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14. Mai 2004. Kommentare: Politik & Recht - Indien "Vajpayee wurde abgestraft"

Deutsche und internationale Pressestimmen vom 14. Mai 2004 zum überraschenden Ausgang der Lok-Sabha-Wahl

Die "Financial Times Deutschland" (Hamburg) kommentiert:

Die vor der Parlamentswahl eindeutig favorisierte Regierungspartei BJP hat eine herbe Niederlage erlebt. Der einstmals so populäre dichtende Ministerpräsident Atal Bihari Vajpayee musste nach der Denkzettel-Wahl abtreten. Vajpayee hatte in seiner 'Shining India'-Kampagne ein blendendes Bild der Lage im Lande gezeichnet. Tatsächlich aber kamen seine radikalen Reformen - die Abschaffung von Monopolen und der Verkauf von Staatsbesitz - der bitterarmen Bevölkerungsmehrheit bisher nicht zugute. Dafür haben die Wähler ihn nun geschasst und die Kongresspartei, die den Subkontinent über Jahrzehnte beherrscht hat, zurückgerufen. In der Hoffnung, dass Indien wieder das Land wird, in dem zwar nicht Milch und Honig, dafür aber Strom und Wasser gratis fließen. Doch obgleich die Kongresspartei in einem ideenarmen Wahlkampf die Wiederauflage der Subventionspolitik versprochen hat, ist ihr wirtschaftspolitisch der Weg zurück versperrt. Außer ein paar symbolischen Brosamen wird die designierte Ministerpräsidentin Sonia Gandhi nicht viel zu verteilen haben. Denn den Boom, den die Liberalisierungen auslösten, dürfte sie kaum aufs Spiel setzen. Außenpolitisch will die gebürtige Italienerin, deren Mann Rajiv und Schwiegermutter Indira Ministerpräsidenten waren und beide ermordet wurden, die Entspannungspolitik im Kaschmir-Konflikt fortführen. Diese Politik nach innen zu vertreten, wird ihr allerdings noch schwerer fallen als ihrem hindunationalistischen Amtsvorgänger."

Die linke Tageszeitung "Neues Deutschland" (Berlin) kommentiert:

Nicht nur Indiens Arme zeigten der BJP und ihren Verbündeten die kalte Schulter. Auch die religiösen Minderheiten und alle anderen Verfechter eines säkularen Indiens hatten die hindu-chauvinistische Propaganda großer Teile der BJP-Führung ganz einfach satt und votierten für die Partei Nehrus und - in erstaunlichem Maße auch für die indische Linke. Doch ein Zurück zu Nehru wird es nicht geben. Die Kongresspartei hat die Weltmarktöffnung selbst begonnen. Aber eine Kongress-Regierung mit linker Unterstützung wird eine Prise sozialer sein. Und Indiens säkulare Verfassung wieder hoch halten. 

Die linksliberale Wiener Zeitung "Der Standard" kommentiert:

Sieg für Indiens Demokratie

"Hier war eine Partei und ein Premier, die einen entschlossenen wirtschaftlichen Reformkurs verfolgt haben, der den einstigen Komapatienten in einen Hindu-Tiger verwandelt hat, dessen Wettbewerbsfähigkeit selbst die USA und die EU fürchten. Doch trotz eines kräftigen Wachstums und einer im Vergleich mit früher vernünftigen Außenpolitik wird die Regierung abgewählt, weil sie ihre Leistungen mit dem hochmütigen Slogan "leuchtendes Indien" überverkauft hat und Hunderte Millionen Menschen vor allem auf dem Land vom Aufschwung nichts zu spüren bekommen. Auch in Europa wurden schon erfolgreiche Regierungen aus ähnlichen Gründen in die Wüste geschickt. Indien hat mit der reibungslosen Ablöse der BJP erneut seine hohe politische Reife bewiesen. Trotz großer Armut und gelegentlicher Gewaltausbrüche funktioniert die Demokratie, wenn es wirklich darauf ankommt."

Die konservative Wiener Tageszeitung "Die Presse" kommentiert:

Vajpayee wurde abgestraft

"Indien leuchtet", so lautete der Slogan, den Vajpayee landauf, landab trommelte - sehr zum Überdruss der Inder. Vom Aufschwung profitieren nur die Ober- und Mittelschicht, nicht aber die große Mehrheit, die nach wie vor am Rande des Existenzminimums vegetiert. Sie hat die Arroganz der Macht abgestraft und der Kongress-Partei zu einem sensationellen Comeback verholfen - und der Nehru-Gandhi-Dynastie, die die indische Politik lange dominiert hat. Der Glanz des Namens ist noch nicht verblasst, wie manche schon geunkt hatten."

