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Im Jahr 1951 sind 57 Prozent der Einwohner Karachis Mohajir. Der Rest setzt sich aus seit Jahrzehnten hier siedelnden Händlergemeinschaften, aus Punjabis und wenigen Sindhis und Balutschen zusammen. Karachi ist eine merkantile und imperiale Gründung. Die Stadt zieht einheimische Dienst- und Beamteneliten und traditionelle, kosmopolitische Händlergemeinschaften an. Für die so nahe gelegene Bauern- und Stammesbevölkerung des Sindh und Balutschistans finden sich in der Stadt nur wenige und eher schlecht bezahlte Berufsstellungen. (Lari 2001)
Den Sindhis bleibt die Handelsmetropole fremd, ihrer politischen Elite gilt die Stadt als Beute, aber nicht als Patrimonium. Auch wenn die Mohajir bis heute ihre Mehrheitsstellung nie verlieren, sind sie doch gezwungen, sich seit den 60er Jahren in immer stärkerem Maße mit weiteren Zuwanderergruppen zu arrangieren. Diese Kooperations- und Konkurrenzverhältnisse prägen und reflektieren zugleich eine Wohn-, Beschäftigungs- und Machtstruktur, die sich aufgrund der ununterbrochenen Größenzunahme und Ausdehnung der Stadt beständig verändert.
Diese Wohn- und Siedlungsstruktur gilt es kurz darzustellen:
Bereits 1947 reicht der knappe Wohnraum für die Flüchtlingsmassen nicht aus. Die Stadt und der Staat überleben aufgrund einer ungehemmten, nicht regularisierten und über Jahrzehnte nicht legalisierten Landnahme- und Squatterpraxis. Der gesamte nicht erschlossene und nicht bebaute Binnenraum der Stadt wird zum Ansiedlungsgebiet der ärmeren Mohajir und des niederen Büro- oder Dienstpersonals. Diese Flüchtlinge und Zuwanderer errichten ihre aus Strohmatten geflochtenen Hütten auf den Rasenflächen neben den Ministerien, auf den Freiflächen im Umkreis der Bahnhöfe und des Karachi Cantonments, entlang der Böschungen der wenigen Flüsse und der offenen Kloaken. Im Zeitraum weniger Jahre verwandeln sich die mit Lehm beworfenen Strohhütten schließlich in "semi-permanente" Siedlungen, sie sind aus luftgetrockneten Ziegeln errichtet, sie werden von engen Gassen durchzogen, es fehlt in ihnen eine "offizielle", "legale" Wasser- und Stromversorgung. Über Jahrzehnte hinweg werden diese inzwischen an traditionelle, verschmutzte und unterversorgte Kleinstädte erinnernden Wohngebiete nicht legalisiert. Sie sind "Kacchi Abadi" aus schlechten (Kacchi), also luftgetrockneten Ziegeln errichtete Siedlungen (Abad). Das hindert aber diese über 40 und 50 Jahre, über zwei Generationen besiedelten Kleinstädte nicht daran, ein eigenes Leben zu entwickeln, eigene Basargassen, Moscheen und Friedhöfe zu errichten. Immer dichter besiedelt und bald mehrstöckig bebaut verwandeln sich die ältesten Squattersiedlungen am Ende in improvisierte Städte mit Einwohnerzahlen, die zwischen 20.000 und 200.000 Menschen liegen. Diese nicht regularisierte Landnahme sicherte das Überleben und prägte den Binnenraum der Mohajirstadt. (Hasan 1992: 1-23)
Spätestens seit den 60er Jahren und angetrieben vom Bevölkerungswachstum der Mohajir und einer enormen Zuwanderung zeigt sich eine weitere, nicht legalisierte Erschließungs- und Siedlungstechnik, die illegale "Subdivision". Diese Technik ist so unumgänglich und so erfolgreich, dass vermutlich weit mehr als die Hälfte der gegenwärtig auf mehr als 15 Millionen geschätzten Einwohner in diesen im Kern illegalen Subdivisions leben. Angesichts der Vielzahl der Zuwanderungsgruppen, der Gewinn- oder Kontrollinteressen, der Beschäftigungsnischen und der Machtstrukturen lassen sich kein Prototyp, sondern lediglich Varianten des "Subdivisioning" beschreiben. Es handelt sich dabei um ein Patronage-, Investitions- und Mobilisierungssystem, welches die Ausdehnung der Stadt, die Spekulationsinteressen Hunderttausender, die Zukunftsplanung aller und die Mobilisierungschancen der Eliten antreibt und prägt. Grundlegend war und ist für diesen Prozess des "Subdivisioning", dass Staatsland illegal und inoffiziell, aber unter Beteiligung von Sindhi- und Mohajirpolitikern und -beamten an Investoren und Bodenspekulanten abgegeben wird. Diese entwickeln anschließend die Subdivisions und treiben mit deren Einzelparzellen einen schwunghaften Handel. Aufgrund der Erschließung, Bebauung und Spekulation entstehen schließlich riesige, quadratkilometerweite Kacchi Abadis, deren Bewohner diesem Abhängigkeits- und Spekulationssystem nicht nur unterworfen sind, sondern im Kleinen davon profitieren.
In einem Fall etwa erwirbt 1973 ein schattenhafter, aber einflussreicher "Developer", Wahab, ein rund 80 Hektar großes Areal, 12 Kilometer außerhalb des Stadtzentrums, 7 Kilometer außerhalb der neuen Industrieareale. (Das folgende nach Linden 1991: S. 385-419)
Die Subdivision kann künftig in 5.500 Grundflächen, Wohnparzellen, zu jeweils rund 100 Quadratmetern aufgeteilt werden. Bei einer durchschnittlichen Siedlungsdichte von 6 bis 7 Personen pro Wohnparzelle werden auf dieser Subdivison künftig mehr als 30.000 Menschen leben. Ein "Developer" wird damit zum ungekrönten Herrscher einer fast ein Quadratkilometer ausgedehnten Kleinstadt. Wahab, der "Developer", erhält diesen Quadratkilometer nicht umsonst. Er muss über politischen Einfluss und ein eigenes Netzwerk verfügen. Als professioneller Entwickler scheint Wahab Zugang zu einem Staats- und einem Provinzminister gehabt zu haben, und er hat seit langem Kontakte zur Karachi Metropolitan Authority; noch wichtiger, er hat seit langem Geschäftsverbindungen zum "Board of Revenue", der (Grund-) Steuerbehörde des Sindh. Karachi dehnt sich seit langem über die Stadtgrenzen auf das der Sindhprovinz unterstehende Umland aus. Das konzertierte Wegsehen dieser Planungs- und Steuerbeamten muss mit finanziellen oder politischen Mitteln teuer erkauft werden. Direkt vor Ort gilt es, die traditionellen, aber nicht schriftlich abgesicherten Besitz-, Bebauungs- und Weiderechte eventueller lokaler Bauern oder Hirten abzukaufen. Straßen, Grundstücksparzellen, ein Begräbnisplatz und eine Moschee müssen zumindest in einem Bruchteil des Geländes mithilfe von Steinhaufen markiert werden, darüber hinaus gilt es, das Stillschweigen und Stillhalten der lokalen Polizei zu erkaufen.
