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12. Oktober 2008. Rezensionen: Wirtschaft & Soziales - Indien Arrangierte Ehen heute

Über die Wandlungsfähigkeit indischer Traditionen

Mareile Hankeln hat den begrüßenswerten Versuch unternommen, die Komplexität des indischen Ehekonzepts genauer unter die Lupe zu nehmen. Herausgekommen ist dabei ein erfreulich verständlicher und äußerst lesenswerter Band, der sowohl in traditionelle Konzepte einführt, als auch zeitgenössische Entwicklungen unter dem Druck von Globalisierung und sozialem Wandel in den Blick nimmt.

Dass die meisten Ehen in Indien von den Eltern arrangiert werden, dürfte spätestens seit der Bollywood-Invasion auch in Deutschland bekannt sein. Im Film wird das traditionelle Szenario von den Hauptdarstellern häufig durch eine von den Eltern unerwünschte Liebesgeschichte durchkreuzt, die letztendlich, nach aufwühlenden Auseinandersetzungen, jedoch abgesegnet wird. Der Zuschauer kann aufatmen, wenn die Protagonisten trotzdem in großem Stil Hochzeit feiern, und alle verlassen erleichtert den Kinosaal.

Doch auch wenn "love marriages" oder Ehen, die auf die Wahl der beiden Partner hin geschlossen wurden, ein zunehmendes Phänomen sind, so entspricht die Realität für 90% der Bevölkerung doch einer durch Eltern oder Verwandte arrangierten Ehe. Angesichts der gesellschaftlichen Veränderungen durchläuft jedoch auch das Konzept der arrangierten Ehe einen Wandel, der sich vor allem in der stärkeren Beteiligung der heiratsfähigen jungen Menschen am Auswahlprozess ihrer zukünftigen Ehepartner zeigt.

Hand in Hand mit dem Wirtschaftsboom der letzten Jahre geht eine vielschichtige Veränderung der indischen Gesellschaft, denn die Liberalisierung der Wirtschaft in den frühen 1990er Jahren hatte eine Öffnung auf allen Ebenen zur Folge. Auch durchliefen indische Megastädte wie Mumbai oder Bangalore innerhalb von anderthalb Jahrzehnten eine enorme Transformation. Nicht zuletzt die aufblühende Medienlandschaft, sprich Satelliten- und Kabelfernsehen, trugen dazu bei, dass westliche Ideen und Rollenbilder zunehmend die urbane Jugend Indiens begannen zu beeinflussen. Die sogenannte "Kommunikationsrevolution" durch Mobiltelefone und Internet tat ihr Übriges. Wie andernorts auch ist die urbane Mittelschicht der Hauptempfänger dieser neuen Eindrücke und ist durch Geschäftsbeziehungen, Reisen und Auslandsstudien am stärksten westlichen Einflüssen ausgesetzt.

Angesichts des neuen Lebensstils und der veränderten Geschlechterbeziehungen ist die Frage nach der Zukunft arrangierter Ehen mehr als berechtigt. Mareile Hankeln geht in ihrem unlängst erschienenen Buch "India’s Marriages Re-Arranged" dieser Frage auf den Grund und wählt als Fokus die urbane Mittelschicht.

The assumption is that people of this class are confronted with ‚modern’ thoughts and might re-consider traditional values such as the system of arranged marriage, due to being able to access Western media and consumer goods. (Hankeln 2008: 13).

Zwar gibt es zahlreiche Veröffentlichungen zu Teilaspekten des Komplexes "arrangierte Ehe", doch mangelte es bislang an einem gut verständlichen Überblickswerk, das sowohl den Kontext indischer Eheschließungen eingehend beleuchtet, als auch jüngste Entwicklungen thematisiert. Mareile Hankeln versucht sich an einem  solchen Überblick, mit dem sie hofft, diese Lücke schließen zu können. Auch wenn ihr Anspruch, alle Aspekte arrangierter Ehen abzudecken, vielleicht etwas hoch gegriffen scheint, so bereichert sie den Diskurs vor allem durch ihre Interviews mit Experten unterschiedlicher Fachrichtungen, die sie zu diesem Thema befragte. Die Inhaber zweier Heiratsagenturen in Pune eröffnen hier einen ganz anderen Blickwinkel als beispielsweise die renommierte Soziologin Patricia Uberoi oder die Direktorin des ILS Law College in Pune, die Hankeln zu rechtlichen Grundlagen von Eheschließungen in Indien befragte.

