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19. April 2011. Rezensionen: Afghanistan - Kunst & Kultur Gegenden, gegenständlich

Über das Buch „Afghanistan von innen und außen“

Vorsicht, es geht um ein Buch über Afghanistan. Aber es ist ein stilles Buch, das nicht vom Bürgerkrieg, nicht von den Taliban, nicht von dem (nicht zu gewinnenden) „Krieg gegen den Terror“ und auch nicht von den Leiden der jungen Wehrdienstleistenden berichtet.

Im deutschen Buchhandel gibt es vor allem Bücher, die das Land schon im Titel schlecht konnotieren, etwa Endstation Kabul, Sprengsatz Afghanistan, Ein schöner Tag zum Sterben, Auf den Feldern der Ehre oder Mit der Hölle hätte ich leben können. Selbst Geliebtes dunkles Land von Olaf Ihlau und Susanne Koelbl ist eine Infotainment-Mischung, die sprachlich wie inhaltlich zwischen reißerischer Spiegel-Reportage und stiller Soldatenromantik hin und her pendelt, und wohl gerade deshalb in die Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung aufgenommen wurde. Wenn politische Bildung lediglich bedeutet, zu wissen, wann welcher Warlord sich auf welche Weise seiner Gegner entledigte, und welche Rolle „unsere Jungs“ von der deutschen Bundeswehr in dem an Bodenschätzen durchaus nicht so armen Land spielen, dann können und sollen all diese Autoren und ihre Konsumenten zufrieden schweigen. Wir lassen also diese Bücher getrost links liegen und wenden uns einer – man kann sagen: Ausnahmeerscheinung zu.

Afghanistan von innen und außen von Karl Wutt erschien 2010 im renommierten österreichischen Wissenschaftsverlag Springer. Der Autor ist der Ausbildung nach Architekt, hat jedoch seit 1971 ethnologische Feldforschungen bei den recht autark lebenden Stämmen der Kalasha und Pashai unternommen. So ist es ein ethnologisches Buch, das zwei vom Verschwinden bedrohte Minderheiten porträtiert.

„Für das, was man sieht, keine Grenzen ziehen“, diesem Motto getreu nimmt Karl Wutt einen langen Anlauf. Die Reise nach Afghanistan beginnt im Iran. Verschiedene Muster und Fundstücke werden miteinander verglichen; Schilder und Werbetexte sagen bereits etwas Grundsätzliches über die Kultur, in der sie zu lesen sind, aus (in Pakistan: „Arms not allowed in the Bank“; in Indien: „Do not spit on the road“). Auch Reiseerinnerungen und Beobachtungen aus Pakistan und Indien fließen mit ein. Nach einigen Seiten verrät dann eine Bildunterschrift, dass die Aufnahme bereits in Afghanistan entstand. Vom Allgemeinen kommt man so schrittweise zum Konkreten, dem Text folgend sind wir irgendwann im Hindukush. Nach ein paar Porträt-Fotografien betrachten wir die Holztüren der Pashai mit ihren schönen Schnitzmustern. Wutt beschreibt detailliert den Aufbau, die Nutzung und die Raumaufteilung der Häuser in dieser Region: Die Feuerstellen befinden sich im Zentrum des Hauptraums, im Dach gibt es ein Abzugsloch für den Rauch; trotzdem sind die Häuser innen schwarz vor Ruß. An der Rückwand gegenüber der Tür werden verschiedene Gerätschaften präsentiert. Die meisten Häuser haben im Erdgeschoss den Sommerraum, während das Kellergeschoss als Winterraum und Vorratskammer dient. Auf den entsprechenden Bildern sehen wir Innen- und Außenansichten dieser Räume, aber auch die Häuser im Gesamtkontext, nämlich in Panorama-Aufnahmen ganzer Dörfer. Diese Dörfer  wiederum setzen sich teilweise kaum von den rauen Geröllhängen ab, in denen sie errichtet worden sind.

Frauen und Männer leben in den Gesellschaften der Pashai und Kalasha tagsüber strikt von einander getrennt. Gemäß ihrer Stammesreligion ist die häusliche und dörfliche Sphäre mitsamt den Feldern der (rituell unreinere) Bereich der Frauen, während die Männer die Hochweiden und Alpen bewirtschaften und in ihren Erzählungen idealisieren. Die Frauen sind von dieser Männerwelt stärker ausgeschlossen als andersherum. Dies stark patriarchalische Gemeinschaftsmodell weder ändern wollen zu müssen, noch es überhaupt zu kritisieren, scheint eine hohe Kunst des Ethnologen zu sein, der unter diesen Menschen lebt und ihre Lebenswelt, ihre Rituale und Feste beobachtet. Kritik würde lediglich Misstrauen hervorrufen und letztlich wohl die Gastgeber beleidigen. So sehen wir die Angehörigen beider Geschlechter in ihren jeweiligen Bereichen. Da der Autor als Mann unter Männern lebte, sind die Porträtierten in der Überzahl männlich, doch auch Frauen und Kinder sind zu sehen; sie alle blicken den Fotografen fast durchgehend freundlich und gelöst an.

Angenehm neutral beschreibt Wutt das Sonnenwendfest der Kalasha, das über mehrere Nächte hinweg stattfindet. Die Männer backen in sog. „Ziegenhäusern“ heilige Festtagsbrote, und gegen Ende des Festes werden prächtige Ziegenböcke rituell geopfert. In der darauf folgenden Nacht, der „Nangairo“-Nacht, verbünden sich die Frauen gegen die Männer, man schlägt sich in wilden Sprechchören die wüstesten Beschimpfungen um die Ohren.

Gesichter, Gebäude, Landschaften und Muster sowie die Gesellschaftsformen zweier Stammeskulturen – diese Bereiche werden gegen Ende des Bandes noch ergänzt durch die Zeichnungen der Menschen, die in den Tälern Nord-Ost-Afghanistans leben. Dabei spielen Tiermotive mit Hörnern eine wichtige Rolle, denn für die Kalasha hat die Ziege eine ähnliche Bedeutung wie andernorts das Auto (der ethnologische Terminus dafür ist Schlüsselsymbol).

Eingeleitet wird das Buch durch ein Gespräch zwischen dem Autor und Christian Reder, dem Herausgeber der Reihe (Edition Transfer), dessen Nachwort schon allein wegen der vielen zusätzlichen Literaturhinweise ebenfalls äußerst lesenswert ist. Die darüber hinaus aufgelistete Fachliteratur über die Völker am Hindukusch sollte jeden zufriedenstellen, der sich mit diesem Buch „warmgelesen“ hat.

Zumindest einen kleinen Teil Afghanistans lernen wir durch Karl Wutts Buch wahrlich von innen und außen kennen. Es tut gut, in diesem nicht ganz geordneten, nicht ganz konventionellen Buch zu lesen und zu blättern, denn es bietet von allem etwas: Es ist ein Bildband von handlichem Format, ausgestattet mit einer ausreichenden Einstreuung von Textpassagen, die zum grundlegenden Verständnis dieses doch recht unbeachteten Teils der Welt beitragen.
Dem Rollenbild des halb-barbarischen failed state Afghanistan etwas ganz anderes entgegenzusetzen, indem man zeigt, welche Eigentümlichkeiten in den Tälern der nicht-islamisierten Kalasha und Pashai zu finden sind – grenzt das in Zeiten unserer Medienhörigkeit nicht schon an Blasphemie?

Quellen

Karl Wutt: Afghanistan von innen und außen. Welten des Hindukusch.
Springer-Verlag Wien, New York
1. Auflage, 2010, 352 Seiten, 364 Abbildungen
38,86 EUR

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