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17. September 2009. Rezensionen: Kunst & Kultur - Indien Für welches Publikum schreiben Sie denn?

Amit Chaudhuri eröffnet in seinem Essayband den Raum für eine Neubetrachtung der anglophonen indischen Literatur

Für welches Publikum schreiben Sie denn? Exotisieren Sie Indien nicht für ein westliches Publikum? Zwei unvermeidliche Fragen, mit denen indische Autor/innen, die ihre Werke in englischer Sprache verfassen, häufig innerhalb wie außerhalb Indiens konfrontiert werden. Beispielhaft beobachten ließ sich dies zuletzt an der Debatte über Aravind Adigas 'Weißen Tiger'. Die Vorstellung, dass Schriftsteller/innen, die in indischen Sprachen schreiben, "organischen Gemeinschaften" angehören und die Wahl des Englischen einer Distanzierung von ihrem "natürlichen" Lesepublikum gleichkomme, gehört für Amit Chaudhuri zum schwierigen Erbe der Orientalismusdebatte. Eine ganz andere Perspektive auf die englischsprachige indische Literatur eröffnet er in seinem 2008 erschienen Essayband "Clearing a Space. Reflections on India, Literature and Culture".

Amit Chaudhuri gehört zu den bekanntesten indischen Autoren der Gegenwart, erst im Frühjahr 2009 ist sein neuester vielbeachteter Roman "The Immortals" in englischer Sprache erschienen. In deutscher Übersetzung sind bislang unter anderem die Romane und Erzählungen "Eine seltsame und erhabene Adresse"  (1991), "Raga des Nachmittags" (1993) oder die "Melodie der Freiheit" (1998/2001) sowie "Betörungen und fromme Lügen" erhältlich. Als der Autor, Essayist und Musiker im Wintersemester 2005 die Samuel-Fischer-Gastprofessur an der Freien Universität Berlin innehatte, wurde in den deutschsprachigen Medien gerne die New York Times mit den Worten zitiert, dass seine Erzählungen "so meisterhaft und atmosphärisch dicht" wie die des russischen Literaten Anton Tschechow seien und dass dies "ein großes Kompliment für den indischen Schriftsteller" sei. Die Fehlannahme, dass es indischen Schriftsteller/innen doch schmeicheln müsste, wenn ihre Werke als mehr oder weniger geglückte Varianten oder Nachahmungen des europäischen Literaturkanons gesehen werden, räumt Chaudhuri in seinem Essayband "Clearing a Space" in unmissverständlichen Worten aus dem Weg. Doch weit mehr als solche, von ignorantem Wohlwollen getragenen Vergleiche irritieren ihn die ebenso geläufigen Aneinanderreihungen anglophoner indischer Erzähler/innen, die ihn in eine ungesuchte Nähe zu Salman Rushdie rücken. Mittlerweile ist der Begriff der "Post-Rushdie"- Literatur so stark verankert, dass Rushdies Auftreten auf der globalen Literaturbühne mitunter für den Beginn der neueren englischsprachigen Literatur aus Indien schlechthin gehalten wird. Diesem Label ist schwer zu entkommen, wenn man wie Chaudhuri zwar nach Rushdie in englischer Sprache schreibt und international publiziert, sich aber dennoch selbst in einer ganz anderen Geschichte der modernen anglophonen Literatur Indiens verortet, die bislang noch nicht wirklich geschrieben wurde. Hierfür erst einmal den notwendigen Diskussionsraum zu schaffen, ist das erklärte Ziel seines Essaybandes, dessen fünfundzwanzig Einzelbeiträge von Ende der 1980er Jahre an größtenteils in der London Review of Books und im Times Literary Supplement veröffentlicht wurden. Die von ihm anvisierte, außerordentliche Geschichte der anglophonen modernen Literatur Indiens hat sich nach Ansicht Chaudhuris über 120 Jahre lang entfaltet und endet in seiner Erzählung (vorläufig) mit Rushdies Mitternachtskindern. Als "klassischen postmodernen indischen Text" bezeichnet Chaudhuri diesen Roman, jedoch nicht nur, da er alle leicht erkennbaren Markenzeichen postmoderner Literatur besitze, wie etwa die Polyphonie oder das Verschmelzen von Realität und Fiktion. Vielmehr sei die Spannung zwischen "Ablehnung" und "erneuter Aneignung", die für Chaudhuri so kennzeichnend ist für die moderne indische Literatur, bei Rushdie gegen eine Beliebigkeit der Bedeutungen ausgetauscht worden. Nichts werde in den Mitternachtskindern mehr "enteignet" und "neu angeeignet", sondern alles umarmt. "The inward struggle that from (Michael Madhusudan) Dutt to (Attipat Krishnaswami) Ramanujan, gave Indian modernism its particular meaning, is replaced, in Midnight's Children, by infinite play" (S. 55).

