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Die Mohajir, "Pilger", waren überwiegend Mitglieder und Anhänger der Muslim-Liga. Sie unterstützten also eine Partei, deren Forderung nach einem Pakistan und damit nach der Teilung Britisch Indiens die größte Fluchtbewegungen der indischen Geschichte auslöste. Sie selbst flüchten in die improvisierte Hauptstadt des neuen Kunststaates, nach Karachi. Hier etablieren und monopolisieren sie zunächst die Verwaltungs- und die Befehlstrukturen eines Staates, dem die einheimischen Gruppen in Ost- und Westpakistan, vor allem Bengalis und Punjabis, indifferent, manchmal feindlich gegenüberstehen. Von Anfang an zu einem Kondominium, zu einer Machtkooperation mit den Punjabi-Eliten gezwungen, verlieren sie bald ihre politisch dominante Stellung, sie bewahren sich aber einen privilegierten Zugang zur Staatsverwaltung. Sie stellen Teile des militärischen Befehlsapparates und sie sind die vorrangigen Träger und Nutznießer einer kommerziellen und nachholenden industriellen Entwicklung. Für Pakistan gilt, wie für Preußen: Das Land hat keine Armee, sondern eine Armee hat ein Land. Darüber hinaus aber galt bis 1957: Eine Flüchtlingselite hat einen und leistet sich einen Staat. Die Mohajir verlieren aber nicht nur ihre politische Vorrangstellung, seit den 80er Jahren sehen sie ihre Macht und ihren Einfluss in ihrem ureigensten Refugium in Karachi durch die afghanischen Kriegsflüchtlinge bedroht.
In diese Metropole der Mohajirflüchtlinge wandern von Anfang an weitere Flüchtlingsgruppen zu. Bauern und Landarbeiter aus dem Punjab, die der "grünen Revolution" zum Opfer gefallen sind; Balutschen, die den Hungersnöten und Überlebensschwierigkeiten dieser Wüstenregion entfliehen; sogenannte Biharis, die nach der Sezession Ostpakistans in Bangladesch gestrandet sind; schließlich zu Hunderttausenden die Paschtunen, überwiegend Kriegsflüchtlinge aus Afghanistan. Die Stadt, deren Einwohnerzahl sich vor allem dank dieser Zuwanderungen in jedem Jahrzehnt fast verdoppelt, und im Jahre 2000 auf 15 Millionen geschätzt wird, verwandelt sich dadurch in eine Arena, in der unterschiedlich starke Flüchtlingsgruppen um die Kontrolle über Land, Machtstellungen und Wirtschaftszweige kämpfen.
In einer Situation der vermeintlichen Ausgrenzung aus dem Staat und eines befürchteten Machtverlustes über die einzig verbleibende Bastion Karachi begründet eine neue, eine zweite Generation der Mohajir eine ethnische, eine Mohajirvolksbewegung. Dieses Mohajir Quaumi Movement löst ab 1992 einen sechs Jahre anhaltenden städtischen und terroristischen Aufstand aus, der die riesige Hafen-, Handels- und Industriestadt lähmt und die Stabilität Pakistans gefährdet. Die Mohajir und Karachi führen damit die politischen Funktionen und Chancen, Formen und Konsequenzen der Flucht in mehrfacher und bedrohlicher Weise vor Augen: Die Mohajir sind Opfer, aber auch Nutznießer einer der größten Fluchtbewegungen des 20. Jahrhunderts; sie verwandeln die wichtigste Metropole des neuen Kunststaates in ein Refugium ihrer Flucht; in ihrer Fluchtbastion von anderen Flüchtlingsgruppen bedroht, imaginieren sie seit den 80er Jahren eine neue ressentimentgeladene "ethnische" Mohajir-, also Flüchtlingsidentität, sie gründen eine entsprechende Mohajirpartei und riskieren einen Aufstand – gegen den einst von ihren Eltern erzwungenen Staat.
