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New Delhi. Indien verändert sich dramatisch seit den schrecklichen Massakern gegen indische Bürger/innen moslemischen Glaubens im Februar/März und dem danach eindeutigen Wahlsieg der Hindu-Nationalisten im Dezember 2002 in Gujarat.
Die indische Innen- sowie regionale Außenpolitik wird zunehmend von der Strategie der regierenden Indischen Volkspartei (Bharatiya Janata Party – BJP) bestimmt, eine extreme Polarisierung entlang religiöser Trennlinien nach innen und verstärkt auch nach außen zugunsten des politischen Machtgewinns voranzutreiben. Unter den weit überwiegend zu den Oberkasten zählenden hinduistischen Mittelschichten findet das innere Feindbild der "Moslems", vor allem geschürt vom eindeutig fundamentalistischen Weltrat der Hindus (Vishwa Hindu Parishad – VHP), durchaus großen Anklang. Es wird durch einen nach dem Ende der Generalmobilisierung gegenüber dem Erzrivalen Pakistan intensivierten "Kalten Krieg" und das Thema der Infiltration von moslemischen Bürgern aus Bangladesch - angeblich in den letzten 20 Jahren insgesamt 15-20 Millionen - nach Indien verstärkt.
L. K. Advani, stellvertretender Premier- und Innenminister, repräsentiert zunehmend das eigentliche Machtzentrum innerhalb der Regierung. Der als besonnen geltende, aber gesundheitlich sichtlich angeschlagene Premierminister Atal Behari Vajpayee ist nur noch ein Schatten seiner selbst. Der überzeugende Wahlsieg der BJP in Gujarat - nach einer ganzen Serie von Niederlagen in verschiedenen Bundesstaaten seit der Unterhauswahl 1999 - ermutigt das von der Kaderorganisation des Nationales Freiwilligen-Korps (Rashtriya Swayamsevak Sangh - RSS) und dem VHP gesteuerte Lager des extremen Hindu-Nationalismus, diese Strategie auf diejenigen Bundesstaaten zu übertragen, in denen, vorentscheidend für die spätestens 2004 fälligen Unterhauswahlen, noch in diesem Jahr das Landesparlament gewählt wird. Der RSS erklärte Gujarat offen zum Laboratorium für seine Strategie und seinen Machtanspruch.
Abgesehen von dem kleinen Bergstaat Himachal Pradesh, dort regiert die BJP, wollen die Hindu-Nationalisten vor allem in Delhi, Rajasthan, Madhya Pradesh und in Karnataka den Congress (I) von der Macht verdrängen und damit bereits eine wichtige Vorentscheidung für die – möglicherweise dann sogar vorgezogenen - Wahlen zum Unterhaus 2004 erzwingen.
Es scheint so, dass der "liberale Flügel" der BJP um Premierminister Vajpayee und Finanzminister Jaswant Singh diese aggressive Strategie entgegen seinen Überzeugungen mittragen muss. Kritiker unterstellen, trotz der VHP-Angriffe auf den Premier, sogar ein abgekartetes Spiel.
Unter dem außerparlamentarischen Druck von RSS und VHP strebt die Regierung an, endlich eine rechtliche Lösung zu finden, so dass mehr als 10 Jahre nach dem widerrechtlichen Abriss der Babri-Moschee in Ayodhya durch Hindu-Fundamentalisten - rechtzeitig vor den Unterhaus-Wahlen 2004 - mit dem Bau eines Tempels zu Ehren des Hindu-Gottes Ram an gleicher Stelle werbewirksam und die "Massen" mobilisierend begonnen werden kann.
Am 22. Februar will der VHP bei einem großen Treffen (Dharam Sansad) mit Tausenden von Priestern (Sadhus) in New Delhi angeblich endlich den Baubeginn für den in seinen Einzelteilen bereits hergestellten Ram-Tempel festlegen. Der demagogische Dr. Praveen Togadia, Internationaler VHP-Generalsekretär und radikale VHP-Speerspitze mit enervierenden Angriffen auf Vajpayee, droht, falls die drei großen nordindischen Tempel des Hinduismus in Ayodhya, Varanasi (Benares) und Mathura nicht freiwillig von den Moslems gewährt würden, dann werde seine Organisation die während der Moghul-Herrschaft von 1527-1857 angeblich zerstörten 30.000 hinduistischen Tempel zu einem zentralen politischen Thema machen. Togadia, Anhänger des Theorems des "Clash of Civilisations", forderte, im offenen Widerspruch zur offiziellen RSS- und Regierungsposition, Vajpayee ungeniert auf, die Irak-Politik der Bush-Regierung uneingeschränkt zu unterstützen.
