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21. Oktober 2009. Rezensionen: Bangladesch - Geschichte & Religion W. van Schendel: A History of Bangladesh

Versuche, eine umfassende Geschichte Bangladeschs zu schreiben, hat es bislang einige gegeben. Allein in den letzten zehn Jahren sind mehrere voluminöse Bücher erschienen, darunter so elaborierte Werke wie das von Craig Baxter aus dem Jahr 1997 oder das Roumaq Jahans von 2001, ganz abgesehen von der Monumentaldarstellung von Badruddin Umar, deren erster Band 2003 und deren zweiter Band 2006 publiziert wurde. Sich zwischen all den neueren Darstellungen zu positionieren, mochte schwierig erscheinen. Doch gerade das ist Willem van Schendel auf eindrucksvolle Art und Weise gelungen.

In höchst ansprechender Weise hat er eine Geschichte zu dem jungen Staat im östlichen Südasien vorgelegt, die alleine schon durch ihre Aufmachung besticht. Dazu zählen die zahlreichen Karten, vor allem aber das Bildmaterial, das keinesfalls nur als Illustration betrachtet werden kann, sondern als historische Quellendokumentation gesehen werden muss. Ebenso zählen dazu die Informationskästen, die einzelne Aspekte oder Persönlichkeiten gesondert bearbeiten, als Vertiefung oder als Abstecher. Neuartig ist auch die Breite der behandelten Themen wie Migration, Umwelt, Urbanisierung und Medien, die weit über das gewöhnliche Narrativ einer politischen Nationalgeschichte hinausgehen und stattdessen das Spektrum einer Gesellschaftsgeschichte abdecken.

Unkonventionell ist auch die Herangehensweise an die diffizile Frage, wie denn ob der völlig unvorhersehbaren Gründung des Staates 1971 eine Geschichte des Landes geschrieben werden kann, ohne dabei zwangsweise die Nation begründen zu wollen, wie es bei den meisten anderen Darstellungen zur Geschichte Bangladeschs der Fall ist. Wie bei solchen holt auch van Schendel zunächst weit in der Vergangenheit aus, um die Region des östlichen Bengalen und das Delta von Ganges/Padma und Brahmaputra/Jamuna als eine historisch-kulturell gewachsene Region zu etablieren. Grundlage hierfür bildet die Tatsache, dass während des 16. Jahrhunderts im nördlichen Deltabereich die Ganga im Zuge einer verheerenden Flut als seitdem Padma genannter Hauptarm zu Brahmaputra/Jamuna durchbrach, was die Verlagerung der Wirtschaft in das östliche Delta nach sich zog. Die Besiedlung erfolgte durch Kolonisten am Rande der offenen Agrargrenze, die meist zum Islam konvertierten, nachdem durch gezielte Moscheebauten und Schreinstiftungen erste kulturelle Zentren seitens eingewanderter islamischer Gelehrter angelegt worden waren. Dies erklärt auch die noch heutzutage überwiegend muslimische Bevölkerung im östlichen Bengalen.

Neben der Verschiebung der lange Zeiten offenen religiös-kulturellen und der agrarischen Grenze verschob sich auch die linguistische und die staatliche. Letztere machte zunächst vor den Chittagong Hill Tracts halt, die erst der britische Kolonialstaat lose in sein Imperium einband, und die schließlich vom bangladeschischen Staat unter Zwang integriert wurden. Eine Sprachgrenze taucht erst im 19. Jahrhundert auf, als Bengali im Zuge der bengalischen Nationalbewegung als Literatursprache und Kommunikationssprache allgemeine Anerkennung fand und darüber viele lokale Sprachen als Dialekte abdrängte, während Arabisch, Persisch und Sanskrit die dominanten rituellen Sprachen blieben. Freilich kann auch van Schendel nicht dem Dilemma entrinnen, dass Bengali im heutigen indischen Bundesstaat West-Bengal allgemeine Verkehrs- und Muttersprache ist und unter anderem der Literaturpreisträger für Literatur des Jahres 1913, Rabindranath Tagore, beiderseits der gegenwärtigen Staatsgrenzen höchste Verehrung als Bengale findet. Ebenso ist es ein wenig fragwürdig, das „Bengal Delta“ als eine Region zu definieren, mit der van Schendel stets das Gebiet des heutigen Bangladesch meint, obgleich das Delta zu einem Viertel auch in West-Bengalen anzutreffen ist, am markantesten durch die Wasserlandschaft der Sunderbans gekennzeichnet.