Für alle diese Leistungen müssen 1974 pro Wohnparzelle zwischen 10 und 20 Rupien, 1-2 Dollar, bezahlt werden. Eine Zahlung von 50.000 bis 100.000 Rupien und der Einsatz eines seit langem bestehenden Einflussnetzes sichern damit die Kontrolle über ein bislang noch wüstenhaftes, menschenleeres und wertloses Areal. Künftig aber wird sich der Wert dieser Subdivision, der Wert der einzelnen Wohnparzellen, auf das 100- bis 200-fache steigern. Zum Zeitpunkt der Gründung von Wahab Stadt ist diese Entwicklung durchaus vorhersehbar. Überall im Umkreis sind weitere "Dalals", Makler, Slumunternehmer und Bauspekulanten damit beschäftigt, solche Subdivisions zu erschließen. Aus all diesen Subdivisions wird bis zu Beginn der 80er Jahre Orangi entstehen, ein schließlich zusammenhängendes, mehr als 20 Quadratkilometer großes Kacchi Abadi, dessen Einwohnerschaft 1983 bereits auf eine Million Menschen geschätzt wird.
Bis sich diese Kleinsiedlungen aber zu einer Millionenstadt verdichten und vernetzen, muss in den jeweiligen Subdivisions ein sich selbst tragender Entwicklungs-, Bau-, Investitions- und Spekulationsprozess in Gang gebracht werden. Zunächst liegt Wahabs Subdivision und Wüstenei meilenweit von jeder Straße, jedem Leitungsmast, jedem Wasserhydranten und jedem Busanschluss entfernt. Es müssen "Pioniere" gefunden werden, die Ärmsten der Armen, die sich hier ansiedeln und die ihrerseits Hausierhändler, Kleinbusfahrer, Wasserlieferanten und am Ende weitere Siedler anziehen. Das Jahr 1974 ist günstig, um Subdivisions zu gründen und erste Siedler zu finden. Die Sezession von Bangladesch hat Karachi mit neuen, diesmal aus Ostpakistan stammenden, völlig abhängigen Flüchtlingsmassen, den sogenannten Biharis, gefüllt. Sie müssen formal im Namen des Patriotismus und einer islamischen Caritas untergebracht werden. 1974 ist zudem ein Wahljahr, dies erhöht die Bereitschaft der Politiker und der Verwaltung, illegale Subdivisions zu protegieren und zu tolerieren. Waren 1970, auch ein Wahljahr, sechs illegale Subdivisions im Orangibereich angelegt worden, so sind es 1971, 1972, 1973 lediglich drei, drei und eine. Im Wahljahr 1974 sind es dagegen sieben.
Wahab hat einen islamischen Wohltätigkeitsverein gegründet. Dieser verschenkt mehrere Dutzend Wohnparzellen an Flüchtlinge, die so arm sind, dass sie bereit sind, in diese Einöde zu ziehen. Nachdem aber eine erste Besiedlung in Gang gebracht ist, entwickelt sich Wahab Stadt über die nächsten 10 Jahre in ein stabiles Kacchi Abadi und in ein für viele Beteiligte lukratives Investitionsobjekt. Wahab und sein Wohlfahrtskomitee lassen jetzt aus Zement gegossene Wasserspeicher aufstellen. Diese werden von privaten Tankwagen oder von den städtischen Wasser-LKWs gegen Geldzahlung an jedem zweiten Tag angefahren und gefüllt. Ein Ziegel- und Zementblockmacher ist inzwischen angeworben worden. Er finanziert diese Wasserversorgung, er verkauft das Wasser und er nutzt es, um die für alle Bauten unverzichtbaren Ziegel und Zementblöcke herzustellen. Ein Nachtwächter und ein Verwandter Wahabs sorgen für Ordnung, schlichten Streitigkeiten und treten Willkürmaßnahmen und Abgabeforderungen der Polizei entgegen. Häufiger muss aber Wahab auch seine (partei-)politischen Verbindungen spielen lassen, um die Polizei am Eindringen in die Siedlung zu hindern.
Innerhalb kurzer Zeit sind jetzt rund 12 Personen, alles Gefolgsleute Wahabs, darunter auch ein eingekaufter Polizist, damit beschäftigt, Wohnparzellen auf eigenen Gewinn zu verkaufen, zunächst noch an Flüchtlinge, zu einem Stückpreis von 100 Rupien. Ein starker Developer wird die Kontrolle über diese Klienten und deren Handel behalten, einem Schwachen kann diese Kontrolle leicht entgleiten. Wahab kann sich gegenüber seinen Verwandten, gegenüber dem Nachtwächter und dem Polizisten, bald nicht mehr durchsetzen. In zunehmendem Maße bestimmen diese das Verkaufs- und Baugeschehen. Der Nachtwächter hat seinen eigenen Wasser- und Zementblock-"business" etabliert und gibt seinen Kunden auch "Baukredite". Mithilfe einer neu gegründeten, vorgeblich wohltätigen islamischen Nachbarschaftsvereinigung dominieren sie den Bodenverkauf. Sie schalten sofort die Polizei ein, wenn sich Fremde auf dem Gelände mit Gewalt niederlassen wollen, sie schrecken nicht davor zurück, Bodenparzellen zweimal zu verkaufen – vor allem, wenn der Erstkäufer die Parzelle nicht bebaut oder geschützt hat. Sie regeln mithilfe der Polizei die manchmal von ihnen selbst geschaffenen Konflikte. (Linden 1991: S. 90-111)
Rund zehn Jahre nach der Gründung sind vermutlich die Hälfte der Grundstücksparzellen verkauft, 1.000 sind bereits bebaut, 5.000 bis 7.000 Menschen leben jetzt auf dem Gelände. Der Preis der ursprünglich 50 bis 100 Rupien teuren 100-Quadratmeter-Parzellen ist jetzt auf 6.000 bis 12.000 Rupien, 600 bis 12.000 Dollar, gestiegen. Es geht um enorme Investitionen, und diejenigen die Wohnparzellen gekauft haben, bemühen sich, diese entweder mit einer Mauer zu schützen oder sofort zu bebauen und zu bewohnen. Ein Gewinn- und Schutzinteresse wird wirksam, welches die intensive Bebauung des gesamten Geländes vorantreibt und im Ganzen die Ausdehnungsdynamik des Großraumes erklärt:
"An illustrative case regards a man who runs a cigarette shop in another part of Karachi, where he also lives as a renter. He bought one plot in Dalalabad and intents to both live and establish his shop there once he expects there will be sufficient customers to guarantee him a living. When he bought the plot, his neighbour, who is a retired army-officer, was kind enough to accompany him wearing his uniform. The presence of a powerful witness will prevent the seller from selling this plot again, so the cigarette-vendor hopes. Yet, he constructed walls around the plot and keeps visiting and checking it once a month" (Linden 1991: S. 395).
Seit Anfang der 80er Jahre beginnt sich zugleich das neue Kacchi Abadi zu konsolidieren. Dank politischer Beziehungen und mithilfe von Bestechung wird es möglich, Wahab Stadt zumindest teilweise an die Wasser- und Stromversorgung der Karachi Metropolitan Authority (KMA) anzuschließen. Wasserrohre und Stromleitungen, die inzwischen in die illegal erschlossene Orangiregion verlängert worden sind, erreichen jetzt auch diese Siedlung, Die Bewohner gewinnen jetzt Wasser aus offenen Wasserstellen, und die Wasserversorgung mithilfe von LKWs, Karren und ambulanten Wasserhändlern kann verbessert werden. Die Strommasten werden illegal angezapft, und offiziell bis quasi-offiziell werden einzelne Leitungsstränge in die größeren, von Basarhändlern übernommenen Gassen gelegt. Seit 1979 erscheinen die ersten gewählten Gemeinderäte der KMA. Politiker spenden Geld für den Bau einer Moschee und einer Schule – an das Nachbarschaftskomitee. Den Bau, die Kontrolle und die partielle Veruntreuung übernehmen die wachsend eigenmächtigen Klienten Wahabs. Noch immer aber sind Teile des fast einen Quadratkilometer großen Geländes noch nicht erschlossen und noch nicht verkauft. Im Dutzend oder im Einzelnen verkauft, sichern die 100-Quadratmeter-Parzellen jetzt enorme Gewinne und großen Einfluss.