Eingangs werden Aspekte indischer Kultur wie die Bedeutung der Familie und des kollektivistischen Denkens eingehend porträtiert, um die Entstehung und das Weiterbestehen arrangierter Ehen zu verstehen. Sehr gelungen ist das ausführliche Kapitel über den Einfluss der indischen Großfamilie ("Joint Family"), die Hankeln als Verkörperung der kollektivistischen Ausrichtung der indischen Gesellschaft porträtiert und somit dem Individualismus westlicher Gesellschaften gegenüberstellt. "[…] a person is perceived first and foremost as part of a whole, namely being embedded in the complex hierarchical system within the network of family and community, and not as a single individual"(Hankeln 2008: 28) schreibt Hankeln und geht unter anderem auch auf die Konnotation von Themen wie Abhängigkeit, Kontrolle und Liebe im indischen Kontext ein. Insgesamt gelingt es der Autorin, die Bedeutung von Ehe als einer Verbindung von zwei Familien und die Tragweite solcher Allianzen auf den Punkt zu bringen, auch wenn die Erläuterung der religiösen Dimension etwas knapp ausfällt. Insbesondere die Kapitel zu  legalen und sozialen Dimensionen geben einen prägnanten Überblick. Der Abschnitt über die Historie der arrangierten Ehe enthält allerdings eher eine Definition dessen, was als arrangierte Ehe verstanden werden kann, als ein historischen Überblick.

Das ganze fünfte Kapitel widmet sich mit gut gegliederten Unterkapiteln den sich wandelnden Heiratsmustern, wobei zuerst die verschiedenen treibenden Kräfte des Wandels in den Fokus genommen werden und anschließend die diversen Dimensionen von Ehe (religiös, ökonomisch, legal und sozial) im Detail auf Veränderungen hin analysiert werden. Hankeln schließt mit der Diskussion einiger aktueller Beiträge der indischen Presse, vor allem drei Ausgaben der "India Today", die das Thema "Rearranged Marriages" zur Titelgeschichte machten sowie einem Hinweis auf den neuen Markt der "Matrimonial Websites", indischer Online-Heiratsportale.

Auch wenn es einer Sisyphus-Aufgabe gleichkommt, ALLE Aspekte indischer Eheschließungen abzudecken, so gelingt Hankeln doch ein guter Überblick über die Thematik. Er beschreibt präzise, verliert sich jedoch nicht in Details und bleibt häufig auf einer eher theoretischen übergeordneten Ebene. Mehr lässt sich auf knapp 70 Seiten kaum leisten, so dass sich hier eine gelungene Einführung in die verschiedenen Aspekte und Problematiken arrangierter Ehen in Indien findet.

Wünschenswert wäre allerdings eine etwas differenziertere Schlussfolgerung auf die Frage nach dem "Re-Arrangement" in der urbanen Mittelschicht gewesen. Auch wenn sich diverse Argumente durch Hankelns Buch ziehen, so vermisst man eine prägnante Zusammenfassung der identifizierten Veränderungen zum Abschluss. Hankelns Fazit besteht hauptsächlich darin, festzustellen, dass sich das indische Familien- und Gesellschaftssystem unerwartet resistent gegen drastische Veränderungen erweist und sich gleichzeitig sehr flexibel und anpassungsfähig gegenüber neuen Umständen und Anforderungen zeigt. Arrangierte Ehen seien weiterhin die Norm, auch wenn sich der Auswahlprozess und die Anforderungen an die zukünftigen Partner stark gewandelt hätten.

