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Naturgemäß sind es weniger die kurzfristigen Trends und Ereignisse, die den Historiker interessieren, sondern die längeren Prozesse und tiefliegenden Strukturen. Dementsprechend betrachtet Dietmar Rothermund die Gegenwart Indiens, insbesondere den vielzitierten wirtschaftlichen und weltpolitischen "Aufstieg" des Landes, vor dem Hintergrund seiner kolonialen und nachkolonialen Geschichte und versucht aus dieser Perspektive auch das Potenzial seiner zukünftigen Entwicklung zu ergründen. In achtzehn kurzen, teilweise etwas komprimierten Kapiteln eröffnet er viele originelle, vor allem aber durchweg nachvollziehbare Zugänge zu den komplexen Feldern der indischen Politik, Gesellschaft und Wirtschaft. Durch die Auswahl und detail- wie kenntnisreiche Beschreibung seiner Beispiele gelingt ihm nicht nur eine differenzierte Darstellung von Einzelphänomenen, sondern er vermittelt zugleich ein Problemverständnis des jeweiligen Feldes, für das sie beispielhaft stehen sollen.
Besonders überzeugend sind in dieser Hinsicht die insgesamt sieben Kapitel, in denen sich der Autor mit der indischen Wirtschaft befasst, genauer gesagt mit ihrer zeitgeschichtlichen Entwicklung und Liberalisierung sowie ihren Perspektiven für die nahe Zukunft. So stehen die von ihm beschriebenen Sektoren der Produktion von Diamanten, Fertigkleidung und Software zunächst einmal für die drei tragenden Säulen des jüngeren indischen Exporterfolgs auf dem Weltmarkt. Gleichzeitig eröffnen sie Einblicke in die äußerst heterogenen, regionalen Wirtschaftshistoriografien West- und Südindiens und geben darüber hinaus auch einen guten Eindruck über die enorme Vielfalt an historisch gewachsenen, ausdifferenzierten Systemen des Wirtschaftens und Arbeitens in Indien. Während (neo-)feudalistische Arbeitsverhältnisse und die Verschärfung sozialer wie regionaler Disparitäten jedoch in nahezu allen Bereichen zu finden sind, halten mit der Re-Migration indischer Experten auch vereinzelt neue Konzepte einer kollegialen Zusammenarbeit Einzug, beispielsweise in Gestalt von indischen Start-Up-Unternehmen im IT-Sektor, die in Indien eine vollkommen neue Erscheinung sind.
Der indische Agrarsektor wird als Kernproblem der indischen Wirtschaft gesehen, eine neue und auf ökologische Nachhaltigkeit bedachte "grüne Revolution" scheint bislang jedoch nicht wirklich in Reichweite zu sein. Hierzulande waren es vor allem die Suizidwellen von Bauern aus der Vidarbha-Region, die in den vergangenen Jahren für Schlagzeilen sorgten. Sie stehen einerseits beispielhaft für die historisch bedingten, spezifischen Probleme der indischen Landwirtschaft und andererseits für die wachsende Abhängigkeit indischer Landwirte vom Weltmarkt. In Vidarbha war es das fatale Zusammenspiel von überteuertem Saatgut für die transgene Bt-Baumwolle, die nie zu den versprochenen Ernteerträgen führte, und dem Eintreten einer Baumwoll-Rezession, die für die ohnehin verschuldeten Bauern katastrophale Folgen hatte. Ausgelaugte Böden infolge einer intensiven und einseitigen Landwirtschaft, sinkende Erträge und Wasserknappheit führten auch in anderen Regionen des Landes zu gravierenden Problemen und Versorgungsengpässen, so dass Indien in den vergangenen Jahren sogar Getreide importieren musste.