Da sich aber parallel zur Entwicklung von Wahab-Stadt neue, zunehmend undurchschaubare und vielfältige Machtverhältnisse eingestellt haben, so bleibt unklar, an wen diese Gewinne und Einflusschancen fallen. Formal werden die unbebauten Teile von den Besitzern von Hühnerfarmen, "poultry farms", genutzt. Dies bildet aber lediglich den Vorwand, um diese Gebiete noch zurückzuhalten und erst später mit noch höherem Gewinn zu verkaufen.
Die Macht- und Spekulationsarena ist aber inzwischen so groß geworden, dass nicht mehr auszumachen ist, wer über diese Freiflächen und wer überhaupt über Wahab-Stadt letztendlich verfügt: Der Initiator, seine zu Macht aufgestiegenen drei Mitarbeiter, das Nachbarschaftskomitee oder deren Allianzpartner – Sindhiparlamentarier, Mohajirgemeinderäte, Abteilungsleiter und kleine Beamte im Strom- und Wasserdepartment der KMA, Polizeiinspektoren, schließlich Funktionäre im Board of Revenue der Provinz Sindh ? Sie alle sind im Rahmen von grundsätzlich illegalen Bodenverkäufen und Versorgungsmaßnahmen mit Bestechungszahlungen, einzelnen Wohnparzellen oder ganzen Kontingenten an dem illegalen Bodenmarkt, dem "Subdivisioning", beteiligt worden. Neben diese Spekulationselite tritt aber inzwischen ein Heer von Mitläufern, eine ethnisch vielfältige Unter- und Mittelschicht von Flüchtlingen und Zuwanderern: Sie haben ein oder mehrere Parzellen, nicht nur zum Überleben und Wohnen, sondern zum Zweck der Geldanlage, der Altersabsicherung oder der Versorgung der Kinder gekauft. Auf den zusätzlichen Wohnparzellen werden Verwandte vom Dorf oder Diener untergebracht; die Lehmhäuser werden vermietet, sie dienen der Gründung eines Ladens, einer Werkstatt, einer kleinen Hühnerzucht. Da über 10 oder 20 Jahre eine einzelne Parzelle hohe Gewinne abwirft, zieht das Subdivisioning enorme Investitionssummen an sich. Schwarzes ebenso wie sauberes Geld kann in den Erwerb der Parzellen investiert werden. Ein hoher Teil der Ersparnisse und Geldüberweisungen der Golfarbeiter soll direkt oder über Mittelsmänner in diese Kacchi Abadis investiert worden sein. (Auch Selier 1991: S. 1-62; Nientied 1991: S. 112-159)
Dieser illegale Investitions- und Erschließungsprozess treibt die Ausbreitung der Metropole seit mehr als 40 Jahren voran. Er gibt dem Großraum seine charakteristische Prägung, er macht in freilich unterschiedlichem Maße die Mehrzahl der Einwohner zu Opfern und Nutznießern dieses Prozesses. Vor allem aber, der Prozess bleibt bis heute auf die Illegalität, aus der und in der er entstand, angewiesen – aufgrund der Korruption und der Eigeninteressen der Verwaltung und Politik, aufgrund der Unfähigkeit der Planung und der Stadtverwaltung in Karachi und aufgrund des Misstrauens und der Erfahrungen der Bewohner dieser Millionenslums. Von Anfang an, trotz unzähliger Pläne und Initiativen, waren die Stadtverwaltung, aber auch die offizielle private Bauwirtschaft nicht in der Lage, angemessenen Wohnraum für die Masse der Flüchtlinge und Zuwanderer zu schaffen. Bis heute ist die Verwaltung nicht willens, einen legalen Rahmen für das Subdivisioning und die anschließende Eigenbebauung seitens der Armen zu schaffen. Vereinzelte Versuche, vor allem unter Zia ul-Haq, bereits bestehende, also vor 1978 errichtete Kacchi Abadi zu legalisieren und zu verbessern, später errichtete aber zu zerstören, stießen rasch an ihre Grenzen.
Legalisieren bedeutete zumeist nicht die Vergabe von eindeutigen Besitztiteln an die Bewohner der jeweiligen Kacchi Abadi. Diese sollten vielmehr als Erbpächter auf ihren Parzellen gelten, künftig Grundsteuern zahlen und die geplanten Verbesserungen der Infrastruktur finanziell mittragen. Aus einer Vielzahl von Gründen zögerten die Slumbewohner, sich dafür offiziell registrieren zu lassen. Die Bewohner der nichtanerkannten Siedlungen sahen sich dagegen einer neuen Bedrohung ausgesetzt. Die Slumbewohner sahen keinen Anlass, sich durch Registrierung einer ihnen seit Jahrzehnten vertrauten korrupten Stadt-, Wasser- und Stromverwaltung auszuliefern, die korrupten Verwaltungen sahen im Gegenzug keinen Anlass, eine Legalisierung und Reform zu unterstützen, die für sie einen Ozean illegaler Pfründen und Bakschischzahlungen zum versiegen gebracht hätte. Aus unterschiedlichen Gründen in einen dauerhaften Zustand der formalen Illegalität gebannt, sind die Bewohner der Kacchi Abadis jedoch auf Mechanismen und Garantien angewiesen, die ihnen ein informelles, aber dennoch verlässliches Siedlungs-, Wohn- und Besitzrecht verschaffen. Nicht nur das, sie sind auf informelle Streitregelungsmechanismen angewiesen, da sie im Falle der Usurpation ihres Grundstücks, der Schutzgelderpressung, der Zahlungsverweigerung seitens eines Käufers oder Mieters vor kein ordentliches Gericht ziehen können. Diese informellen Rechte und diese informelle Rechtssprechung, im Kern eine mehr als sieben Millionen Menschen betreffende informelle "Rechtsstaatlichkeit", muss deshalb – bei Abwesenheit des Staates und seiner Rechtsgarantien – von lokalen Machthabern geleistet werden. (Wahab 1991: S. 298-328; Nientied 1991: S. 228-297)
Die Slumbewohner und Nutznießer des Investitions- und Absicherungssystems bleiben damit auf informelle Machtstrukturen angewiesen. Diese zeigen sich in der Form unumgänglicher Klientelbeziehungen gegenüber einem Dalal und seinen Satrapen; sie erweitern sich – aufgrund der Abhängigkeit von den inoffiziellen Versorgungsleistungen der KMA und den Drohungen der Polizei – zu weitgespannten Netzwerken der Loyalität und Gefügigkeit. Die Machtstruktur, auf die die Slumbewohner angewiesen bleiben, ist damit diffus und polyzentrisch, auch wenn in der Mehrzahl der Fälle der Dalal ein solches Netzwerk dominiert. Damit dieses Machtgefüge stabil, der Wohn- und Arbeitsalltag berechenbar bleibt, ist zugleich die Eigenorganisation, die Gegenmacht der Bewohner gefordert. Sie organisieren sich in Nachbarschafts- oder islamischen (Wohltätigkeit-) Vereinen, "Tanzims". Sind sie aus dem gleichen Dorf oder dem gleichen Distrikt zugewandert, so können sie sich auf die in die Kacchi Abadi übertragenen Verwandtschafts-, Biraderi-, Stammes- oder Dorfstrukturen stützen. Oft erinnern die Viertel, Mohallas, an Dörfer. In vielen Fällen hat die Siedlungsgemeinschaft eine Moschee errichtet und einen Mullah oder Pir angeworben – oft aus dem "Sinai" Pakistans, dem Dera Ghazi Khan Distrikt. Dieser Mullah oder Pir wird dann zum Sprachrohr der jeweiligen Gemeinschaft und zum Verfechter einer moralischen Ökonomie.
