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13. Oktober 2010. Rezensionen: Wirtschaft & Soziales - Indien Ein nützlicher Bauer hat tot zu sein

Über den Spielfilm "Live aus Peepli – Irgendwo in Indien"

Die Zahlen der Selbstmorde unter indischen Kleinbauern, besonders in den Bundesstaaten Andhra Pradesh, Maharashtra, Karnataka, Kerala und Punjab nehmen erschreckende Ausmaße an. Zwischen 1997 und 2007 nahmen sich laut offizieller Stellen schätzungsweise 180.000 Bauern das Leben; die Dunkelziffer dürfte weit höher sein. Der Grund für die Suizide ist eine Spirale der Überschuldung, die mit dem Kauf eines teureren, genmanipulierten Saatguts beginnt. Durch die verstärkte Benutzung von Pestiziden und Kunstdüngern werden viele Ernten ruiniert und der Boden Jahr für Jahr immer unfruchtbarer. Für ausfallende Ernten werden die Bauern nicht entschädigt und müssen deshalb oft Kredite bei privaten Geldverleihern aufnehmen, um noch mehr Saatgut, Dünger und Pestizide kaufen zu können. Wer diesem stetig steigenden Druck nicht standhält, wird oft depressiv, labil und trinkt irgendwann selbst aus dem Pestizidkanister. Den Hinterbliebenen zahlt die indische Regierung dann eine Unterstützung von rund 90.000 Rupien (ca. 2.000 US-Dollar), während der lebende Bauer ungefähr 60 Dollar im Jahr und pro Hektar verdient. Nur ein toter Bauer ist ein nützlicher Bauer, denn das Land, das ihm gehörte, kann nach seinem Tod wesentlich leichter an Großgrundbesitzer und panindische beziehungsweise international agierende Agrarunternehmen verkauft werden. Soweit die nüchterne Realität in der viel gerühmten größten Demokratie der Welt.

Ebendieser Hintergrund bildet den Handlungsrahmen der Tragikomödie Live aus Peepli – Irgendwo in Indien der Regisseurin Anusha Rizvi. Das Land des verschuldeten Kleinbauern Natha soll zwangsversteigert werden. Im Zwiegespräch mit seinem Bruder Budhia beschließt er, sich umzubringen, damit seine Familie die zynisch anmutende Unterstützungssumme bekommen und in Zukunft schuldenfrei leben kann. Als der anfangs wenig motivierte Lokalreporter Rakesh von dem geplanten Selbstmord erfährt, fallen binnen Stunden die ersten Reporter in Nathas Dorf Peepli ein (Man beachte diesen Namen: engl. to peep = (heimlich) gucken)). Was ein weiterer unbeachteter Bauernselbstmord unter Abertausenden hätte werden können, entwickelt sich, da der Selbstmörder ja noch lebt, zu einem nationalen Reißer. Journalisten, Kamerateams und Fotografen sowie kommerzielle Wasserverkäufer, ein Rummelbetrieb und Polizeihundertschaften aus allen Teilen des Landes überrennen Peepli. Sie umlagern das Haus des schweigsamen, nicht gerade telegenen Nathas, der zum Spielball des Medien-Interesses wird. Über das kleine Dorf und seine Bewohner bricht die hektische, laute Welt der exklusiven Interviews, der Live-Schaltungen und O-Töne herein.