Diese Bewegung zwischen Ent- und Aneignung/Exil und Heimkehr/Ablehnung und Hinwendung beschreibt Chaudhuri als ein Muster, das auch und vielleicht gerade im Leben und Werk vieler einflussreicher indischsprachiger Autor/innen feststellbar ist, und sich beispielhaft an der Suche nach ihrer literarischen Sprache herauskristallisiert. So ist es für Chaudhuri bezeichnend, dass etwa herausragende Autor/innen wie Qurratulain Hyder (Urdu), U.R. Ananthamurthy (Kannada), Mahashweta Devi (Bengali), Ambai (Tamil), um nur einige zu nennen, englische Literatur studiert oder sogar selbst unterrichtet haben. Michael Madhusudan Dutt (1824-1873) suchte sogar zunächst die Anerkennung als anglophoner Dichter, und erst auf den "langen Prozess der Enteignung" der bengalischen Sprache folgte seine erneute Aneignung des Bengalischen (S. 41). Für den in Bombay aufgewachsenen Bengalen Chaudhuri vollzog sich diese Wechselbewegung zwischen Ab- und Hinwendung mehr in musikalischer Hinsicht, von der US-amerikanischen Rock-, Blues und Folk-Musik hin zur klassischen Hindustani-Musik. Doch gerade das Beispiel der Literatursprache bzw. die Brüche und Diskontinuitäten in den Beziehungen vieler indischer Schriftsteller/innen zu "ihrer" Sprache, sind ein sehr gewichtiges Argument gegen die hartnäckige Vorstellung einer "natürlichen" oder geradezu "organischen Verbindung qua indischer Sprache" vs. einer zwangsläufigen "Entfremdung" oder "Exotisierung" der indischen Kultur durch das Englische, die nach Ansicht Chaudhuris so zentral für die Erzählung der postkolonialen Theorie ist. Für ihn sind die englische wie die indischen Sprachen gleichermaßen Teil einer Bewegung, die durch die Prozesse der Ent- und Aneignung das moderne Subjekt in der indischen Literatur überhaupt hervorgebracht haben. Auch kritisiert er die Vorstellung, dass "bhasha" bzw. indischsprachige Autor/innen einen natürlichen und direkten Zugang zu "ihrem" Publikum besäßen, wie ihn kein/e englischsprachige Autor/in jemals haben könnte, als unhaltbare Konstruktion einer idealtypischen Leserschaft, die so für Schriftsteller niemals gegeben sei.

Von diesen Kernargumenten ausgehend begibt sich Chaudhuri in seinen unterschiedlich langen Essays in die verschiedensten Bereiche der indischen Literatur und Kultur. Stellenweise sind sie nicht einfach zugänglich oder setzen ein enormes Hintergrundwissen voraus, weswegen sie sich vielleicht nicht unbedingt als Einstieg in die indische Literatur- und Kulturgeschichte eignen. Wenn das Erkenntnisinteresse sich jedoch mehr auf die Frage richtet, wie der 'cultural turn' und die Folgen der Orientalismusdebatte aus heutiger Sicht mit Blick auf die indische Literatur und Kultur reflektiert werden können, empfiehlt sich dieser Essayband vor allem in Verbindung mit einer kritischen Einführung in die postkoloniale Theorie[1] als sehr interessante und anregende Lektüre.

Amit Chaudhuri (2008): Clearing a Space. Reflections on India, Literature and Culture, Peter Lang Oxford, ISBN 978-1-906165-01-7 (Paperback).

Quellen

[1] In deutscher Sprache sehr zu empfehlen: "Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung" von María do Mar Castro Varela und Nikita Dhawan, Bielefeld: transcript, 2005.

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