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28. Februar 2005. Nachrichten: Natur & Umwelt - Indien Wieder raus aufs Meer

Die Fischerfamilien im Süden Indiens wollen nach dem Tsunami ihr Leben wieder selbst in die Hand nehmen

Das verheerende Seebeben, das Weihnachten Süd- und Südostasien erschüttert hat, verschwindet nach und nach aus den Medien. Doch auf die Nothilfe folgt der mühsame und keineswegs ohne Probleme verlaufende Wiederaufbau. Schritt für Schritt müssen und wollen Millionen Menschen ins normale Leben zurückkehren - auch in Indira Nagar und Chinnur, zwei Fischerdörfern an der indischen Südostküste.

"Gegen fünf Uhr sind wir aufs Meer hinausgefahren. Als wir ein paar Stunden später zurückkehrten, haben wir unser Dorf kaum wiedererkannt." Sudhakar steht auf der Terrasse seines Hauses und zeigt traurig in Richtung Ozean. "Früher konnten wir das Meer von hier aus nicht sehen", sagt er. Über 70 Hütten standen einmal auf dem 300 Meter breiten Streifen zwischen Ortskern und Strand. Daneben Baracken, in denen Fisch verarbeitet und gehandelt wurde. Heute ist davon nichts mehr zu sehen. Und die riesige freie Fläche macht es unmöglich, die einstige Geschäftigkeit in Sudhukars Heimatort Indira Nagar auch nur zu erahnen. Das kleine Dorf - rund 30 Kilometer südlich der Distrikthauptstadt Cuddalore - ist eines von fast 200 in Indiens Unionsstaat Tamil Nadu, die vom Tsunami heimgesucht wurden. Sechseinhalb Wochen ist das inzwischen her.

Unvorhergesehen und brutal hat die Flutwelle in das Leben hunderttausender Familien an der Coromandel Küste eingegriffen. Allein in Indira Nagar starben 72 Menschen. Die meisten von ihnen Frauen und Kinder. Frauen spielen im Wirtschaftskreislauf der Fischer eine wichtige Rolle. Sie sind für das Geschäft zuständig. Am Strand übernehmen sie den Fang der Männer und verkaufen ihn auf den Märkten. Kurz vor neun Uhr wurden viele von ihnen vom Tsunami überrascht. "Plötzlich näherte sich dieses große schwarze Etwas", erinnert sich Sudhukars Vater Narayanaswamy. "Zunächst haben wir gar nicht begriffen, dass es Wasser ist." Der 60-Jährige wurde mit voller Wucht von der Welle erfasst, die mehr als einen Kilometer tief ins Landesinnere getobt ist. Nur mit Mühe konnte er sich an einen Baum klammern. Die Schürfwunden seinen inzwischen verheilt, sagt er lächelnd. Doch psychisch wird er wohl noch lange mit dem Erlebten zu kämpfen haben. Das verraten Narayanaswamys Augen.

Das Haus der beiden Fischer hat dem Tsunami getrotzt - wie fast alle Gebäude links und rechts der staubige Straße, die vom Strand ins Zentrum Indira Nagars führt. Nun wird überall gehämmert und wiederhergerichtet. Die Menschen versuchen, zumindest das Nötigste wieder in Stand zu setzen. "Die Schäden sind sehr groß", meint Saluja. Im Inneren ihres Hauses riecht es modrig. Die Risse an den Wänden sind nicht zu übersehen. "Ungefähr zehn Minuten hat das Wasser im Dorf gestanden", sagt die junge Frau und deutet auf einen zweistöckigen Bungalow auf der anderen Straßenseite. "So hoch." In rund vier Meter Höhe sind die Spuren des Wasser noch deutlich zu erkennen. Tamil Nadus Regierung will in nächster Zeit alle betroffenen Siedlungen abreißen und aus Sicherheitsgründen in mindestens 500 Meter Entfernung vom Strand neu errichten lassen.

Die indische Zentralregierung hat Ende Januar die unmittelbaren Katastrophenhilfe offiziell für beendet erklärt. Nun sollen Kraft und Geld in den Wiederaufbau investiert werden. Doch das ist leichter gesagt als getan. "In den ersten Tagen nach der Katastrophe standen sich die Nichtregierungsorganisationen (NGO) in dieser Gegend gegenseitig auf den Füßen", erinnert sich Kavitha Jayalakshmi, die seit Ende Dezember für das Pondicherry Science Forum, eine kleine NRO, die Hilfe in Indira Nagar und fünf weiteren Dörfern koordiniert. "Einerseits war die spontane und unbürokratische Hilfe überwältigend. Andererseits hätten wir uns gewünscht, dass die Unterstützung von Anbeginn besser abgestimmt worden wäre." So kam es vor, dass manche Dörfer mit Kleidung, Medikamenten und Nahrungsmitteln förmlich überschüttet wurden. Andere hingegen bekamen tagelang nichts. Inzwischen sei dieses Problem jedoch weitestgehend behoben, meint die 23-Jährige mit einem sauren Lächeln. "Nicht zuletzt weil die meisten Organisationen sich längst zurückgezogen haben."

Das Pondicherry Science Forum ist eine der wenigen NGOs, die noch vor Ort sind. Eine der wichtigsten Aufgaben sieht Kavitha darin, den Menschen bei der Überwindung ihrer seelischen Erschütterungen zu helfen. "Viele haben Angehörige und Freunde verloren", sagt sie. "Das kann keiner in so kurzer Zeit begreifen und verarbeiten." Aber auch die materielle Hilfe müsse fortgeführt werden. "Ein großes Problem ist nach wie vor die Unterbringung der Menschen", sagt Kavitha. Während Solujas und Narayanaswamys Familien bis auf weiteres noch ein eigenes Dach über dem Kopf haben, müssen viele mehr schlecht als recht in Auffanglagern leben.