Da in dem fiktiven Bundesstaat Mukhya Pradesh demnächst Wahlen anstehen, sind auch die Politiker aller Lager daran interessiert, Natha für sich zu benutzen; sie kommen teils freundlich, teils mit niederen Absichten zum shake-hand mit dem Selbstmörder in Spe. Allianzen werden geschmiedet, Absprachen getroffen und Komplotte ausgeheckt. Ausgerechnet eine Initiative, die vorgibt, für die Rechte der Kastenlosen einzutreten, erklärt den Selbstmord zu ihrer Angelegenheit und Natha zum Märtyrer für ihre Sache. Die Folge ist, dass der Vorsitzende der Bewegung vor laufenden Kameras triumphierend verkündet: „Natha wird sterben!“ – Erwartungsgemäß spielt der Mensch Natha nach kürzester Zeit keine Rolle mehr in diesem Zirkus; passenderweise selten und immer kürzer sieht man auch den Natha-Schauspieler (Omkar Das Manikpuri): Der Protagonist rutscht in eine Nebenrolle, er  kommt in dem ganzen Trubel um seine Person am wenigsten zu Wort, muss jedoch, von Polizisten abgeschirmt, zur Toilette eskortiert werden. Ganz Indien wird in jeder Nachrichtensendung über die Ereignisse in Peepli unterrichtet, nur: Eigentlich passiert da, irgendwo in Indien, gar nichts, das berichtenswert im Sinne der aufgebotenen Medienmaschinerie wäre. Es ist eine Non-Story. – Eines frühen Morgens gelingt Natha die Flucht aus seinem Dorf. Journalisten wie Politiker sind außer sich, Natha muss um jeden Preis gefunden werden: Tot oder eben lebendig...

Die Stärke solcher Filme wie Live in Peepli sind erstens die Schauspieler und die vielen Laiendarsteller, die allesamt, wenn man so will, aus "echten Menschen" bestehen, und nicht aus schicken Bolly- oder Hollywood-Stars. Sie nuscheln ihr ungeschöntes Hindi im Dorfdialekt; die Art, wie sie mit den Händen essen, die Teegläser hinreichen (je ein Finger im Glas), husten, zu zweit auf einem Motorrad fahren, sanft auf das Trittbrett eines Sammeltaxis aufspringen und sich forsch anschnauzen, ist „echt“, ist kaum gespielt: So ist Indien.

Was Live in Peepli (oder auch The Man beyond the Bridge von Laxmikant Shetgaonkar; 2009) darüber hinaus sehenswert macht, ist die Vielschichtigkeit der Handlung. Der Film vereint in sich so viele komplexe, ineinander verwobene Bereiche, die in nicht ganz unähnlicher Weise auch uns Zuschauer in „westlichen“ Feierabendgesellschaften angehen beziehungsweise bald angehen werden. Da wären zu nennen: Die Armut und die sich verschlechternden Lebensbedingungen der Landbevölkerung und der unteren Gesellschaftsschichten; die klaffenden Gegensätze des Lebens auf dem Land und in den Städten; nicht zuletzt die korrupte Loge der Politiker und (Agrar-) Wirtschaft bei gleichzeitig menschenverachtenden Regierungsmethoden (Nicht zufällig ähneln einige der im Film dargestellten Politiker realen Vorbildern). Natürlich nicht unerwähnt bleiben darf die geradezu menschenfressende Hysterie der erfolgreich boulevardisierten Massenmedien (Die letzte Spur, die Natha seinen Verfolgern auf seiner Flucht hinterlässt, ist seine Morgenverrichtung, die sofort zum Spiegel der Seele des Menschen erklärt und live von Experten analysiert werden soll; der Schnitt schwenkt dann aber um zum weiteren Handlungsverlauf).

Peepli ist eine Tragikomödie, folglich gibt es hier und da auch komödiantische Elemente, Szenen, Dialoge. Aber sie alle sind eher leise, subtil und im Grunde nur ironisches Beiwerk, da der Rahmen des Films ein drastischer, sozialkritischer ist. Die Charaktere sind etwas überzeichnet, um eindeutig Täter- und Opferseite gegenüberzustellen. Geradezu gut, weil am glaubwürdigsten, ist der Umstand, dass die Geschichte um den Kleinbauern Natha kein Happyend hat. So ist Live in Peepli ein sehenswerter Film, auch wenn der englischsprachige Trailer auf eine weitere Wie-skurril-ist-Indien-Produktion schließen lassen mag.


Live aus Peepli – Irgendwo in Indien.
Original-Titel: Peepli live
R: Anusha Rizvi. Indien 2009.
105 Minuten. Original mit deutschen/englischen Untertiteln. FSK 12.
Kinostart: 11. November 2010
Deutschsprachiger Trailer unter http://www.youtube.com/watch?v=O2J5N8z8gFY

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