzogen; sonst sind mittlerweile auch Tieropfer in den großen Haupttempeln tabu. Nach dem Beginn der muslimischen Herrschaft in Nordindien flohen zahlreiche Brahmanen nach Odisha, wo sie großzügig willkommen geheißen waren. Dies begünstigte diejenigen identifikatorischen Integrationsprozesse, durch die sich tribale Gottheiten an den kodifizierten Hinduismus anbequemen: Die zügellosen Eigenschaften der Gottheit werden gezähmt, ihr Blutdurst und Verlangen nach Fleisch wird mit Kokosnussmilch und Kürbissen befriedigt. Zu gegebener Zeit wird ihr Medium durch einen brahmanischen Hindupriester ersetzt; durch den Wegfall des Mediums verliert die Gottheit häufig ihre Funktion als gesundheitlicher Heilsbringer. Wenn politische Hindunationalisten für diese Götter große Zementtempel errichten, können auf dem Marmorboden auch keine Büffelopfer mehr durchgeführt werden. Nationale Kampagnen gegen Tieropfer befördern auch in der Gegenwart die Sanskritisierung tribaler Götter.

Büffelkopf als Dankesgabe
Der Kopf des als Dankesgabe der Göttin Tara-penu geopferten Büffels wird als Trophäe auf einem Pfahl ausgestellt. (Bd. 1, S. 202) Foto: Cornelia Mallebrein

Neben Opferritualen werden Schaukelfeste und religiöse Prozessionsfeiern der diversen Gottheiten detailliert beschrieben und anschaulich porträtiert. Der mobile Altargestalt (calanti pratima) kommt in unterschiedlichen Kontexten zentrale Bedeutung zu. Dem Wagenfest des wichtigsten Landesgottes Jagannath, dem Herrn der Welt, verdanken wir das englische Wort juggernaut. Ein anderes Beispiel ist das Mandei-Fest, das ist die jährliche Zusammenkunft verschiedener regionaler Dorfgötter, die zusätzlich durch ein menschliches Medium (sirha) präsent sind. Der Götter Medien demonstrieren die Präsenz der Gottheit in ihnen z.B. durch das Sitzen auf einem Nagelstuhl oder bei Stammesgottheiten durch das Trinken des Blutes der Opferziege. Der Zustand der Trance spielt auch in Heilungsriten eine zentrale Rolle. Die Medien (dehuri, kalisi, sirha) benutzen, nachdem sie in Trance gegangen sind, häufig eine durch Rituale mit göttlicher Genesungskraft aufgeladene Eisenkette oder einen Yakschwanz, um durch Berührung mit dem Patienten den heilenden Götterkuss zu übertragen. Weitere Kapitel analysieren die Entwicklungen spezifischer dörflicher Gottheiten, diskutieren die Entwicklungen des Gaudiya-Vaishnavismus und porträtieren das traditionelle Kunsthandwerk zur Herstellung von Bildgestalten aus Metall. Es ist nicht möglich, den immensen Faktenreichtum des Werkes kurz zusammenzufassen, aber es muss klar betont werden: Vorliegende Bände stechen in Zeiten zahlreicher Sammelband- und Schnellschusspublikationen deutlich aus der Masse der Buchveröffentlichungen hervor.

Wandgemälde Welt der Ahnen und Jenseitsfamilie
Wandgemälde der "Welt der Ahnen und Jenseitsfamilie" im Haus einer Lanjia Sora Schamanin. (Bd. 1, S. 211) Foto: Cornelia Mallebrein

Cornelia Mallebrein (2011): Die vertauschten Götter. Religionswechsel in Indien.

Mallebrein gelingt es, eine Fülle von zentralem Material auf wenigen Seiten kompakt zu präsentieren. In dieser inhaltlich imposanten Publikation vereinigt die Indologin und Ethnologin eine äußerst kenntnisreiche Studie zu den interreligiösen Dynamiken Indiens mit einem eindrucksvollen Bildband zur religiösen Kultur Odishas, der international seinesgleichen sucht.

