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14. Oktober 2010. Rezensionen: Pakistan - Kunst & Kultur Side Effects

Jugendbildnis eines Künstlers in Lahore

In seinem neusten Film "Side Effects: Portrait of a young artist in Lahore" (2009) erzählt Mashhood Ahmed Sheikh die Geschichte des jungen Künstlers Omar, der an der Fakultät der Schönen Künste der Punjab University (PU) in Lahore studiert.


Im Begleittext zum Film steht: "... gewährt uns einen tiefen Einblick in das Leben eines jungen Kunststudenten aus der unteren Mittelschicht in Lahore." Eine derartige Kategorisierung ist nicht unproblematisch. Denn jemand, der in Pakistan studieren kann, ist privilegiert und kaum der unteren Mittelschicht zuzurechnen. Ausbildung ist ein Vorrecht für eine verhältnismäßig kleine Mittel- und Oberschicht. Und obwohl Lahore offenbar wichtig ist für diesen Film, könnte die Handlung auch woanders spielen und Omar ein Kunststudent in jeder beliebigen Stadt Südasiens sein.

Der Film zeigt, wie Omar in seiner Freizeit mit seinen Freunden herum hängt: essen, shoppen, arbeiten, nachts im Job und tagsüber an der Uni. Man sieht ihn und seine Freunde zunächst in einem Straßenimbiss. Neben dem Studium haben alle einen Job in der boomenden Werbebranche oder der Medienindustrie. Man erfährt von ihrer Wichtigkeit: "Basit ist Produzent einer Theatergruppe, Omar arbeitet als Graphik-Designer, Safdar als künstlerischer Leiter einer Medienagentur" und so weiter. Später hört man von Omars Ambitionen und Hoffnungen für seine zukünftige Karriere. Vorerst orientieren sich seine Vorstellungen offenbar an Bollywood, so wie er im Verlauf der Handlung vor der Kamera singend seinen Gefühlen und Wünschen Ausdruck verleiht. Und während man ihm zusieht, merkt man plötzlich, dass es in diesem Film Menschen gibt, die nur in ihrer Abwesenheit präsent sind: seine Familie und Freundinnen werden zum Beispiel nur gesprächsweise erwähnt oder sind ausschließlich auf Photographien zu sehen.

Neben diesen jungen Leuten scheint die Stadt eine Hauptrolle zu spielen. Lahore bei Nacht: leere Straßen, Männer auf Motorrädern, Verkehrsampeln, ab und zu ein Bus – ein einzigartiges Bild der Stadt, in der Omar lebt. Selbst in der Cafeteria des National College of Art (NCA) übertönt der diffuse Stadtlärm alle Gespräche. Doch wie auch immer, diese Bilder vermögen uns keine Vorstellung von Lahore zu geben, wir sehen nichts, was unverwechselbar und typisch wäre. Lahore wird uns nicht als der "Garten der Mogule" gezeigt. Auch das Lahore des britischen Raj sehen wir nicht, keine Frauen in Burqa, keine bärtigen Männer. Es gibt keine Aufnahmen von den Orten in der Stadt, wo Selbstmordattentäter ihre Bomben zündeten und keine aus Heera Mandi, dem Rotlichtbezirk. Das Lahore, das uns der Regisseur zeigt, bleibt gesichtslos, undefinierbar und wenn nicht hier und da eine pakistanische Fahne zu sehen wäre, dann hätte man nicht die leiseste Ahnung, in welchem Land dieser Film gedreht wurde.

Es finden sich allerdings zwei Stellen, an denen diese offensichtlich triviale Geschichte über den Alltag eines jungen Künstlers in einen zeitgenössischen Bezug gesetzt wird. Mitten in die Filmhandlung setzt der Regisseur nämlich abrupt eine Reihe von Aufnahmen majestätischer Bergketten. Diese touristischen Ausflugsfotos aus dem Norden Pakistans sind als Hinweise auf die üblichen Schweizer-Alpen-Gesangs-und-Tanzeinlagen des Bollywoodkinos zu verstehen. Ein Moment ironischer Reflektion!

In einer anderen Szene betritt urplötzlich aus dem Nichts ein Dichter die Szene. Die Freunde vergnügen sich gerade in einem Teich, den der Monsunregen hinterlassen hat. Einer von ihnen, Faisal, ruft gut gelaunt: "Wenn wir alle unsere Kräfte einsetzen würden, könnten wir unser Land retten." Da fährt Ahmed Raza dazwischen: "Ihr Jungs könnt doch noch nicht mal Euch selbst aus dem Wasser retten. Wie solltet ihr wohl Euer Land retten?"