Fast 50 Seiten Anhang enthalten einige interessante Zusätze wie die transkribierten Interviews samt Kurzbiografien der Befragten, Formulare indischer Heiratsagenturen, sowie eine Beispielseite der indischen Heiratsvermittlungswebseite www.shaadi.com.

Das Buch

Mareile Dorothee Hankeln: India's Marriages Re-Arranged. Changing Patterns Among the Urban Middle Class. Verlag Dr. Müller 2008, 144 Seiten. 59,00 Euro.

Leseprobe

Introduction (Hankeln 2008: 1-2)

"On 13 September 2006, the ARD, one of the public channels in Germany, screened a documentary titled Die Liebesprüfer: Behörden im Kampf gegen Scheinehen ("Love Examiners: The Authorities and Their Battle against Bogus Marriages"). This programme dealt with authorities trying to detect couples who have not married for love but where the true reason for the legal bond was to dodge the German immigration laws.

A basic assumption of the story was that the only valid reason for a marriage in Germany and in Western cultures is 'love'; other motives – like marrying for money or family connections, are viewed with suspicion as running against the highly valued romantic ideology. The case mentioned above, however, is a special one, as the aim is a breach of a special valid law. The incentive to enter marriage in this particular case was gaining a residence permit and once detected, this 'invalid' marriage led to severe consequences for the couple.

While watching the documentary, the question occurred to me how this would be perceived in the Indian context, where love is not at all the primary basis for a marriage. The pattern, which today is still prevalent in Indian society, is that of an arranged marriage. Even today, in a globalised world, where one encounters different cultures and value systems, around 90 per cent of Indians are still in favour of an arranged marriage (cf. Uberoi, 2006: 24).

Imagine you meet the person you are bound to spend the rest of your life with, only on the day of your marriage. This still happens in the rural areas of India. However, in the urban context, the ways of entering arranged marriages are about to change. This changing pattern of arranged marriages in India is precisely where the focus of this study lies.

The concept of arranged marriages is alien to our Western culture, and to many Westerners confronted with the thought of having others picking one’s future spouse is definitely unacceptable, if not unimaginable. Why should someone give up part of his or her freedom and let others influence his or her life, even more, have a say in a deeply personal aspect of life? In Western cultures it is rather common to let a relationship become established before introducing the partner to family members. The decision to get married is made solely by the couple, and the parents are informed of this decision only after it has been made. Even though the opinion of the family members might ultimately be influential, the responsibility and initiative in getting married lies, almost always, with the individuals involved.

Curiosity grew when I witnessed an Indian friend having her marriage arranged. What seemed even more unusual to me was the fact that her parents themselves had entered a so-called love marriage  and would not have opposed a love marriage of their daughter – a marriage entirely of her choice. The very fact that she had not come across a suitable candidate by a certain age made the matter urgent, and demanded quick action on the part of the parents. Through many serious conversations with her, it became clear to me that the acceptance and decision in favour of an arranged marriage depends on many different factors. These may not be apparent at first glance: religion, social prestige and status, economic factors, special marriage laws as well as caste, class and age. This study intends to deal in depth with Indian arranged marriages by investigating the arguments of one of India Today’s  recently published title articles (India Today, October 18, 2004): "Rearranging Marriages. Matchmaking has shed its rigidity and become practical, personal and adaptable". In what way have arranged marriages become 'practical, personal and adaptable' for young Indians who are about to get married? Are these changes reason enough for young educated Indians – who are perfectly aware of our Western way of entering marriage exclusively through personal choice – to still favour an arranged marriage?

The very fact that India Today, one of the most important monthly magazines, has chosen to make the topic of arranged marriages its cover story proves the value which is ascribed to this issue. In the course of this study, arranged marriages especially among the Indian middle class will be explored, giving particular attention to recent changes. An answer is sought to the central question:

How are India’s marriages re-arranged?"

 

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