Ein regelrechtes "Staatsversagen" konstatiert Rothermund mit Blick auf die strukturellen Probleme der Wasserversorgung und zeigt daran zugleich exemplarisch die destruktive Kontinuität kolonialstaatlicher Praktiken im nachkolonialen Indien auf. Angefangen von der Entwaldung, die unter britischer Kolonialherrschaft massiv betrieben wurde, und die heute zu einer so starken Erosion der Böden geführt hat, dass der Monsunregen nicht mehr darin gespeichert werden kann. Oder der systematischen Verdrängung traditioneller Formen der Bewässerung zugunsten groß angelegter Kanal- und Staudammprojekte, die zwar die Nutzung von Niederschlägen ermöglichen, dafür aber die Erneuerung von Grundwasservorräten verhindern. In diesem Zusammenhang ist auch die spezifisch indische Variante der global fortschreitenden Privatisierung im Bereich der Wasserversorgung zu nennen. Das Beispiel der "waterlords" führt Rothermund hier an, dabei handelt es sich um indische Grundbesitzer, die – völlig legal – auf das unter ihrem Land befindliche Grundwasser zurückgreifen und dabei in immer unverantwortlichere Tiefen nach Wasser bohren, um das Wasser dann zu überhöhten Preisen verkaufen zu können, während gleichzeitig die Wasserbecken in den indischen Dörfern versanden. Unzählige weitere Beispiele für die gravierenden strukturellen Probleme und das Missmanagement im indischen Agrarsektor ließen sich anführen und deren Überwindung scheint kaum vorstellbar, wenn der Autor sagt: "Unternimmt der Staat freilich etwas, so führt dies meist zur Errichtung einer neuen Bürokratie mit großer Machtfülle".
Dass die indische Regierung jedoch eine deutliche Steigerung der Produktivität im Agrarsektor herbeiführen muss, ist offensichtlich. Wie diese erreicht werden soll, dafür gibt es mehrere Szenarien, die angefangen von der intensiven Nutzung der Biotechnologie bzw. Gentechnik über alternative Vorstellungen der regionalen Selbstversorgung und Erhaltung der Bio-Diversität bis hin zum Bild Indiens als "Obstgarten der Welt" in ganz unterschiedliche Richtungen weisen.
Mit letzterem scheint Rothermund deutlich zu sympathisieren, wenn er darüber nachdenkt, welche agrarischen Produkte sich neben bereits erfolgreichen cash crops wie Blumen und Cornichons zu Exportschlagern entwickeln könnten. Großes Potenzial sieht er hier vor allem für den indischen Wein und bedauert, dass bislang nur wenige indische Winzer das Interesse von Weinkennern im Ausland auf sich gezogen haben. Seine Hoffnung richtet sich hier auf die Möglichkeit, dass die indische "Mittelklasse" Geschmack am Wein finden wird, denn "nur wenn eine indische Weinkultur entsteht, hat auch die Produktion von Wein für den Export eine gute Grundlage". Warum sollte die Globalisierung der Weinkultur aber ausgerechnet Indien aussparen, könnte man hier einwenden, denn das Beispiel Großbritanniens, wo der Bordeaux einen unerwarteten Siegeszug antrat, oder auch der jüngst zu beobachtende Weinboom in China lassen auch in Indien eine ähnliche Entwicklung erwarten. Ähnliches gilt für den Export von Obst und Gemüse aus Indien, das schon jetzt immer häufiger auch in deutschen Supermarkt-Regalen zu finden ist.
Den Haken dieses vielversprechenden "Obstgarten"-Szenarios benennt Rothermund leider nicht, obwohl er eng mit dem von ihm erörterten Problem der Bewässerung und Energie verbunden ist, denn wenn indische Großgrundbesitzer oder Großunternehmer nun die nationalen und internationalen Supermärkte beliefern sollen, so rückt hier die Notwendigkeit einer äußerst energieintensiven Kühlkette in den Vordergrund. Hinzu kommt die Frage, wie die indischen Kleinbauern in diesen Vertriebsprozess integriert werden sollen, ob sie eine Art Mindestlohngarantie erhalten, ob Zwischenhändler eingeschaltet sind oder nicht, etc. Und schließlich stellt sich auch die Frage, was mit all jenen Kleinbauern passiert, die bislang ihre Erzeugnisse in den Städten verkauft haben und denen nun durch die Supermärkte mehr und mehr die Lebensgrundlage entzogen wird. All diese Aspekte müssen in der Planung einer Produktivitätssteigerung im indischen Agrarsektor berücksichtigt werden und es wird auch hier deutlich, dass sich das Problem längst nicht mehr nur auf nationalstaatlicher oder föderaler Ebene lösen lässt.