Die Flüchtlingsmetropole Karachi, deren Einwohnerzahl sich über 5 Jahrzehnte zumindest verzehnfachte, hat damit eigene, sich selbst tragende Mechanismen der Erschließung, des Wohnungsbaus, der Baufinanzierung und der lokalen Herrschaft entwickelt – in formaler Unabhängigkeit vom Staat und in aller engster Kooperation mit seinen städtischen Beamten, seinen lokalen Polizisten, seinen kommunalen und regionalen Politikern. Die Expansion stützt sich nach wie vor auf illegale Landnahme, Spekulationsinteressen der Subdivider, Beteiligung und Bereicherung der Politiker und Beamten, Eigenbau der Zuwanderer und Selbstorganisation der Viertel, der Mohallas. (Hasan 1992)
Der Expansionsprozess Karachis kann eine große Zahl von Punjabis, die in den neugegründeten Industrien Arbeit finden, aber auch das Geschäftsleben zunehmend bestimmen, in der Matrix der Mohallas und Kacchi Abadis integrieren. Hinzu kommen Hunderttausende von Biharis, die ehemaligen Träger und Nutznießer der Verwaltung und Wirtschaft Ostpakistans. Aber auch verarmte Balutschen und Sindhis drängen in die Stadt und ihre Slumgebiete. Hinzu kommen von Anfang an Paschtunen, die in wachsendem Maße im Bau- und Transportgewerbe arbeiten. Im Jahr 1981 leben in dem Großraum vermutlich sieben bis acht Millionen Menschen, der Zensus geht allerdings lediglich von fünf Millionen aus. 61 % sind Mohajir, 16 % Punjabis, 11 % Paschtunen, 7 % Sindhi, 5 % Balutschen. (Samad 2002: S. 65)
Die Stadt hat alle diese Zuwanderer und Flüchtlinge in den jetzt riesigen Slumgebieten, in Gulbahar (150.000 Menschen), Baldia (200.000), Lyari (700.000), Orangi (1.000.000) aufnehmen können. Hinzu kommen weitere Subdivisions in dem Bereich von Liaqatabad, Tanslyari und Landhi-Korangi, deren Einwohnerzahl Anfang der 80er Jahre auf insgesamt eine halbe Million geschätzt wird. Diese (vorsichtig geschätzt) Verfünffachung der Stadtbevölkerung in 30 Jahren, einer der schnellsten städtischen Wachstumsprozesse, war ohne größere sektarische, ethnische, soziale oder politische Unruhen vonstatten gegangen. Zu größeren Aufständen und Konflikten war es nicht gekommen, weil sich eine Punjabielite, Punjabigeschäftsleute und Punjabidalal mit der Mohajirelite, ihren Dalals und ihren Gefolgschaften arrangiert hatten. Was sich bei der Herrschaft über den Gesamtstaat seit Mitte der 50er Jahre abgezeichnet hatte, ein Kondominium, eine Punjabi-Mohajir-Achse, hatte sich, wenn auch hier unter der Vorherrschaft der Mohajir, in diesem für den Gesamtstaat, seine Stabilität und Wirtschaftsentwicklung so unverzichtbaren Großraum ebenfalls herausgebildet – eine Kooperation zwischen Punjabis und Mohajir. Seit Beginn der 80er Jahre wird aber diese Interessenallianz erschüttert, und der bislang sich selbst tragende und regulierende Expansionsprozess gerät in die Krise, im Kern bis heute.
Diese Erschütterung und diese Krise werden direkt vom Afghanistankonflikt ausgelöst. Die Invasion der Sowjetarmee im Dezember 1979 löst millionenstarke Flüchtlingswellen aus. Hunderttausende dieser Afghanistanflüchtlinge ziehen in die Nähe jener Kacchi Abadi, die seit langem von Paschtunen bewohnt werden. Entscheidender aber werden die Rahmenbedingungen und Konsequenzen des antisowjetischen Jihad, den Zia ul-Haq seit 1978 organisiert und den die USA militärisch und finanziell unterstützen. Viele Beobachter bemerken zu Recht, dass dieser Jihad Pakistan nichts anderes hinterlassen habe als ein Waffen-, ein Drogen-, ein Jugend- und langfristig ein Fundamentalismusproblem. In keiner Region Pakistans kann diese Einschätzung besser unter Beweis gestellt werden als im Großraum Karachi.
Die Zwänge und Nebenwirkungen des Afghanistankrieges beginnen seit 1980 direkt auf die ethnische und politische Machtbalance und auf die Kacchi Abadi-, Jugend- und Waffenkultur in Karachi einzuwirken. Seit jeher haben die Paschtunen auf beiden Seiten der Grenze der Nord-West-Grenzprovinz enge Verbindungen und gemeinsame Handelsnetzwerke aufrechterhalten. Diese Handels- und Hilfsbeziehungen intensivieren und erweitern sich jetzt. Große Teile von Karachi, vor allem die von Paschtunen kontrollierten Kacchi Abadis und Basarzentren, beteiligen sich jetzt an einem bis nach Quetta, Peshawar und in die autonomen Stammesgebiete reichenden Handels- und Schmuggelnetzwerk. Die USA sind gezwungen und bereit, die Mujaheddin über das pakistanische Militär und den Geheimdienst (ISI) mit Waffen und Geld zu versorgen. Die nach Karachi gesandten Waffen werden vom Militär entgegengenommen, nach Rawalpindi gebracht und dort – vor allem in dem riesigen Munitions- und Waffendepot von Ojhri – zwischengelagert und anschließend an die Mujaheddin verteilt. Auf diesem Transport- und Verteilungsweg gehen zahlreiche Waffen verloren. (Yousaf/Adkin 1992)
Mitglieder der Verwaltung, des Militärs, des Geheimdienstes lassen einen parallelen und vollständig unkontrollierten Waffenmarkt, vor allem in der Grenzprovinz und in den Stammesgebieten, entstehen. Im Jahr 1988 will ein US-amerikanisches "Audit-Team" die vorgeblich alle in Ojhri gelagerten Waffen inventarisieren. Vor Ankunft der Kontrolle bricht eine Explosion in dem quadratkilometergroßen Gelände aus. Raketen und Granaten hageln auf die umliegenden Armutsgebiete und töten Hunderte von Menschen. Der Verdacht besteht nach wie vor, dass die Waffenvorräte absichtlich zerstört wurden, um eine Aufklärung des illegalen Waffenhandels zu vereiteln. (Samad 2002: S. 71)
Seit Beginn des antisowjetischen Jihad füllen sich damit die paschtunischen Waffenbasare in Quetta, Peshawar und Karachi. Waffen in jeder Größe und Form lassen sich mühelos erwerben. Im Jahr 1988, nach dem Rückzug der Sowjetunion und dem unkontrollierten Verkauf der amerikanischen Restbestände, werden die Waffen noch billiger und sind überall zu kaufen. "With the ending of the war, vast quantities of weapons including light weaponry as well as anti-tank guns and artillery pieces were stockpiled and put up for sale in the Federally Administered Tribal Areas (FATA), particularly in those regions which were adjacent to territory controlled by the Mujahideen. The scale of the operation in areas such as Bajaur was described in the following manner. ‘Nowhere else in the FATA have I seen such heavy weapons on display. In Darra Adamkhel the dealers cater to individuals and urban terrorists, but here they were taking care of the battlefield requirements of their clients.’ Weapons from these arms bazaars were supplying the Taliban, Kashmiri and Tajik groups, militants from Pakistan and also beyond” (Samad 2002, S. 72).