Sajjada-nashin
Mit einem Pfauenfederbüschel segnet der Sajjada-nashin an der dargah des Bukhari Baba eine Gläubige. (Bd. 2, S. 73) Foto: Cornelia Mallebrein

Nach einer knappen Einleitung zur indischen Religionsgeschichte und der Verortung Odishas (zum Zeitpunkt der Publikation noch: Orissa) analysiert Mallebrein in acht Kapiteln beispielhaft und bilderreich religiöse Konversionsdynamiken in dem indischen Bundesstaat an der Ostküste. Im Einstiegskapitel klärt sie knapp Theorie und Begriffe. Im zweiten Kapitel analysiert Mallebrein die moderne Konversion zum Buddhismus am Beispiel der Maha Bodhi Society in Bhubaneswar und der juristischen Bemühungen von Dr. Ambedkar mit seinen 22 z.T. antihinduistischen Konversionsgelöbnissen. Das dritte Kapitel zum Mahima oder Alekh Dharma taucht tief in odishaspezifische Frömmigkeitswelten der Lebensdisziplin und des Mitgefühls (doya) ein, deren Beschreibungen immer noch großen Seltenheitscharakter haben. Die beiden folgenden Kapitel behandeln Khalsa (Sikhismus) und Islam, der sich in Indien vor den Tablighis nicht nur durch Dorfrichter sondern unter den Moguln auch als "Religion des Pflugs" durch die steuerpflichtige Erschließung von Brachland ausbreitete. Dem folgt ein Kapitel zur Rekonversion zum Hinduismus, in dem Mallebrein den Ritualwandel der shuddhi diskutiert sowie hindunationalistische Propaganda gegen "Konversionsterrorismus" durch "Christian Jihad" und "Love Jihad", interreligiöses Heiraten mit muslimischen Männern. Die letzten beiden Kapitel sind Konversionsphänomenen zu christlichen Traditionen gewidmet. Die Adivasigruppe der Kondh verehrten ihre Erdgöttin Tara-Penu früher mit Menschenopfern (Meriah). Die Pano waren traditionell die Mittler der Kondh, verkauften ihre Produkte und besorgten benötigte Waren und Opferkinder. Mit der Einführung westlicher Medizin u.a. gegen Malaria betonten Baptistenmissionare die Rolle Jesu als Heiler und konnten so große Teile der Pano für das Christentum begeistern. Einige Kondh wurden hingegen katholisch, andere hinduisiert und heute gibt es Spannungen zwischen konvertierten und nicht-konvertierten ethnischen Gruppen. Die Lanjia Sora stellten traditionell die Ahnen in den Mittelpunkt ihrer religiösen Vorstellungswelten. Heute sind sie zum größten Teil christianisiert und ihr hochkomplexer Ahnenkult droht auszusterben. Den Abschluss bilden bisher unveröffentlichte historische Bilddokumente zur Kultur der Kondh und Sora aus der Indien-Expedition des Egon von Eickstedt von 1927. Dem folgen ein umfangreicher Fußnotenapparat, ein ausführliches Literaturverzeichnis sowie ein überzeugend konstruierter Index.

Mitglieder der katholischen Kirche in Balliguda
Mitglieder der katholischen Kirche in Balliguda. Zum Katholizismus konvertierte Kondh dürfen – im Gegensatz zu den zu protestantischen Religionsrichtungen konvertierten Kondh – zu traditionellen Feierlichkeiten weiterhin ihren Büffelhornturban tragen. (Bd. 2, S. 118) Foto: Cornelia Mallebrein

Mallebreins Studie ist das Ergebnis jahrelanger und sehr detaillierter Feldforschungen, die sie in einzigartiger Weise visuell dokumentiert hat. Die Studie ist philologisch vorbildlich und inhaltlich ein brisantes Zeugnis zeitgenössicher tribaler Religionen und der Religionskonflikte Indiens der Gegenwart. Eine vergleichbar lebensnahe Beschreibung der Missionserfolge evangelikaler Christen in Indien kenne ich nicht. Durch den starken interdisziplinären Charakter bildet sie eine zentrale Publikation für Ethnologen, Religionswissenschaftler, Missionstheologen, Indologen sowie Südasienwissenschaftler. Gerade wegen der enormen Inhaltsschwere und dank der anschaulichen Fotografien, der gelungenen Synthese von höchstem akademischen Anspruch mit Allgemeinverständlichkeit sowie des äußerst fairen Preises können beide Bände auch interessierten Laien ohne Einschränkungen empfohlen werden.


  • Cornelia Mallebrein & Heinrich von Stietencron (2008): The Divine Play on Earth: Religious Aesthetics and Ritual in Orissa. Heidelberg: Synchron, 256 S., 294 Abb., EUR 38,00.
  • Cornelia Mallebrein (2011): Die vertauschten Götter. Religionswechsel in Indien. Heidelberg: Synchron, 208 S., 152 Abb., EUR 28,00.

 

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