Neben fünf weiteren Kapiteln, in denen sich Rothermund mit Fragen der politischen Geschichte, genauer gesagt mit Indiens Weg zu einem territorialen Nationalstaat, dem politischen System, und der gewandelten außen- bzw. weltpolitischen Rolle des Landes befasst, bilden die insgesamt sechs Kapitel, in denen schließlich verschiedene Aspekte der indischen Gesellschaft beleuchtet werden, den dritten Schwerpunkt seines Buches. Dass die Frage des gesellschaftlichen Wandels wiederum sehr eng mit den Veränderungen im politischen System zusammenhängt, zeigt Rothermund sehr eindrücklich am Beispiel der positiven Diskriminierung bzw. Reservierungsquoten für Stellen im öffentlichen Dienst und seit kurzem auch für Plätze an Schulen und Universitäten. Die Frage, wer als "benachteiligt" oder "rückständig" gilt und was daraus folgt, beschäftigt und polarisiert die nachkoloniale indische Gesellschaft seit Jahrzehnten. Insbesondere die Einführung von Reservierungsquoten für Stellen im öffentlichen Dienst für die sogenannten Other Backward Classes (OBC) wurde seitens der ursprünglich von höheren Hindu-Kasten getragenen hindunationalistischen Bewegung als Bedrohung und Versuch der "Spaltung" der Hindu-Gemeinschaft interpretiert und rief heftige Gegenreaktionen hervor. Sie trafen insbesondere die indischen Muslime, die in den 1980er und 1990er Jahren verstärkt zur Zielscheibe von politischer Agitation und Gewalt seitens der Hindunationalisten wurden.
Im Zentrum der Debatte über Kategorien und Reservierungsquoten steht bis heute die Kritik an der völlig unzureichenden Datengrundlage für diese Klassifizierung von mehreren Hundert Millionen Menschen als OBC und zum zweiten die Frage der Definition von "Rückständigkeit", die es bis heute nicht gibt. Es klingt dennoch nach einer recht positiven Bilanz, wenn Rothermund von einem "OBC-Phänomen" spricht, da "Hunderte von Kastengruppen auf diese Weise buchstäblich auf einen Nenner" gebracht worden seien, die "früher meist getrennte Wege" gingen, und dass die Stimmen der geschätzten 400 Millionen OBC-Angehörigen für die Parlamentswahlen 2009 entscheidend sein werden. Allerdings fehlt hier ein ergänzender Hinweis, dass Kategorien wie OBC und die bereits zuvor bestehenden Scheduled Castes (SC) und Scheduled Tribes (ST) nicht nur auf die Hindu-Bevölkerung, sondern auch auf die Angehörigen anderer Religionsgemeinschaften angewendet werden.
Der Eindruck, dass es sich bei den genannten Klassifizierungen um ein exklusives Phänomen der hinduistischen Mehrheitsgesellschaft handelt, wird auch dadurch verstärkt, dass der Abschnitt zur "politischen Rolle von Kastengruppen" in einem Kapitel verortet ist, welches den Titel "Kasten in einer sich wandelnden Gesellschaft" trägt und worin ausschließlich die Hindu-Gesellschaft in Indien behandelt wird. Hier wäre es sinnvoll gewesen, darauf hinzuweisen, dass Kasten auch ein religionsübergreifendes Merkmal der nicht minder komplexen Sozialstrukturen anderer Gemeinschaften sind, also etwa auch der indischen Muslime, die gleichermaßen als Teil dieser sich "wandelnden Gesellschaft" sichtbar gemacht werden sollten. Hilfreich wäre auch ein Hinweis darauf, dass die OBC-Klassifizierung nicht zuletzt deswegen kontrovers diskutiert wird, da beispielsweise die sog. OBC-Muslime selbst innerhalb dieser Gruppe gegenüber den Hindu-OBCs eindeutig benachteiligt sind, denn das stellt die Annahme einer übergreifenden OBC-Solidarität oder gar –Identität doch unter andere Vorzeichen.[1] Neben dieser Problematik geht Rothermund hier leider auch nicht auf die heutige gesamtgesellschaftliche Diskriminierung der Muslime in Indien ein. Nur in einem kurzen Abschnitt befasst er sich mit dem Thema "Konflikte zwischen Hindus und Muslimen", das wiederum im ersten Kapitel zur politischen Geschichte Indiens eingegliedert ist.
