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19. November 2010. Rezensionen: Kunst & Kultur - Südasien Selbstbiographie des Wahnsinns

Feryal Ali Gauhar: Gefangen in Afghanistan

Feryal Ali Gauhar ist Pakistanbegeisterten in erster Linie als Schauspielerin, Filmemacherin und Drehbuchautorin von Pezwaan (1994) und Tibbi Galli (1997) sowie Kolumnistin der führenden englischsprachigen Tageszeitung Dawn bekannt. Aber als Schriftstellerin hat sie auch akademische Aufmerksamkeit verdient.

Zu ihrer Person: Feryal wurde 1959 als jüngste Tochter der aus Südafrika stammenden Ethnologin Khadija Ali Gauhar und des Berufssoldaten Sayyid in der pakistanischen Kulturhauptstadt Lahore geboren. Ihre ältere Schwester Madiha gründete die Theatergruppe Ajoka, deren erste Darstellerin Feryal wurde. Ihr Bruder Amir betreibt als Wirtschaftsingenieur eine Firma für alternative Energieprodukte. Feryal studierte Volkswirtschaft an der McGill Universität in Kanada und Dokumentarfilm in London und an der Universität Southern California. Nach ihrer Rückkehr nach Pakistan heiratete sie den Schauspieler und Vorsitzenden des Artists Association of Pakistan Jamal Shah, mit dem sie 1984 nach Quetta zog, einer abgelegenen, hochkonservativ-geprägten Stadt in Belutschistan, in der sie unverschleiert nicht vor die Tür gehen konnte. Nach ihrer Scheidung heiratete sie einen in Kalifornien praktizierenden pakistanischen Arzt. Isoliert nun in einer amerikanischen Kleinstadt, vollzog sich ihre Verwandlung zu einer ernsthaften Schriftstellerin; diese Phase durchaus schmerzender Entfremdungserfahrungen in Amerika endete mit ihrer zweiten Scheidung. 1999-2005 war sie Goodwill-Sonderbotschafterin der Vereinten Nationen. Gegenwärtig ist sie Doktorandin (Conservation Management) und Dozentin für Film am pakistanischen National College of Arts.

Aber zurück zu ihrer Rolle als Romanautorin: Ihr Erstlingswerk The Scent of Wet Earth in August (New Delhi: Penguin 2002) entstand aus ihrem Drehbuch zu Tibbi Galli und schaffte es auf die internationale Bestsellerliste der New York Times. Der Roman skizziert die Minimierung von Handlungsoptionen im Leben der Ausgestoßenen im Rotlichtmilieu Lahores, ins Alter gekommene Prostituierte und von Maulanas sexuell missbrauchte in Scham aufwachsende männliche Jugendliche. Ihr Zweitroman No Space for Further Burials wurde in Indien erstveröffentlicht (New Delhi: Women Unlimited 2007), es folgten französische (Plus de place pour enterrer nos morts, Philippe Picquier 2008) und amerikanische Editionen (New York: Akashic 2010). Die vorliegende deutsche Ausgabe ist die erste Übertragung eines Werkes der Autorin ins Deutsche und der Übersetzer Guido Keller hat eine hervorragende Leistung vorgelegt.

Gefangen in Afghanistan

Cover von Gefangen in Afghanistan
Cover von Feryal Ali Gauhars Roman "Gefangen in Afghanistan" Foto: Angkor Verlag

Der Roman erzählt in der Form tagebuchartiger Einträge des Protagonisten. Es ist das Tagebuch der Gefangenschaft eines amerikanischen Soldaten und Medizintechnikers, der während einer Aufklärungsmission im September 2002 durch lokale Kriegsfürsten entführt und in einer traditionell-afghanischen Anstalt für Geisteskranke eingekerkert wird, die im Verlauf sowohl von Rebellen angegriffen als auch von amerikanischen Truppen bombardiert wird. Die Einträge zeichnen die hochtragischen Leidensgeschichten der übrigen Insassen nach und lassen die persönlichen Schicksale, die Todes- und Vernichtungserfahrungen von sowohl Afghanen als auch Amerikanern nacherlebbar werden. In dem Maße wie die erzählende Hauptfigur zunehmend zum Teil der Insassengemeinschaft von Behinderten, Verstümmelten, Aphasiepatienten und Ungewollten wie dem sympathischen Jüngling Bulbul wird, verschwimmen die Grenzen zu den Irren Anderen. Die eigenen Ängste, die individuelle Hilflosigkeit und Sinnzweifel an Grundpfeilern der amerikanischen Kriegs- und Freiheitsideologie geraten in den Vordergrund und der Leser begleitet den Erzähler auf seinem Weg des Grauens hin zum vollkommenen Wahnsinn in seiner grabesgleichen Gruft für die Lebenden (S. 9). Verrückt vor Schmerz und Elend, unterernährt, auf engstem Raum zusammengepfercht mit Todgeweihten in einem von Urin überfließenden Ort zerfallen sämtliche Grenzen zwischen Verbrecher und Opfer, Mythen der Kriegspropaganda und Menschlichkeit, gesundem Zweifel und morbid-suizidalem Irrsinn. Als Bodensatz bleibt der absolute Wahnsinn des Krieges.

Die zunehmende Verstörtheit von der Wirklichkeit durch die Erkenntnis des Problems, die Realität im Feld in den Griff zu bekommen, manifestiert sich auch sprachlich: Wirklichkeitsbilder sind häufig von einer ekelerregenden Fäkalsemantik geprägt; sowenig wie der Protagonist konkreten Halt in der Fremde findet, ebensowenig Orientierung gewähren die sprachlichen Begriffe und Symbole. Das Buch ist sehr wertvoll, denn es berichtet von der Situation im Feld ganz unten, aber aus der auf das Innere gerichteten Sichtweise eines Amerikaners. Durch diese Erzählweise werden zahlreiche kulturelle Deutungsmuster und Ideologien klug hinterfragt, die dazu führten, dass die Präsenz von Amerikanern vielfach wie ein Keil zwischen islamisch und westlich geprägten Welten wirkt. Das reflektierte Nachsinnen über klassische Grenzen skizziert die potentielle Verdammnis derjenigen, die sich um solche Reflektionen nicht aktiv bemühen. Feryal Ali Gauhar plant diesen Roman zu verfilmen und man kann ihr nur wünschen, dass dieses Projekt bald Realität wird.

 

Feryal Ali Gauhar: Gefangen in Afghanistan, übersetzt von Guido Keller, Angkor Verlag 2010, 173 S., 22,- EUR.

 

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