Ein wichtiger Markt ist auch Suhrab Goth, eine von Paschtunen illegal begründete und von ihnen vollständig kontrollierte, inzwischen riesige Basarstadt. Sie liegt am Rande Karachis, an der zentralen Verkehrsachse des Landes, dem "Superhighway". In diesem de facto extraterritorialen Basarzentrum gibt es alles, nicht nur Waffen, zu kaufen. Die USA haben frühzeitig den Mujaheddin signalisiert, dass sie ihren Wiederstand zu Teilen auch selbst zu finanzieren hätten. Es ist von Anfang an beiden Seiten klar, dass dies nur durch Opiumanbau und durch die Herstellung von Heroin möglich ist. Diese Fabriken liegen in den politisch unangreifbaren, weil autonomen Stammesgebieten. Unter Mitarbeit Pakistans und Duldung seitens der CIA werden enorme Mengen von Heroin über den Karachihafen exportiert. Neben dem Waffenhandel etabliert sich ein Opium- und Heroinhandel. Auch in Karachi beginnen Jugendliche und Jugendbanden, Heroin zu schmuggeln, damit zu handeln und Heroin zu injizieren. Der antisowjetische Jihad versorgt so auch die Jugendlichen Karachis, die Bewohner seiner immensen Slumgebiete mit Waffen und Drogen. Durchgesetzt, geprägt und vorrangig genutzt wird allerdings diese neue Waffen- und Jugendkultur von einer neuen Gegenmacht, den afghanischen, paschtunischen Kriegsflüchtlingen. Eine erste Generation paschtunischer Zuwanderer hatte sich der von Mohajir und Punjabis dominierten Ökonomie und Lebenswelt der Kacchi Abadis ohne Wiederstand eingeordnet.
Dies ändert sich seit 1980: Die Kriegsflüchtlinge bilden kein verarmtes und wehrloses Lumpenproletariat – ansonsten hätten sie aus ihren Flüchtlingsstädten entlang der afghanischen Grenze nicht den Sprung nach Karachi geschafft. Sie sind wohlorganisiert und oft bewaffnet. In ihren Reihen finden sich die neuen Waffen- und Drogenbarone. Die Neuankömmlinge, gestützt auf die seit langem ansässigen paschtunischen Transport- und Bauunternehmen, sichern sich jetzt oft mit Waffengewalt eigene Subdivisions und bauen sie zu Kacchi Abadis aus. Paschtunen begründen aber nicht nur unter Drohungen und Waffengewalt ihre eigenen Slumviertel, in relativ kurzer Zeit gelingt es ihnen, die Punjabi- und Mohajir-Dalals auf dem "informellen Wohnungsmarkt" weitgehend zu marginalisieren. Von Anfang an gehen diese bewaffneten Neuankömmlinge mit außerordentlicher Brutalität vor:"After land was seized by gunmen, plots were developed and rent to tenants who could be evicted at will. Coercion and violence were not new to Karachi’s bastis, but they had never reached that level and the Pathans often met with resistance, particularly in Orangi, Karachi’s largest squatter settlement, with an estimated population of about one million” (Gayer 2003: S. 6).
Von Anfang an versuchen diese War- und Slumlords, sich eine Zitadelle zu sichern, von der aus sie den Wohnungsmarkt, das Baugeschäft und das Transportgewerbe beherrschen können. Diese Aufgabe soll das riesige Slumgebiet von Orangi erfüllen. Orangi umfasst inzwischen rund eine Million Einwohner. Ein Viertel sind Paschtunen, ein Viertel Mohajir, der Rest der Bevölkerung setzt sich aus Punjabis, Sindhis, Balutschen, Biharis und Bengalis zusammen. Die Paschtunen versuchen in der Millionensiedlung ihre Wohngebiete zu arrondieren und auf Kosten der Gegner auszudehnen. Sie übernehmen einen kleinen Hügel inmitten des riesigen, aber flachen Geländes, nennen ihn "K2", nach dem größten Berg im Norden Pakistans, und postieren hier Maschinengewehre. In ganz Orangi versuchen sie, ihr Bau- und Transportmonopol durchzusetzen. Sie versuchen die von Fremden bewohnten Mohallas zur Anerkennung ihrer Vormachtstellung zu zwingen und sie organisieren sich politisch in der bislang auf die Grenzprovinz beschränkten nationalistischen Paschtunenpartei, der ANP. Diese Versuche militanter Paschtunen, das Herrschaftsarrangement in Karachi infrage zu stellen, den informellen Wohnungsmarkt zu übernehmen und Orangi zu beherrschen, lösen die ersten ethnischen Unruhen, Kämpfe zwischen jugendlichen Mohajir und Paschtunen, aus.
In den 80er Jahren ist Karachi nicht nur jener Großraum, der rund ein Viertel der Steuereinnahmen ebenso wie des Bruttosozialproduktes von Pakistan generiert, es ist ein Großraum mit einem, aufgrund der Zuwanderung und des Bevölkerungswachstums, extrem hohen Anteil an Kindern und Jugendlichen. Die Mehrheit dieser Kinder und Jugendlichen sind Mohajir. Mehr als ein Drittel der Bevölkerung ist zwischen 14 und 30 Jahren alt. 71 Prozent dieser Jugendlichen sind alphabetisiert, erstaunlich viele sind Sekundarschul-, College- und Universitätsabgänger. Die Alphabetisierungsrate der gesamten Karachibevölkerung, wiederum mehrheitlich Mohajir, liegt bei 55 Prozent, während sie für Pakistan bei 26 Prozent liegt (1987). (Stat. P. Book of Pakistan 1993: S. 91)
Für die Mohajir allein betrachtet, fiele diese Bildungsbilanz noch weit eindrücklicher aus. Unter diesen gut ausgebildeten, aufgrund von Zugangs- und Karrierebeschränkungen verbitterten Jugendlichen hat inzwischen eine neue Waffenkultur Eingang gefunden. In ihren Mohallas und selbst in ihren Schulen haben diese Mohajir gelernt, sich gegen Paschtunen zu organisieren und zu verteidigen. In wachsendem Maße zeigen sich in diesen Jahren aber auch erste Versuche, diese Jugendlichen und diese Bildungsschicht politisch zu organisieren. Wie so oft geht diese Initiative von Studentenführern und Studentenorganisationen aus.