Die Ausführungen zur gegenwärtigen Sozialordnung der indischen Gesellschaft beschränken sich daher fast ausschließlich auf die Hindus und wenn Rothermund dennoch am Ende des zwölften Kapitels davon spricht, dass "Indien ein verwirrendes Panorama vieler sozialer Gruppen" zeige, die "miteinander leben, aber auch miteinander in Konflikt geraten", so vermisst man spätestens an dieser Stelle ein ergänzendes Kapitel zu all den anderen Gruppen und Gemeinschaften, die auch zur heterogenen Gesellschaft Indiens gehören.
Gerade vor diesem Hintergrund scheint auch eine Aussage Rothermunds zum Thema der religiösen Konversion problematisch. So folgert er aus der hohen Bedeutung der familiären und traditionalen Gemeinschaft: "All das hat die Hindus weitgehend gegen Konversion immunisiert, denn Konversion bedeutet für den Hindu nicht einfach einen individuellen Glaubenswechsel, sondern den Verlust des sozialen Umfeldes, in dem er aufgewachsen ist." Das Thema Religionsübertritte besitzt jedoch gegenwärtig eine solche Sprengkraft in Indien, dass auch hier eine Erläuterung notwendig gewesen wäre. Gerade den Hindunationalisten sind die sowohl auf kollektiver als auch auf individueller Ebene erfolgenden Übertritte - insbesondere von Dalits - vom Hinduismus zum Christentum, Islam oder einer anderen Religion ein Dorn im Auge. Wären Hindus tatsächlich "immun" dagegen, so hätte es wohl kaum in einzelnen Bundesstaaten Bemühungen gegeben, sog. Anti-Konversions-Gesetze einzuführen.[2] Während sich ein zunehmend aggressives Vorgehen gegen Personen und Aktivitäten beobachten lässt, die mit Missionierungstätigkeiten in Indien in Verbindung gebracht werden, werden die verstärkten Missionierungsaktivitäten aus dem Hindutva-Umfeld häufig übersehen, zumal hier im offiziellen Sprachgebrauch selten von religiösen Übertritten oder Konversionen die Rede ist, sondern von einer "re-affirmation of faith". [3]
Zwar erfüllt dieses Buch nicht, was der Klappentext ankündigt, da es gerade nicht die Frage beantworten will, "was der indische Boom für den Westen bedeutet". Vielmehr empfiehlt es sich als spannende und gewinnbringende Lektüre für Indienkenner und für Indieninteressierte, die sich noch nicht so intensiv mit dem Land befasst haben. Es macht die besondere Qualität dieses Buches aus, dass hier nicht nur ein "Experte" und renommierter Historiker sehr anschaulich beschreibt, wie stark sich die Geschichte in der Gegenwart wieder findet und welche Weichen daraus für die Zukunft Indiens gestellt werden, sondern dass er dies vor allem mit der Leidenschaft eines Menschen tut, dessen Herz spürbar für das Land und seine Bewohner schlägt.
Dietmar Rothermund (2008): Indien. Aufstieg einer asiatischen Weltmacht. München: C.H.Beck. 336 S., 26,90 €, ISBN 978-3-406-57067-4.
[1] Vgl. dazu etwa Seema Chishti: "Schools, jobs, poverty, land ownership: on all these counts, Muslims worse off than OBCs", in: Indian Express, online veröffentlicht am 31. Okt. 2006.
[2] Vgl. Narayan Bareth: "State to bar religious conversion", in: BBC News, online veröffentlicht 23. Feb. 2005.
[3] Vgl. dazu auch: Cornelia Mallebrein: "Orissa brennt. Erneute hindunationalistische Pogrome in Indien", online veröffentlicht unter: http://www.suedasien.info/nachrichten/2574; Thomas Krüppner: "Konversion und Rekonversion im Hinduismus. Die Entwicklung der Shuddhi-Bewegung als Antwort auf die empfundene Angst vor der Islamisierung Indiens", online veröffentlicht unter: http://www.suedasien.info/analysen/1685 und Nadja-Christina Schneider: "Konversion zum Islam vs. Neubestätigung des hinduistischen Glaubens. Weshalb Religionsübertritte in Indien so unterschiedlich wahrgenommen werden", online veröffentlicht unter: http://www.suedasien.info/analysen/1613.
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