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10. April 2015. Rezensionen: Kunst & Kultur - Südasien Rabindranath Tagore: Der Ruf der weiten Welt

Tagore, der Klassiker der modernen bengalischen Literatur, ist im deutschsprachigen Raum vor allem durch seine Lyrik bekannt. Mehrfach übersetzt wurde die Sammlung "Gitanjali", die ihm 1913 den Nobelpreis eintrug. Außerdem kursieren diverse Auswahlbände mit weiterer Lyrik, philosophischen Vorträgen, Aphorismen und Lebensweisheiten usw. Nur in der DDR erschienen deutsche Ausgaben einiger seiner Romane.

So entstand das bis heute vorherrschende Bild von Tagore als Weisheitslehrer aus dem Orient. In seiner Heimat ist er aber vor allem berühmt als sozialkritischer Erzähler und Dramatiker, der die heißen Eisen seiner Zeit anfasste.

Es ist erfreulich, dass das bislang einseitige Bild von Tagore als spiritueller Guru nun durch den neu erschienenen Band ausgewählter Prosa "Der Ruf der weiten Welt" ein Stück weit zurechtgerückt werden kann. Der Herausgeber Nirmalendu Sarkar hat zehn Kurzgeschichten bzw. kürzere Erzählungen übersetzt, von denen viele unglücklich oder sogar tragisch enden. Etwa aufgrund der Tyrannei, die eine jungverheiratete Frau im Haus ihrer Schwiegereltern zu erdulden hat – ein bis heute brisantes Thema. Oder aufgrund von Konflikten zwischen individuellen Bedürfnissen und sozialen Schranken, die ihnen entgegenstehen.

In der Titelgeschichte scheitert ein vielversprechendes Eheprojekt in letzter Minute daran, dass die wohlmeinenden Brauteltern weder ihre Tochter noch den Schwiegersohn in spe in ihre Pläne einweihen. In der Geschichte "Der goldene Hirsch" geht es um Geld und Geschäft, um innerfamiliäre Konkurrenz und Intrigen, die dazu führen, dass ein Zweig der Familie prosperiert, ein anderer unaufhaltsam dem Ruin entgegentreibt. Es geht auch um einen verzweifelten Versuch, sich dem Untergang entgegenzustemmen, der alles nur noch schlimmer macht.

Für europäische Leser erstaunlich ist die Geschichte "Das tote Mädchen", in dem eine kinderlose Ehefrau ihren Mann selbstlos dazu drängt, eine weitere Ehe zu schließen, worauf dieser nach anfänglichem Zögern eingeht. Jahrelang erträgt die erste Gattin dann geduldig die Schikanen der jüngeren Ehefrau, bis zu deren frühzeitigem Tod. Nun ist das ursprüngliche Paar wieder zu zweit. "Aber dieses Mal lag zwischen ihnen ein totes Mädchen."

Nur die letzte Geschichte, "Der Babu von Nayanjor", in der ein verarmter, vom vergangenen Glanz seiner Vorfahren träumender Landadliger und seine Tochter im Zentrum stehen, hat ein überraschendes Happy End.

Tagore erweist sich als klarsichtiger Kritiker sozialer Missstände und als großartiger Menschenkenner, der seine Figuren psychologisch überzeugend entwirft und ihre Motive nachvollziehbar entwickelt. So überträgt sich seine Empathie auch auf den Leser. Durchaus modern mutet der Aufbau vieler Geschichten an, die in eine Schlusspointe münden.

Ein Wermutstropfen ist, dass mehrere beteiligte Lektoren Rechtschreibfehler und stilistische Unsicherheiten nicht ausräumen konnten. Schmuckstücke werden z. B. als "Ornamente" bezeichnet, Namen uneinheitlich geschrieben. Es wäre diesem wertvollen Buch zu wünschen, dass recht bald eine zweite, neu redigierte Auflage erscheint.

Rabindranath Tagore: Der Ruf der weiten Welt, Draupadi Verlag, Heidelberg 2014, 127 Seiten, 15 Euro

Die Rezension erschien zuerst im Heft 1/2015 der Zeitschrift Südasien.

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