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Mitte Juni 2003 besuchte der indische Premierminister Atal Behari Vajpayee seinen chinesischen Amtskollegen Hu Jintao in Peking. Es war der erste Staatsbesuch eines indischen Regierungschefs im Land der Mitte seit über einem Jahrzehnt. Die Beziehungen zwischen den beiden Ländern sind bekanntlich recht kompliziert, sei es nun die Tibet-Frage, die chinesisch-pakistanische Zusammenarbeit im militärischen Sektor oder auch die ungeklärten Grenzverläufe zwischen Indien und China. Während sich der pakistanische Präsident Pervez Musharraf in den Vereinigten Staaten bei seinem derzeit wichtigsten Verbündeten und Geldgeber George W. Bush aufhielt, lobten Vajpayee und Jintao ihre neue Freundschaft in den höchsten Tönen.
In Anbetracht der veränderten sicherheitspolitischen Lage in der Region seit dem 11. September 2001 sehen sich beide Staaten dazu gezwungen, einen Ausgleich anzustreben. Beide Länder hatten sich zwar infolge der Terroranschläge hinter die USA gestellt, stehen aber trotzdem der US-Politik in Bezug auf Asien und den Mittleren Osten kritisch gegenüber. Der wachsende Einfluss der USA auf die zentralasiatischen Nachbarstaaten und die dauerhafte Stationierung von US-Truppen in der Region lassen in Neu Delhi und Peking Alarmsirenen ertönen. Ihre Interessen scheinen sich dabei aber zu unterscheiden: Die Volksrepublik China nutzte die Annäherung an Indien dazu, das befreundete Pakistan darauf hinzuzweisen, dass man über die enge Anbindung Islamabads an die USA nicht sehr erfreut ist. Die indische Seite wiederum signalisierte der US-Regierung, dass sie in ihrer derzeitigen Bevorzugung Pakistans nicht zu weit gehen sollte.
Einer Annäherung zwischen beiden Staaten stand bislang die indische Unterstützung des Dalai Lama und der über 100.000 in Indien lebenden Exiltibeter entgegen. Bisher fanden diese bei ihrer friedlichen Forderung nach einem "freien Tibet" in Neu Delhi offene Ohren, auch wenn der indische Staat seit der chinesischen Annexion Tibets im Jahre 1954 es offiziell als einen Teil Chinas betrachtet. Vajpayee vollzog bei seinem Besuch jedoch einen kleinen aber wichtigen Richtungswechsel. Denn durch die Annerkennung der Autonomen Region Tibets (TAR) als einen Teil des Territoriums der Volksrepublik China, rückte er von der langfristigen indischen Linie ab, die Tibet als historische Einheit betrachtet. Die TAR umfasst aber nur einen Teil hiervon. Implizit akzeptierte die indische Seite somit auch die Abtrennung tibetischer Siedlungsräume und ihre Eingliederung in andere chinesische Provinzen, die vor allem auf eine Abschwächung der tibetischen Interessen durch die chinesische Zentralmacht abzielt. Insofern beinhaltet ihre neue Sichtweise auch eine geografische Verschiebung.
Im Nachhinein bemühte sich die indische Regierung allerdings, ihre Erklärung abzuschwächen und betonte, dass man keine Änderung in der Tibet-Politik vorgenommen hätte, sondern dass sich diese mit der langjährigen Richtung der indischen Politik decke. Die Exiltibetische Regierung in Dharamsala hielt sich in ihrer Kritik zurück. "Premierminister" Samdhong Rinpoche betonte, dass man vor der China-Reise als auch derweil in Kontakt zur indischen Regierung gestanden habe und grundsätzlich intensivere indisch-chinesische Kontakte begrüße. Diese seien auch für die Lösung der Tibet-Frage unerlässlich. Der Dalai Lama selbst äußerte sich während seiner Pilgerreise in Ladakh und auch danach nicht zur indisch-chinesischen Tibet-Erklärung.
Eines der wichtigsten Ergebnisse des indisch-chinesischen Gipfeltreffens ist das bilaterale Handelsabkommen, das unter anderem den beiderseitigen Warenverkehr regelt. Jedoch beinhaltet dieses auch ein Entgegenkommen Pekings in der Sikkim-Frage, da Peking darin erstmals die Herrschaft Indiens über das Himalaja-Königreich anerkennt.
Eine Vertiefung der wirtschaftlichen Interessen hat für beide Staaten eine erhebliche Bedeutung, die sie anscheinend dazu bewegt, von wesentlichen Konfliktpunkten abzurücken oder sie zumindest auf ihrer Agenda weiter zurückzustellen. Das gegenseitige Handelsvolumen hat sich zwar in den letzten Jahren schon erheblich ausgeweitet, wobei das Wachstumspotential aber noch längst nicht als ausgeschöpft gilt. Besonders im Software- und Informatiksektor erhofft sich die indische Seite gute Absatzchancen auf dem chinesischen Markt und die Volksrepublik möchte vor allem ihre Industrieprodukte stärker nach Indien exportieren.
Generell ist China momentan im Vorteil, denn vor einem Vierteljahrhundert hatten beide Staaten ein nahezu gleiches Pro-Kopf-Einkommen. Inzwischen hat die Volksrepublik seinen südwestlichen Nachbarstaat aber bei der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung offensichtlich abgehängt: Das Pro-Kopf-Einkommen ist doppelt so hoch wie in Indien und auch in der infrastrukturellen Entwicklung liegt das Reich der Mitte deutlich in Führung. Misswirtschaft und Korruption sind dessen ungeachtet in beiden Staaten ein schwerwiegendes Problem. Allerdings ist der Transformationsprozess in der Volksrepublik von einem maoistisch-kommunistischen System hin zu einer freien Marktwirtschaft längst noch nicht abgeschlossen und dringende politische Reformen werden nur sehr vorsichtig angegangen. Hieraus ergeben sich in der wirtschaftlichen Entwicklung wiederum Aufholchancen für Indien.
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