Im Sinne dieser Konfrontations-Strategie gilt es, trotz der großen regionalen und sozialen Unterschiede im indischen Vielvölkerstaat, ein entsprechendes gesamtgesellschaftliches Klima zu schaffen. Die Opposition stellt programmatisch, z. B. mit dem "weichen Hindutva-Ansatz" des Congress (I) in Gujarat, dem Handikap seiner Spitzenkandidatin Sonia Gandhi - Witwe des Ex-Premiers Rajiv Gandhi sowie eine geborene Italienerin - und organisatorisch, auch angesichts nicht endender Querelen zwischen diesen Parteien, bislang keine ausreichende Gegenkraft dar. Wie weit wirtschaftliche Themen, die "Zukunft ohne Arbeitsplätze" mit einer bereits bestehenden Massenarbeitslosigkeit, Korruption und der soziale Ausgleich von der Opposition thematisiert werden können, bleibt abzuwarten.
Einen ersten Hinweis für die Wirksamkeit dieser BJP-Strategie wird das Ergebnis der Ende Februar 2003 in Himachal Pradesh stattfindenden Wahl geben, zumal der Congress (I) dort unter Führung des früheren Ministerpräsidenten Vibhadra Singh über eine echte Gewinnchance verfügt.
Dieser an die Krisenregion Jammu und Kashmir angrenzende Bergstaat mit einer hohen Alphabetisierung und einem ausgeprägten politischen Bewusstsein seiner Wählerschaft weist jedoch praktisch keine nennenswerte moslemische Bevölkerung auf.
Wird der Ram-Tempel erneut die Massen zugunsten der BJP im Hindi-Herzland mobilisieren, ähnlich wie 1989 und 1991? Aus dem Lager der BJP-geführten National-Demokratischen Allianz (NDA), deren Regierungsbilanz nicht unbedingt eine eindeutige Wiederwahl als selbstverständlich erscheinen lässt, gibt es nur zaghaften Widerspruch gegen diese Strategie.
Jaipal Reddy, Hauptsprecher des Congress (I), sieht die NDA-Alliierten, allen voran die in Andhra Pradesh regierende Telugu Desam Party (TDP) unter dem IT-Propagandisten Chandrababu Naidu, speziell nach den Ereignissen in Gujarat als endgültig von der BJP abhängige und gefügige Partner, die nicht mehr entschieden den indischen Säkularismus verteidigen würden.
Die BJP versucht, mit ihrem emotionsgeladenen hindu-nationalistischen Appell an die Wählerschaft, den Congress (I) in die Rolle des Bewahrers von Minderheits- und speziell Moslem-Interessen und damit ins politische Abseits zu drängen. Sie besetzt mit ihrer nebulösen politischen Philosophie eines "integralen Humanismus" und "kulturellen Nationalismus" den politischen Diskurs und plädiert offen für ein größeres, vereinigtes Indien (Akhand Bharat) auf der Grundlage einer freiwilligen Konföderation mit Pakistan.
In diesem Jahr werden mit den Landtagswahlen wohl die Weichen für einen entscheidenden gesamtindischen Trend gestellt. Falls die BJP mit ihrer Strategie bei den Landtagswahlen erfolgreich sein sollte, dann zeichnet sich ein Machtkampf von epischem Ausmaß ab, in dem der Grundcharakter der Indischen Union und der sie prägenden Grundwerte bestimmt wird.
In diesen Tagen versucht der VHP bereits, 70 000 Dreizacke (Trishuls), die nicht nur als religiöses Sinnbild gelten sondern auch als nicht ungefährliche Waffe bei bürgerkriegsähnlichen Unruhen eingesetzt werden können, nach dem Vorbild in Gujarat an Dalits ("Unterdrückte" bzw. "Unberührbare") und an Adivasis ("Ursprungsbewohner") in Rajasthan - gegen den Widerstand der dortigen Congress (I)-Regierung - zu verteilen, um diese überwiegend benachteiligten gesellschaftlichen Gruppen als "Teile" der Hindu-Gemeinschaft wohl mit Blick auf die dortige Moslem-Minderheit zu "ermächtigen" und politisch zu instrumentalisieren.
Jasjit Singh, langjähriger Direktor des Institute for Defence Studies and Analyses, meint, "der extreme Hindu-Nationalismus kann, in einem Land von Minderheiten, zur Entfremdung der indischen Bürger moslemischen Glaubens mit einem Potential von 20 Millionen anti-nationaler Moslems und langfristig zu einer Auflösung der Indischen Union führen." Indiens ehemaliger Premierminister V. P. Singh unterstellt kategorisch: "Letztendlich streben die Kräfte des Sangh Parivar eine autoritäre Herrschaft an."
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