Ebenso wie ihre Eltern haben sich auch die Kinder der Mohajir, Schüler und Studenten, frühzeitig der islamistischen Jamiat-i-Islami, ihren Frauen- und Studentenorganisationen zugewandt. Die Mohajir identifizieren sich nicht mit der fundamentalistischen Weltanschauung dieser Kaderpartei. Da sie über keine ethnische Identität verfügen, bleibt ihnen zunächst nur eine formale religiöse, diejenige des korrekten Muslim. Da sie aber die beiden großen, auf die Sindhi- und vor allem die Punjabiwählerinteressen ausgerichteten Parteien, die PPP und die Muslim Liga, ablehnen, sind sie auf der Suche nach einer Protestpartei, deren Programm zugleich ihrem Wunsch nach einem nicht nur starken und zentralisierten, sondern leistungsorientierten, korruptionsfreien und urdusprachigen Staat entspricht. Die Jamiat-i-Islami steht für diese Ideale und Tugenden ein. Ein im Vergleich zu den übrigen Einwohnergruppen Karachis sehr hoher Anteil der Mohajirstudenten studiert, und wie überall in Südasien sind auch diese Studenten frühzeitig politisch organisiert, lautstark und militant. In der Karachi-Universität dominiert die Studentenorganisation der Jamiat-i-Islami, der sowohl Mohajir wie auch Punjabistudenten angehören. Bereits Ende der 70er Jahre, also vor der Entstehung einer militanten Jugendkultur in den Kacchi Abadis, zeigen sich neue, rasch militante Auseinandersetzungen unter den Studenten. Die Jamiat-i-Islami wird nicht nur von Mohajir, sondern auch von einzelnen Punjabis unterstützt, das gleiche gilt für die Mitgliedschaft in ihrer Studentenorganisation, der Islami-Jamaat-i-Tuleba (IJT). (Nasr 1994: S. 63-78)
Sowohl die Jamiat-i-Islami wie die IJT sind gesamtpakistanische Organisationen und suchen ihre Wähler und Anhänger in allen Teilen Pakistans, vor allem auch im Punjab. Selbstbewusste Mohajirstudenten lehnen diese offene oder verdeckte Ausrichtung der Organisation auf die Punjabimehrheitsinteressen ab. Selbst in der IJT fühlen sie sich von den Punjabistudenten als Minderheit behandelt. Besonders erzürnt die Mohajirstudenten, dass ihnen ihre Kleidung, eine von der Punjabitracht abweichende "Pyjamakultur", vorgeworfen wird. Darüber hinaus glauben die Mohajirstudenten, man werfe ihnen den Gebrauch des Urdu vor und man verachte sie als Heimatlose und ewig Unangepasste. Eine lautstarke Gruppe von Mohajirstudenten, darunter Altaf Hussain, gründet deshalb im Oktober 1978 eine eigene Mohajirstudentenorganisation, die All Pakistan Mohajir Students Organisation (APMSO). Altaf Hussains politischer Aktivismus führt rasch dazu, dass er 1980 aus der Universität ausgeschlossen wird; er geht nach Chicago, wo er als Taxifahrer arbeitet. Erst 1984 kehrt er nach Karachi zurück.
Hier aber haben kurz zuvor seine Mitstudenten eine politische Bewegung der Mohajir, das Mohajir Qaumi Mahaz (bzw. Movement) (MQM) gegründet. Mit dieser Gründung und der Rückkehr Altaf Hussains nimmt die Mobilisierung der Mohajir, vorrangig der Jugendlichen und Studenten, eine ganz neue Breiten- und Tiefenwirkung an. Auf dem Universitätsgelände ist es seit 1980 zu immer härteren Auseinandersetzungen zwischen IJT und APMSO, der de facto Punjabi- und der Mohajirorganisation gekommen. Die islamistische Studentenorganisation profitiert davon, dass sich das Zia-Regime innenpolitisch auf die Jamiat-i-Islami stützt. Von der Polizei und den Geheimdiensten geduldet, versucht die IJT, den Campus zu dominieren, sie kann sich Waffen besorgen und bildet Schläger aus, die, an strategischen Punkten postiert, mit Gewalt in die Auseinandersetzungen eingreifen. Diese Eingriffe führen dazu, dass das Gros der Mohajirstudenten sich von der IJT ab- und der APMSO zuwendet. Die Mohajirstudentenorganisation bildet von nun an das Organisationsrückgrat und die Kaderschmiede der neuen Mohajirvolksbewegung. Eine Mohajirstudentin erinnert sich später: "We did not have politics on our agenda. Our whole life was to work and to build our homes and have fridges, TVs, good cars… But we are forced to take up arms because everybody who comes to Karachi they are taking over and they have guns. Now, we have sold refrigerators, TVs and bought Kalachnikovs” (bei Gayer 2003: S. 10).
Den Studentenführern fällt es angesichts des expandierenden Waffen- und Drogenmarktes nicht schwer, sich Waffen zu besorgen. Waffen, vor allem Kalaschnikows, sind billig und werden rasch zu einem Prestigeobjekt auf dem Campus. Eine ganz neue Dimension nimmt aber diese Beschaffung, Verteilung und dieser Kult der Waffen an, seitdem im April 1985 die ersten bewaffneten Auseinandersetzungen in den Kacchi Abadis zwischen Paschtunen und Mohajir ausbrechen. Diese schon fast bürgerkriegsartigen Konfrontationen brechen in einzelnen Kacchi Abadis aus und breiten sich spontan auf die riesigen Slumviertel aus. Zwischen 1985 und 1988 zeigen sich acht solcher Gewaltausbrüche, in denen Mohajir und Biharis gegen Paschtunen oder die Mohajir gegen Sindhis kämpfen. Hunderte von Menschen fallen diesen Gewaltkreisläufen zum Opfer. Bei den Unruhen kämpfen oft, in einer Verkehrung der ursprünglichen Campuskonfrontation, IJT- und APMSO-Mohajir Seite an Seite.
Die Unruhen werden oft von kleinen, vordergründig ethnisch neutralen Zufällen und Unfällen ausgelöst; sie erweitern sich aber rasch zu Karachi-weiten ethnischen Konfrontationen. Die meisten Besitzer und Fahrer der Minibusse, die den Massenverkehr in dem Großraum einzig aufrecht erhalten, sind Paschtunen. Viele Paschtunen dienen inzwischen auch in der Polizei, wo ihre Schlagkraft und Gewalttätigkeit geschätzt wird. Die Minibusse sind berüchtigt für ihre rücksichtslose Fahrweise. In Karachi gibt es täglich zwei Verkehrstote, sehr oft sind Minibusse an diesen Unfällen beteiligt. Das ordnungswidrige Fahren und Betreiben der Busse wird erleichtert durch einen erstaunlichen Tatbestand: 90 Prozent der Minibusse sollen 1985 im Besitz von zumeist paschtunischen Polizisten sein. Nachdem 1985 ein paschtunischer Minibus mehrere Mohajirstudenten schwer verletzt hat und eine anschließende Studentendemonstration von der Polizei mit Gewalt aufgelöst wird, ist für die Mohajirjugendlichen die Konfrontationslinie eindeutig. Paschtunische Busfahrer, dann die Polizei, sehr rasch Paschtunenkolonien werden angegriffen, im Gegenzug schlagen die Polizei und bewaffnete Paschtunen mit große Härte zurück; dabei wird zwischen protestierenden Studenten und friedfertigen Mohajir nicht unterschieden. (Rösel 1997: S. 170)
Die Mohajir- (Studenten-) Führer sehen sich angesichts dieser beständig erneuerten Gewaltkreisläufe nunmehr berechtigt, ihre Anhänger und Sympathisanten mit Waffen zu versorgen. Zunächst zögert man, die Waffen in den Basaren von Quetta und Peschawar, also bei Paschtunen, zu kaufen. Aber es zeigt sich rasch, dass die Waffenhändler entlang der afghanischen Grenze sich um die Sicherheit ihrer Stammesgenossen in Karachi keine Sorgen machen: Nachdem ein Mohajirkäufer einen paschtunischen "Gunsmith" fragt, ob er nicht fürchte, mit seinen Gewehren würden Paschtunenbrüder erschossen, antwortet dieser: "Was für ein Muslim bist du? Ich kann Paschtunen nicht essen, ich brauch’ mein Brot". (bei Gayer 2003: S. 12)
