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Pune. In diesem Mai 2004 erlebte Indien ein politisches Erdbeben. Der Wahlsieg der Opposition überraschte selbst die Meinungsforscher. Das indische Volk erteilte den von fundamentalistischen Gruppen unterstützten Hindu-Nationalisten eine klare Absage. Es übertrug das Regierungsmandat einer bunten Parteienallianz, die von einer gebürtigen Italienerin geführt wird. Sonia Gandhi hatte die Führung der größten dieser Parteien übernommen, nachdem ihr Gatte, der damalige Ministerpräsident Rajiv Gandhi 1991 einem Selbstmordattentat zum Opfer gefallen war.
Die Möglichkeit, eine gebürtige Ausländerin könne die Geschicke des Staates übernehmen, spielte eine wichtige Rolle im Wahlkampf. Vor mehr als 50 Jahren hatte sich Indien in einem langwierigen Freiheitskampf aus dem Würgegriff der britischen Kolonialherrschaft befreit. Und nun eine Europäerin als Regierungschefin? Unter mehr als einer Milliarde Inderinnen und Inder sei niemand geeignet, das Land zu regieren, fragten sich viele Wähler? Die Hindu-Nationalisten nährten solche Dünkel, indem sie die Loyalität und Landeskenntnis der Gegenkandidatin in Zweifel zogen. Falls Sonia Gandhi die Macht gewönne, drohe der Papst über Indien zu herrschen, so ihre Propagandisten. Doch die meisten Menschen dachten offenbar anders. In Privatgesprächen hörte man immer wieder, der Geburtsort der Kandidatin spiele bei der Wahl keine Rolle. Manche führten Gandhis ausländische Herkunft gar als Pluspunkt an. Mit ihr als Regierungschefin könne sich Indien der Welt als Hüter von Toleranz und Offenheit präsentieren.
Sonia Gandhi lebt seit mehr als 30 Jahren in Indien, besitzt die indische Staatsangehörigkeit und spricht die Landessprache Hindi. In indischen Augen qualifiziert sich die spröde, öffentlichkeitsscheue Hausfrau für die Politik durch ihre Zugehörigkeit zur Gandhi-Familie, die jahrzehntelang die Geschicke des Landes bestimmte. Sonia Gandhi fiel bislang weder durch zukunftsweisende Visionen noch durch besonderes Verhandlungsgeschick auf. Nach dem Wahlsieg hat sich all das geändert.
Denn die Wahlinderin überraschte die Öffentlichkeit mit dem Verzicht auf das Amt der Regierungschefin, aus Gewissensgründen, wie sie betonte. Mit dieser Entscheidung erstickte sie die ausländerfeindliche Kampagne der Hindu-Nationalisten und ersparte dem Land eine quälende, womöglich gewalttätige Debatte. Die Presse lobte ihren Verzicht auf das zweithöchste politische Amt als Beweis dafür, dass sie das indische Ethos verinnerlicht habe, denn Verzicht sei die höchste aller indischen Tugenden. Mit diesem Schritt habe Sonia Gandhi die gesamte politische Klasse in den Schatten gestellt, die als machthungrig, korrupt und dekadent gilt.
Auch in Deutschland wird das Thema "Ausländer" leidenschaftlich diskutiert. Wir müssen uns allmählich eingestehen, dass wir die Hilfe der Anderen brauchen, nicht nur für die Müllabfuhr, auch in der Softwarebranche. Aber Hand aufs Herz: Können wir uns einen Briten, Italiener oder Ungarn als Bundeskanzler vorstellen? Wie mir indische Freunde immer wieder bestätigen, schlägt ihnen in Deutschland oft Misstrauen und Furcht entgegen. Ängstlich wacht die Öffentlichkeit darüber, dass nicht zu viele Fremde ins Land kommen, fordert Abschiebung und Vorbeugehaft.
Indien dagegen ist ein klassisches Einwanderland. Griechen, Perser, Hunnen, Türken und Afghanen, Araber, Südchinesen und Südostasiaten bereicherten die indische Kultur und tragen bis heute zu ihrer Vielfältigkeit bei. Ausländer wurden hier stets willkommen geheißen, solange sie mit friedlichen Absichten kamen.
Verzeihung, auch ich bin ein Ausländer. Ich fühle mich jedoch keineswegs diskriminiert oder ausgegrenzt. Genauso wie Sonia Gandhi und viele andere Ausländer werde ich von Indien mit offenen Armen aufgenommen. Als Schwiegersohn bin ich in die hiesige Sozialstruktur integriert. Die indische Gesellschaft sucht fremde Menschen und Einflüsse nicht abzuwehren, sondern zu integrieren und von ihnen zu profitieren. Hier erwartet man von Ausländern neue Impulse, frische Ideen, eine Bereicherung des eigenen Lebens. Diese Grundeinstellung, auf die der Fremde überall in dem riesigen Land trifft, haben die rechtslastigen Hüter der Tradition offenbar unterschätzt. Ihre ausländerfeindliche Hasskampagne gegen Sonia Gandhi ging nach hinten los. Jetzt sitzen sie auf den Oppositionsbänken – sprachlos.
Quelle: Dieser Text basiert auf einem Hörfunkbeitrag, den die Deutsche Welle am 31. Mai 2004 ausstrahlte.
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