Die "Neue Zürcher Zeitung" aus der Schweiz kommentiert:

Unerwarteter Machtwechsel in Indien

"Die neue Regierung in Delhi wird homogener sein als ihre Vorgängerin. Die Allianz der Kongresspartei kommt zusammen mit den Stimmen der erstarkten Linksparteien auf eine komfortable Mehrheit. Sonia Gandhi wird somit nicht wie Vajpayee auf die Unterstützung mehrerer Regional- und Kastenparteien angewiesen sein, was ihr das Regieren enorm erleichtern dürfte. Der Kurs der neuen Koalition wird sich kaum grundlegend von jenem der BJP unterscheiden. Die Kongresspartei hat im Wahlkampf betont, im Falle eines Sieges an der Reformpolitik festzuhalten. Auch in der Außenpolitik wird sie kaum vom eingeschlagenen Pfad - der strategischen Partnerschaft mit den USA und der Annäherung an Pakistan - abweichen. Dies stimmt optimistisch für die Zukunft Indiens."

Die Turiner Zeitung "La Stampa" kommentiert:

Das Problem heißt Pakistan

"Das andere große Problem von Frau Gandhi und ihrer Kongresspartei geht die Außenpolitik an, was für Indien vor allem, wenn auch nicht ausschließlich, die Beziehungen zu Pakistan bedeutet, diesem entscheidenden und instabilen muslimischem Land, ein Nuklearland wie auch Indien, das noch dazu ein Objekt der (atomaren) Begierde von El Kaida ist.

Das Tauwetter zwischen Neu-Delhi und Islamabad, trotz der Kaschmirfrage, das von der bisherigen indischen Regierung erreicht wurde, geht die ganze Welt an. Sonia hat versprochen, dass sie diesen Kurs nicht ändern wird. Glückwunsch an Sie und an uns alle."

Die römische Zeitung "Il Messaggero" kommentiert:

Gegen den gefährlichen Hindu-Fundamentalismus

"Für die Kongresspartei und die anderen Oppositionsparteien haben ganz sicher die Muslime gestimmt, die der Politik der nationalistischen Hindus entgegentreten, die zu einer Verschärfung der Spannungen zwischen den Religionen führte, einschließlich zeitweiliger blutiger Konflikte. Außerdem war die Wahl sicher eine Reaktion des verarmten und rückständigen Indiens, des Indiens der Dörfer gegen ein zwar beachtliches wirtschaftliches Wachstum, das das arme Indien aber aussparte und stattdessen einige große Städte und Regionen privilegierte.

Was jetzt aber zählt ist, dass das zweitvolkreichste Land der Erde und die größte Demokratie der Welt nun wieder die Politik des Nationalismus verlässt, die auf gefährliche Weise von einem aggressiven hinduistischen Fundamentalismus durchzogen war, und zu seinen "säkularen" Quellen zurückkehrt, von denen bereits die Väter der Unabhängigkeit träumten."

Die russische Tageszeitung "Kommersant" (Moskau) kommentiert:

Italienische Herkunft wird Gandhi Probleme bereiten

"Die Vorsitzende der Kongresspartei, Sonia Gandhi, hat beste Aussichten auf das Amt des Ministerpräsidenten. Ihre italienische Herkunft macht sie allerdings angreifbar. Es ist zu erwarten, dass die zukünftige Opposition alle Fehler des neuen Kabinetts mit der "unfähigen Ausländerin" erklären wird. Als strategisch denkende Politikerin ist Sonia Gandhi darauf vorbereitet. Notfalls wird sie das Banner der Gandhi-Dynastie an ihre Kinder weitergeben. Sohn und Tochter hatten bereits im Wahlkampf ihre Mutter unterstützt."

Die linksliberale Pariser "Libération" kommentiert:

Sonia Gandhi muss Regierungsfähigkeit beweisen

"Die unerwartete Niederlage der Regierungskoalition ist ein Zeichen der sozialen Wirklichkeit, die im Gegensatz zum wirtschaftlichen Aufschwung steht. Für die Kongress-Partei besteht die Herausforderung darin, die Segnungen des Wachstums den Armen des Landes zukommen zu lassen, ohne den Motor der Wirtschaftsmaschine zu zerstören. Die legendäre Nachlässigkeit der indischen Bürokratie hat sich immer gut mit dem Hause Gandhi arrangieren können, dessen Witwe heute das Kommando übernommen hat. Sie hat noch nicht zu erkennen gegeben, dass sie diese historische Aufgabe meistert. Wenn sie es schaffen würde, wäre das eine noch größere Überraschung als ihr Wahlsieg".

Die Londoner Wirtschaftszeitung "Financial Times" schreibt:

Indien kehrt zur Gandhi-Dynastie zurück

"In einer überraschenden Wende hat die Witwe des ermordeten Rajiv Gandhi die indische Kongress-Partei zurück an die Macht geführt. Dies ist eine bemerkenswerte Übung in Demokratie in einer der größten und unberechenbarsten Demokratien der Welt. Sonia Gandhi, bisher eher als ein Relikt aus der Nehru und Gandhi-Dynastie betrachtet, hat jeden Anspruch auf die Führung Indiens. Ihre Kongress-Partei hat damit begonnen, die unterentwickelte indische Kommandowirtschaft nach außen zu öffnen. Es ist damit zu rechnen, dass unter ihrer Führung die Reformen fortgesetzt werden. Vieles hängt jetzt von der Regierungsbildung ab."

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