Auch in Chinnur, drei Kilometer südlich von Indira Nagar, hat eine britische Hilfsorganisationen ein solches Camp errichtet. In Sichtweite des Leuchtturms von Porto Novo reihen sich 53 kleine Hütten aus Bambusstützen und Palmblättern aneinander. Besser als die an Lagerhallen erinnernden Wellblech-Behausungen einer indischen NGO seien die allemal, findet Kavitha. Doch die Briten kümmerten sich ebenso wenig um die Versorgung der rund 250 Menschen wie die Regierung. "Wir müssen unsere wenigen Habseligkeiten verkaufen, um einigermaßen über die Runden zu kommen", klagen die Frauen im Lager. "Wo bleibt die Hilfe, die uns immer wieder versprochen wird?" Auch die Männer von Chinnur sind aufgebracht. Seit dem Tsunami sind sie zum Nichtstun verdammt. Dabei würden fast alle von ihnen lieber heute als morgen wieder aufs Meer hinausfahren. "So könnten wir selbst für unsere Familien sorgen", sagen sie. "Und wären nicht auf fremde Hilfe angewiesen."

"Mehr als 90 Prozent aller Betroffenen des Tsunamis in Indien sind Fischerfamilien", erläutert der Journalist V. Sridhar von der renommierten Zeitschrift "Frontline". Sie wieder in Lohn und Brot zu bringen, sei die wichtigste Aufgabe in den kommenden Wochen und Monaten. Nach Sridhars Recherche wurden allein in Tamil Nadu rund 40.000 Boote zerstört. Reparatur oder Neuanschaffung würden rund 60 Milliarden Rupien (rund 1,1 Milliarden Euro) kosten. Zerstörte Netze und andere Gerätschaften noch nicht mitgerechnet. Zwar hat Indiens Finanzminister P. Chidambaram dieser Tage das "Rajiv Gandhi Rehabilitation Package" verabschiedet. Binnen 48 Stunden sollen Banken betroffenen Fischern bis zu zwei Millionen Rupien (35.000 Euro) zur Verfügung stellen - 65 Prozent davon als zinsgünstigen Kredit, 35 Prozent als Zuschuss der Zentralregierung. Doch Tamil Nadus Landesregierung unter Führung der schillernden Chiefministerin Jayalalitha fühlt sich übergangen und hat ihrerseits ein Programm zur Erneuerung der Boote ins Leben gerufen. Die Leidtragenden dieses Kompetenzgerangels werden die Fischer sein. "Ich befürchte, dass es beim Wiederaufbau große Probleme geben wird", meint Sridhar Achsel zuckend. "Und womöglich einen noch größeren Skandal."

"An Geld mangelt es nicht", sagt Sridhars Kollege S. Vishwanathan, der seit Ende Dezember für "Frontline" die Unglücksregionen entlang der Küste bereist hat. Indien habe bewiesen, dass es mit einer Katastrophe solchen Ausmaßes umgehen könne. "Die Nothilfe konnte relativ zügig organisiert und die Versorgung der Menschen gesichert werden. Auch der Ausbruch von Epidemien wurde verhindert." Doch nun müsse die Frage der gerechten und systematischen Verteilung von langfristiger Hilfe beantwortet werden. "Soweit ich es beurteilen kann, sind die Dinge auf einem gutem Weg." Wobei die verheerenden Folgen des Tsunamis nicht innerhalb weniger Wochen behoben werden könnten. Vishwanathan schätzt, dass es mindestens sechs Monate dauern wird, bis weitestgehend Normalität hergestellt ist. Trotz aller Schwierigkeitens gibt er sich optimistisch. "Probleme gibt es immer, aber wir sind auch in der Vergangenheit mit schweren Situationen fertig geworden."

So viel Zuversicht lässt sich den Fischern von Indira Nagar und Chinnur nur schwer vermitteln. Ihre Boote und Netze sind noch nicht repariert. Wann sie wieder aufs Meer hinausfahren können, steht in den Sternen. "Es ist nicht gut, untätig herumzusitzen", sagt Sudhukar. "Wenn es ginge, würde ich am liebsten sofort wieder an die Arbeit gehen." Doch die Normalität lässt auf sich warten.

Im Flüchtlingslager von Chinnur wurden vor ein paar Tagen zwei zusätzliche Bambushütten errichtet - für sieben Neuankömmlinge. Noch bewegen sie sich schüchtern in der fremden Umgebung, denn Tamil Nadus Küste ist nicht ihre Heimat. Die beiden Familien stammen von den Andamanen. Die 1500 Kilometer vom Festland entfernte Inselgruppe der Andamanen und Nikobaren war besonders schwer vom Tsunami getroffen worden. Viele der kleinen Eilande wurden vollkommen zerstört. In den Tagen nach der Katastrophe hat die indischen Armee deshalb hunderte Menschen ausgeflogen. Nun müssen sie sich fern der Heimat und abgeschnitten von ihren Wurzel ein neues Leben aufbauen. Ein Zurück auf die Andamanen gibt es nicht. "Wohin sollen wir denn gehen?", fragt die 30-jährige Mumtaz. "Wo einmal unser Dorf stand, ist heute das Meer."

Quelle: Die Reportage erschien am 9. Februar 2005 in der Tageszeitung Neues Deutschland.

Dieser Beitrag gehört zum Schwerpunkt: Der Tsunami im Indischen Ozean .

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