Versiert setzt sich van Schendel mit der bestehenden Historiografie zu Südasien auseinander, die von der indischen Geschichtsschreibung dominiert ist, welche wiederum feste Wurzeln in der britisch-europäischen Geschichtsschreibung zu Südasien („Indien“) hat. So ergibt die Schlacht von Palshi, die gewöhnlich als Wendepunkt in der Geschichte des südasiatischen Subkontinents zumindest im 18. Jahrhundert angegeben wird, weil danach die Briten maßgeblich die politischen und wirtschaftlichen Geschicke Bengalens bestimmten, aus der Sicht Bangladeschs weniger Sinn, denn die Schlacht bedeutete zum einen nur die Fortsetzung der mogulischen Fremdherrschaft, zum anderen betonen die Historiker Bangladeschs, dass mit dem Ende der britischen Herrschaft 1947 die koloniale Unterdrückung keinesfalls abgeschlossen war, da Pakistan über seinen Herrschaftsanspruch dieses Verhältnis fortsetzte, wenn nicht gar intensivierte. Knapp, aber ausreichend wird die Kolonialzeit dargestellt. Die Interpretation der Steuerveranlagung als etwas völlig Neues misslingt ein wenig, denn die Briten setzten im Grunde nur fort, was seit Beginn des 18. Jahrhunderts die Herrscher Bengalens eingeleitete hatten, nämlich auf verschiedene Arten und Weisen die Landsteuer zu erhöhen. Neu war lediglich, dass die Briten den Steuersatz 1793 dauerhaft festschrieben. Er wurde tatsächlich erst 1950 abgeschafft.

Zu Recht betont van Schendel immer wieder, dass der Staat Bangladesch bis 1971 nicht vorhersehbar war. Auch die Teilung der britisch-indischen Provinz Bengalen entlang religiöser Scheidelinien (in ein Hindu-dominiertes Bengalen und ein Muslim-dominiertes Ost-Bengalen-Assam) 1905 lässt erst aus der Gegenwart die Konstruktion eines islamischen Nationalstaates zu, mitnichten jedoch zum Zeitpunkt der ersten Teilung, die zudem 1911 rückgängig gemacht wurde. Auch die Teilung Britisch-Indiens im Zuge der Unabhängigkeit 1947 legte nicht nahe, dass aus dem östlichen Landesteil Ost-Pakistan ein knappes Vierteljahrhundert später ein neuer Staat entstehen sollte. Obgleich die Sprachbewegung der 1950er-Jahre zu Gunsten Bengalis als zweite Staatssprache (das vorgeschriebene Urdu sprachen im gesamten Pakistan keine drei Prozent) eine solche Forderung realistisch hätte erscheinen lassen, gingen Politiker wie Agitatoren in Ost-Pakistan stets von der Einheit des Staates aus. Erst die Ereignisse des Jahres 1970 ließen die Option zur Sezession aufkommen.

Zum einen errang die Awami League Ost-Pakistans unter Mujibur Rahman bis auf zwei alle Abgeordnetensitze des östlichen Landesteils und stellte damit die Mehrheit im pakistanischen Parlament, während die Pakistan Peoples Party unter Zulfikar Ali Bhutto in West-Pakistan die Mehrheit erhielt. Das Wahlvolk hatte damit eine unvorhersehbare Polarisierung betrieben. Zum anderen leitete die amtierende pakistanische Regierung nach der verheerenden Flutkatastrophe und anschließendem Zyklon, bei dem geschätzte 500.000 Menschen ums Leben kamen, zu spät und unzureichend Hilfsmaßnahmen ein, was den bisherigen und nicht unbegründeten Eindruck der gezielten Vernachlässigung und Ausbeutung des Landesteils durch West-Pakistan verstärkte und obendrein an die britischen Kolonialverhältnisse erinnerte. Jetzt drohte die Lage zu eskalieren. Erstmals war von Sezession und Unabhängigkeit die Rede. Nach blutigem Staatsterror, mit dem solche Bestrebungen im Keim erstickt werden sollten, und bei dem das eingeflogene pakistanische Militär bis zu 3.000.000 Menschen getötet haben soll (andere Zahlen gehen von der Hälfte aus), konnte mit massiver militärischer Unterstützung durch die Premierministerin der Indischen Union, Indira Gandhi, der „War of Liberation“ erfolgreich beendet werden. Neben der gigantischen Hungerepidemie des Jahres 1943, bei der 3.500.000 Menschen umkamen, der Teilung 1947, bei der 3.000.000 Menschen vertrieben wurden, hat sich vor allem diese dritte Katastrophe ins kulturelle Gedächtnis Bangladeschs eingebrannt.