Nach dem sowjetischen Rückzug werden die Waffen in der Region billiger. Die Mohajirführung geht jetzt dazu über, Waffen an- und zu verkaufen, eine TT-Pistole kostet 1986 5.500 Rupien, 1989 nur noch 3.000; eine Kalaschnikow, eine AK-47, kostet 1980 40.000 Rupien, 1989 16.000 Rupien. Bei politischen Kundgebungen auf dem Campus werden Waffen auch verteilt; die Beschenkten erhalten einen Ajrak, einen Schal, in dem sie Waffen und Munition verstecken können. Im Jahr 1986 rät Altaf Hussain allen Mohajir, sie sollten ihre Luxusartikel verkaufen und Kalaschnikows erwerben. Entscheidend aber ist 1986 nicht mehr die Politik und der Waffenkult an der Universität, entscheidend ist, dass Altaf Hussain und die APMSO-Funktionäre es inzwischen geschafft haben, in den Tausenden der Mohajir-Mohallas, in den Hunderten der Kacchi Abadis Anhänger und Mitläufer zu finden. Die Mohajirorganisation hat "Zonal Comittees" gegründet, mit denen sie die Mohajir der verschiedenen Distrikte von Karachi mobilisiert; Mohajirschüler und -studenten haben in ihren Wohnvierteln eine neue MQM-dominierte "zivilgesellschaftliche" Organisation zum Leben gebracht. Sie stützt sich auf neue Nachbarschaftsvereinigungen, Kulturgruppen, islamische Wohltätigkeitsvereine oder Sportklubs, die von lokalen MQM-Sympathisanten gegründet, dominiert oder übernommen werden. Von oben und von unten wächst jetzt eine erste, von der charismatischen Führungsfigur Altaf Hussains zusammengehaltene politische Organisation der Mohajir zusammen. In den Mohallas wird die MQM von Jugendlichen oder jungen Männern repräsentiert, die mit Begeisterung in der Waffenbeschaffung, dann dem Waffenhandel und zum Zwecke der Finanzierung im Drogenhandel engagiert sind. Die lokalen MQM-Comittees beginnen anscheinend frühzeitig, Abgaben, sehr rasch Schutzgeld, "Bhatta", von den Händlern und Geschäftsleuten einzufordern. Frühzeitig schließen sie sich mit den Mohajir-Dalals, deren Gefolgschaften und den lokalen Gangs zusammen. Mohajirpolitiker, Dalals und Geschäftsleute wissen, dass sie mit Hilfe dieser neuen Organisation lokal und regional der Aggression der paschtunischen Waffen- und Drogenbarone, insgesamt der Expansion paschtunischer Siedlungen, Geschäftsinteressen und Einflussnahme entgegentreten können. (Frotscher 2005: S. 188-224)
Die MQM konstituiert sich damit von Anfang an als eine militante Jugendbewegung, die zwangsläufig mit lokalen Gangs und Mafias kooperiert. Sie inkorporiert die alten Klientennetzwerke der Dalals und KMA-"Councilors" und sie operiert als ein eigenständiges und übergeordnetes, also in alle Mohajir-Mohallas reichendes Netzwerk von Patronage und Klientelbeziehungen. Bis 1987 hat sich damit die MQM entscheidende Bastionen in dem Großraum durch ihren Einsatz, ihre Rhetorik, aber auch mit Gewalt gesichert. Sie kontrolliert jetzt weite Teile der "middle income"-Distrikte "Central" und "East", insbesondere Nazimabad, Liaqatabad, Azizabad, Federal B. Area, New Karachi und Gulshan-e Iqbal. Der Süddistrikt steht traditionell unter der Kontrolle der PPP, die allerdings auch in Malir, in Konkurrenz mit der MQM, vertreten ist. Im Westdistrikt übt die ANP der Paschtunen großen Einfluss aus, vor allem in Baldia, in den "Pathan" und in den "Qasba colonies". Die Herrschaft über die Millionenstadt Orangi machen sich Paschtunen und Mohajir, also die ANP und die MQM, streitig. (Gayer 2003: S. 13)
1987 beteiligt sich die MQM zum ersten Mal an den vom Zia-Regime zugelassenen Gemeinderatswahlen, den "Council Elections". Traditionell waren diese aufgrund des Stimmengewichts und der bisherigen Parteiorientierung der Mohajir von der Jamiat-i-Islami gewonnen worden. Die Councilwahl ist mithin ein Test, ob die Mehrheit, auch der älteren Mohajir, jetzt der Jamiat oder der neuen Mohajirbewegung den Vorzug gibt. Die MQM kann die Jamiat vernichtend schlagen und fast alle der 18 Wahldistrikte für das Council übernehmen. Sie übernimmt damit zumindest formal die politische Macht über den mit Abstand wichtigsten industriellen und städtischen Großraum des Landes. Die MQM kann auch in der Folgezeit bis heute diese politische Kontrolle bewahren. Die Jamiat kommt in Zukunft immer nur dann zum Zuge, wenn die MQM und die Mehrzahl der Mohajirwähler die Councilwahlen boykottieren – so im Jahre 2000. Mit dem Wahlsieg 1987 und mit der daraus resultierenden Herrschaft über 10 Prozent der Bevölkerung Pakistans hat sich die MQM endgültig nicht nur in eine einfache Partei, sondern in eine Partei von zwangsläufig nationaler, gesamtstaatlicher Bedeutung verwandelt: Zwar stellen die Mohajir lediglich 6 Prozent der Bevölkerung, weshalb die MQM kaum mehr als 6 Prozent der Stimmen erreichen kann, aber die MQM kontrolliert eine Schlüsselregion des Landes. Da von ihr die politische Stabilität und ökonomische Funktionsfähigkeit des Großraums abhängt, beeinflusst sie auch die Stabilität und Funktionsfähigkeit dieses siebtgrößten Staates der Erde.
Dieser Bedeutungszuwachs und diese neue Schlüsselstellung der MQM werden bereits 1988 sichtbar. Nachdem 1988 Zia ul-Haq bei einem Anschlag auf sein Flugzeug stirbt, zieht sich das Militär von der direkten Herrschaftsausübung zurück. Der Rückzug fällt umso leichter, da der Militärapparat mit Hilfe des - von Zia mit enormen Machtkompetenzen ausgestatteten - Präsidentenamtes auch künftig durch die Absetzung der Regierung und Ausrufung von Neuwahlen auf die Politik einwirken kann. Bereits im Dezember 1988 werden Parlaments- und Provinzwahlen durchgeführt. Die MQM beteiligt sich in ihrer Bastion Karachi und in Haidarabad, der zweiten Mohajirstadt, an den Wahlen. In dem 207 Sitze umfassenden Nationalparlament stehen dem Großraum Karachi allein 13, Haidarabad 4 Sitze zu. Die MQM gewinnt 13 Sitze und zeigt damit, dass sie ihre Gegner in beiden Städten mühelos marginalisieren kann. Die PPP erreicht mit 93 Sitzen nicht die Mehrheit, eine von der Muslim Liga dominierte Parteienalliannz, IJI, erreicht lediglich 55 Sitze. Regierungsfähig, entweder mit der MQM oder anderen Kleinparteien, ist mithin lediglich die den Sindhinteressen verpflichtete PPP. Sie gilt spätestens seit Bhuttos Reformmaßnahmen als der größte Gegner der Mohajir. Bei den Sindhprovinzwahlen zeigt sich ein weit bedrohlicheres Ergebnis: Von den 100 Sitzen des Sindhparlaments kontrolliert die PPP 67, die MQM 26, der Rest sind de facto Unabhängige. (Gayer 2003: S. 13; Talbot 1999: S. 314, 332, 357)
Die neue Partei muss sich daher entscheiden, ob sie mit ihrem traditionellen Gegner die Staats- und Provinzpolitik zu ihrem Schutz und zu ihren Gunsten mitgestalten will oder ob sie sich in der Opposition der Gefahr aussetzt, von der – in Islamabad mit Kleinparteien, im Sindh allein regierenden – PPP attackiert und marginalisiert zu werden. Die Versuchung, auf der gesamtstaatlichen Ebene eine Schlüsselstellung einzunehmen, erweist sich als zu groß: Die MQM entschließt sich dazu, der PPP die Regierungsmacht in Islamabad zu sichern, im Gegenzug wird die MQM an der Provinzregierung beteiligt. Als Preis für diesen Handel fordert die MQM die beschleunigte Repatriierung der restlichen, immer noch in Bangladesch gestrandeten Biharis. Biharis sind wie die Mohajir Flüchtlinge, und die Mohajir und die (Karachi)Biharis arbeiten seit 1971 einträchtig zusammen. Die MQM verlangt auch, dass die PPP sich dafür einsetzt, dass mehr Mohajir und nicht nur Sindhis und PPP-Mitglieder Stellen in der Verwaltung erhalten. Nachdem sich zeigt, dass die PPP diesen Forderungen der MQM nicht nachkommt, kündigt die MQM im Herbst 1989 die Kooperation auf. Es ist nur eine Frage der Zeit, wie lange sich die Regierung Benazir Bhuttos an der Macht halten kann. Der Sturz der PPP-Regierung wird aber von der MQM noch auf anderem Wege beschleunigt. Die MQM geht jetzt dazu über, die Kontrolle über "ihre" Kacchi Abadis und Wahlkreise zu verstärken. "A brutal power struggle ensued to control the city and in this process ethnic cleansing took place, so linguistically homogenous shanty towns were created” (Samad 2002: S. 69).