Hier erscheinen, wie ich meine, die Erwartungen und Klischees, die Pakistan und junge Muslime betreffen – und deren Gegenbild in der Realität. Der pakistanische Mann wird häufig als feudal denkend dargestellt, zum religiösen Fanatismus neigend, Frauen verachtend, rückwärts gewandt und autoritär, wie zum Beispiel in dem Film "A Mighty Heart". Mashmood Sheikhs Film bricht mit diesen Klischees und setzt ein anderes Bild von Männlichkeit dagegen, einer Männlichkeit von individuellen Wünschen und Vorstellungen geprägt, von der Zerbrechlichkeit romantischer Beziehungen erschüttert und scheinbar unberührt von größeren religiös-politischen Bewegungen. Tatsächlich wird von Religion überhaupt nicht gesprochen. Und Frauen, selbst wenn sie kaum je persönlich auftreten, erscheinen als selbstbestimmte Persönlichkeiten mit Autorität, denen man mit Respekt und Zuneigung begegnet.

Ebenso vermeidet es der Film, uns "das Typische" an Lahore als Klischee vorzuführen. In den Szenen, die uns durch die nächtliche Stadt führen, sieht man die Geschäfts- und Wohnviertel der Mittelschicht. Armut oder die Highlights der Mogulbauten und der islamischen Staatsarchitektur bleiben ausgespart. Ich halte das für die große Stärke des Films. Hier wird der sorgfältige Versuch unternommen, auf undramatische Weise die Mühen und Anstrengungen eines jungen Mannes darzustellen. Es wird uns vor Augen geführt, worum die Zukunftsträume kreisen: um das privates Glück.

Gleichzeitig wird gezeigt, wie junge Männer aus einer relativ privilegierten Bevölkerungsschicht (den Filmregisseur eingeschlossen) eine überraschende Gleichgültigkeit gegenüber Politik an den Tag legen. Das Jahr, in dem dieser Film gedreht wurde, war eines der turbulentesten in der jüngeren Geschichte Pakistans. Zwar fanden innerhalb der Universitäten von Lahore politische Aktivitäten nicht auf dem Campus des NCA statt. Doch waren vielleicht die Studenten nicht auch dort betroffen, wenn auch nur am Rande?

Aus meiner Zeit als Dozentin an der BNU (Beaconhouse National University) am Stadtrand von Lahore erinnere ich mich daran, dass die Proteste der fundamentalistischen IJT (Islami Jamiat Talaba) auf dem neuen Campus der Punjab University (PU) in Unruhe und Tumulte auszuarten drohten. Diese Spannungen haben das universitäre Leben an der PU für Jahre belastet. Der Unterschied zwischen dem liberalen NCA und der konservativen PU spiegelt auch die Unterschiede in der Gesellschaft wider.

Kurzum, dem Regisseur steht das Thema des Films gefühlsmäßig sehr nahe und daher der sehr persönliche Ton, in dem die Geschichte erzählt wird. Viele ehemalige NCA-Studenten haben die Neigung, ihre Alma Mater als Hintergrund für ihre Musikclips, Spiel- oder Dokumentarfilme zu verwenden. Vielleicht war es Mashhood Ahmed Sheikh auf Grund dieser Nähe unmöglich, eine offenere, kritischere Auseinandersetzung mit der Gesellschaft zu führen. Ahmed Raza, der Dichter, der plötzlich im Park auftaucht, hat nicht Unrecht, wenn er Omars Freunden rät: "Hört nicht immer nur auf Euch selbst! Nehmt nicht nur Eure eigenen Wünsche wichtig!"

In seinem hervorragend geschnittenen Film verwendet Sheikh die Dokumentation als Mittel, um einen subjektiven Blick auf die "untere Mittelschicht" der pakistanischen Gesellschaft zu werfen. Sein bis jetzt vorwiegend europäisches Publikum ist mit einer solchen Darstellung wohl noch nicht allzu vertraut, und so kommt ein solcher Versuch sehr willkommen. Es ist zu hoffen, dass Sheikh eine der neuen Stimmen wird, die die Möglichkeiten des Mediums Film aufgreifen, um neue Formen der Wahrnehmung und Reflektion zu finden. Denn es gibt noch viele Geschichten der jungen Generation in Pakistan, die erzählt werden sollten.

 

Film: Side Effects: Portrait of a young artist in Lahore
Regie: Mashhood Ahmed Sheikh
Produziert: University of Tromso, Norway 2009
Länge: 34 Minuten

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