Der neue Staat hatte von Beginn an immense Schwierigkeiten. Van Schendel bereitet aber nicht eine Geschichte der fortgesetzten Katastrophen auf, wie das meist in Geschichten zu Pakistan und Bangladesch geschieht, deren Militärdiktaturen sich so unschön von der demokratischen Indischen Union unterscheiden. Kritisch wird die politische Entwicklung unter die Lupe genommen, aber auch die Stabilisierung der Demokratie in Bangladesch seit einem knappen Jahrzehnt betont. Kritisch wird auch die wirtschaftliche Entwicklung beleuchtet. War die Wirtschaft ehedem abhängig von ausländischen Hilfsgeldern, ist sie es inzwischen von den Auslandsüberweisungen der überseeischen „Gastarbeiter“. Mehr als drei Millionen Zirkulanten überwiesen 2006 mehr als 5 Milliarden US-Dollar, das sind knapp 10% des BSP. Beachtlich ist die landwirtschaftliche Produktionssteigerung, denn Bangladesch gelang innerhalb weniger Jahrzehnte eine mehr als Verdoppelung der Reisproduktion. Gelegentlich kommt es zu Überschussernten, und seit 1974 gab es keine Hungerepidemie mehr, trotz Verdoppelung der Bevölkerung von 70 auf 140 Millionen Einwohner.

Bei seiner Gründung definierte sich der bangladeschische Staat als ein säkularer. Inzwischen ist er eine Islamische Republik, ebenso wie Pakistan. Bangladeshi sein bedeutet für politische Agitatoren und islamische Gelehrte immer mehr Muslim und zu einem geringen Maße noch Bengale zu sein, nachdem diverse Militärdiktatoren die Religion zur Legitimation der eigenen Position vor den poltischen Karren gespannt hatten und damit langfristig gewalttätige Geister riefen, die jetzt umtriebig sind. Das Verhältnis von Muslim-und Bengale-sein hat sich im vergangenen Jahrzehnt umgedreht, wie van Schendel überzeugend ausführt. Islamische Puristen schrecken mittlerweile nicht mehr davor zurück, lokale islamische Traditionen durch Terroranschläge zu zerstören und einen reinen Islam arabischer Ausprägung zu fordern. Solche Strategien scheinen aber ebenso zum Scheitern verurteilt zu sein, so van Schendel, wie der Versuch der Staatsregierung, wider besseres historisches Wissen die Chittagong Hill Tracts zwangsweise zu assimilieren. Insgesamt, das betont van Schendel zu Recht, haben wir es bei Bangladesch inzwischen mit einem höchst lebhaften, vielfältigen, multikulturellen Staat zu tun, dessen zahlreichen Grenzen erneut offen sind, womit einer spannenden Zukunft entgegengeblickt werden kann. Nach so viel Lob und so wenig Kritik versteht es sich von selbst, dass das Buch nicht nur in jede öffentliche Bibliothek gehört, sondern in so viele Leserhände wie möglich.

Das Buch

Willem van Schendel (2009): A History of Bangladesh. Cambridge: Cambridge University Press. 347 S., £ 14,99. ISBN: 978-0-521-67974-9.

Anmerkungen

  • Craig Baxter, Bangladesh. From a Nation to a State, Boulder, CO 1997.
  • Rounaq Jahan, Bangladesh. Promise and Performance, London 2001.
  • Badruddin Umar, The Emergence of Bangladesh, vol 1: Class and Political Struggle in East Pakistan, 1947-1958, Oxford 2003, vol. 2: The Rise of Bengal Nationalism, 1958-1971, Oxford 2006.

Quellen

Diese Rezension wurde zuerst veröffentlicht bei H-Soz-Kult am 30.9.2009. http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2009-3-249. Wir danken der Redaktion für die freundliche Genehmigung zur Zweitveröffentlichung.

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