Die MQM muss wissen, dass diese - die Stabilität des Großraums gefährdenden - brutalen Arrondierungen das Militär, also den Staatspräsidenten, zur Intervention zwingen. Der ehemalige Zia-Vertraute und Bürokrat Präsident Gullam Ishak Khan entlässt im August 1990 die Bhutto-Regierung, ernennt eine Interimsregierung und ordnet für Oktober 1990 Neuwahlen an. Dem Militär ist daran gelegen, die Stabilität des Großraums zu sichern. Es will verhindern, dass die MQM nach der Übernahme des lokalen Verwaltungsapparates hier einen Staat im Staate bildet. Eine solche Entwicklung würde es der Zentralregierung und dem Militär künftig unmöglich machen, auf die Beherrschung des Großraums (mit)einzuwirken. (Schied 2001: S. 27-46)
Die Wahlergebnisse 1990 bestätigen die Macht der MQM und sichern jetzt der ML-dominierten IJI die Macht in Islamabad – und im Punjab. Im Nationalparlament sichert sich die MQM jetzt 15 Sitze – der 17, die insgesamt Karachi und Heidarabad zustehen. Die IJI kann mit 106 Sitzen von 207 eine Regierung bilden. Im Sindhparlament verfügt die MQM jetzt über 28 Sitze, gegen die 46 der PPP und die 6 der IJI. Das Militär will die MQM politisch einbinden und drängt Nawaz Sharif, den Führer der IJI und künftigen Chief Minister, zu einer Allianz mit der MQM.
Der Handel mit Altaf Hussain führt aber nicht zum Ende der lokalen Expansionspolitik der MQM. Weiterhin versucht die MQM ihre Vormachtstellung gegenüber den und in den Paschtunen-, Punjabi- und Sindhiwohngebieten durchzusetzen. Vor allem aber beginnen sich Entführungen, Lösegeld- und Schutzgelderpressungen, Waffen- und Drogenhandel jetzt zu verselbständigen. Es wird unklar, ob die Jugendbanden und Mafias den MQM-Politikern oder diese den Banden dienen. Die Rollen des jugendlichen und gewalttätigen Kriegers, Dalals, Agitatoren, Geschäftsmannes und Kriminellen werden ununterscheidbar. Die MQM, besser die lokalen "Warlords" der Partei, unterhalten jetzt in ihren jeweiligen Vierteln nicht nur Audienzsäle und Amtsstuben, sondern auch Gefängnisse und Folterzellen. Inmitten des "informellen Wohnungssektors" begründen sie den informellen Staat. Die jetzt stark lokalisierte und zugleich entlang unterschiedlicher Mohallas und Geschäftsinteressen fragmentierte Bewegung hat die traditionellen Führer der Mohajir, ihre Honoratioren, Politiker und führenden Geschäftsleute eingeschüchtert und die gesamte Gruppe zur Geisel genommen. Wie weit der Einfluss der Bewegung reicht, zeigt sich daran, dass die MQM-Führung an bestimmten Tagen Karachi-weit Geschäftsschließungen durchführen kann, um ihren Forderungen oder Protesten Nachdruck zu verleihen. Wie rasch der Terror aber an seine Grenzen stößt, zeigt sich dann, wenn Geschäftsleute ihre Läden nicht mehr öffnen, um stumm gegen die Abgabenzahlungen und die von der MQM verursachte schlechte Wirtschaftslage zu protestieren.
Die zunehmende und diffuse Gewalt führt seit 1991 zu wachsender Unsicherheit und zur Lähmung des Wirtschaftslebens. Pakistan ist aber auf ausländische Direktinvestitionen und Kredite, auf das Schaufenster Karachi und auf das berechenbare Funktionieren seines größten Hafen-, Bank- und Industriezentrums angewiesen. Im Jahr 1992 entschließt sich daher das Militär zur Intervention. Da Nawaz Sharif davor zurückscheut, mit Gewalt gegen die MQM, seinen politisch immer noch so nützlichen Allianzpartner, vorzugehen, nutzt der Staatspräsident eine Auslandsreise des Chiefministers, um die Staatskontrolle über den Großraum wiederherzustellen. Diese Intervention führt keineswegs zur Entmachtung oder Zerschlagung der MQM, sie löst vielmehr einen Schattenkrieg aus, der sich über die nächsten Jahre hinzieht. (Frotscher 2005: S. 225-261) Diesem Schattenkrieg fallen vermutlich mehr als 8.000 Menschen zum Opfer. (Samao 2005: S. 63)
Weitgehend unvorhergesehen konsolidiert die Intervention auf Dauer die Stellung der MQM: Die der Bewegung inhärente Gewalttätigkeit wird durch die Armeeintervention, Abspaltungen und ein Widererstarken der politischen Führung von außen wie von innen zurückgedrängt. Dies fördert aber nur die Geschlossenheit und den fortdauernden Einfluss dieser Partei. Den Razzien der Armee und dem "Verschwindenlassen" der mit ihr zusammenarbeitenden Todesschwadronen fällt das militante Fußvolk der MQM und ein Teil der mit ihm verbündeten Kontraktkiller und Mafiosi zum Opfer. Dadurch wird es der politischen Führung auf Dauer möglich, sich gegenüber dem sogenannten "militärischen Flügel" durchzusetzen. Der Preis dieser Umwandlung der MQM in eine vordergründig friedfertige und zur Kooperation mit Militär und Gesamtstaat bereiten Partei zeigt sich aber an anderer Stelle: Seit der Mitte der 90er Jahre wird Karachi zu einem Zentrum sektarischer Gewalt und des fundamentalistischen Terrors (Nasr 2002: S. 85-114). An diesen Angriffen und Anschlägen beteiligen sich all jene religiös extremistischen Gruppierungen, die zuvor von der MQM aus Karachi ferngehalten wurden, die aber nach der Entmilitarisierung der stets säkularistischen MQM nunmehr in den Gewaltmärkten und Kacchi Abadis des Großraums Fuß fassen können.
Dieser Beitrag gehört zum Schwerpunkt: Südasien-Experten Spezial: Jakob Rösel .
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