Diese Flüchtlingsgeschichte soll im Folgenden entlang des Aufstiegs, des Abstiegs und der Gegenwehr der Mohajir dargestellt werden. Ich schildere dabei die folgenden Entwicklungsschritte: Zunächst das Auslösen einer Fluchtbewegung seitens der Mohajir und deren eigene Flucht; daran anschließend die Macht und den Machtverlust der Mohajir; daraufhin das Wachstum Karachis und den Konflikt zwischen Mohajir und Paschtunen; am Ende den Aufstand dieser zum Volk mutierten Flüchtlingsgruppe. Bei der Studie handelt es sich um die bislang beste, auf intensiver Feldforschung basierenden Analyse der Mohajirbewegung. (An dieser Stelle sei ausdrücklich auf die umfassende Untersuchung von Frau Ann Frotscher (2005) verwiesen. Insbesondere wird der Aufstand und Schattenkrieg der Mohajir ausführlich dargestellt, der in diesem Aufsatz nicht detailliert geschildert werden kann.)
Der Kampf um die Unabhängigkeit Britisch Indiens wird anfangs vom Indischen Nationalkongress getragen. Seit den 1920er Jahren radikalisiert sich die Unabhängigkeitsbewegung, und sie zeigt sich nunmehr in der Konkurrenz zweier unterschiedlicher Parteien und Unabhängigkeitsvisionen. Der Congress fordert die Unabhängigkeit für ein Land, für "eine Nation" der Inder. Die Muslim-Liga, geführt seit den 30er Jahren von Mohamed Ali Jinnah, fordert nunmehr die Unabhängigkeit für "zwei Nationen", für die Nation der Hindus und für die Nation der Muslime. Noch geht es um getrennte Wählerschaften, Schutzklauseln und Autonomierechte für die 24 Prozent starke Minderheit der Muslime gegen die 70 Prozent starke Mehrheit der Hindus. Seit 1940 fordert aber die Muslim-Liga einen eigenen Staat, Pakistan. Mit der Wahl 1946/47 ist eindeutig geworden, dass die Muslim-Liga dank einer geschickt und opportunistisch durchgeführten Wählermobilisierung mehr als 80 Prozent der wahlberechtigten Muslime von der Notwendigkeit eines Pakistans und damit der Teilung des Landes überzeugt hat. Die überwältigende Masse der Muslime, die im Winter 1946/47 für die Liga und Pakistan votiert, identifiziert sich mit einer Vision und folgt den Aufforderungen lokaler Magnaten und Pirs, heiliger Männer. Diese oft illiteraten Wähler ahnen nicht, dass die Schaffung eines Pakistans und die Teilung Britisch Indiens auch die Teilung der zwei ausgedehnten Kernprovinzen Indiens, des Punjab und Bengalens, zur Folge haben müssen. Der Führung, den Kadern und den gebildeten Parteigängern musste allerdings bewusst sein, dass zumindest die Teilung des Punjab unkontrollierbare Massaker und Vertreibungen auslösen musste. Nach Millionen zählende Minderheiten von Hindus und Muslimen lebten seit Jahrhunderten im Westen und im Osten des Punjab. Mehr als die Hälfte der Anbauflächen und der Sakralzentren der Religionsgemeinschaft der Sikhs lag in dem mehrheitlich muslimischen Westpunjab.
Bereits seit Jahresbeginn 1947 zeigen sich im Punjab unkontrollierte, von Hindumilizen, privaten Sikharmeen und Muslimmobs ausgelöste Gewaltkreisläufe, Pogrome und Vertreibungen. Nachdem am Tag der Unabhängigkeit die neuen Grenzen offengelegt werden, verwandelt sich der ganze Punjab, eine Region von der Größe Deutschlands, in eine ethnische, religiöse und sektarische Kampfzone. In Tausenden von Dörfern und Hunderten von Kleinstädten werden die jeweiligen Minderheiten von organisierten Mobs attackiert, getötet, vertrieben. Die Kolonialmacht verliert jetzt endgültig die seit langem geschwächte Kontrolle über die einheimischen Truppen, deren Hindu- oder Muslimkontingente oft gemeinsame Sache mit Hindu- oder Muslimkampfgruppen machen. Die Congressführung in Neu Delhi bleibt zunächst macht- und tatenlos; im östlichen, im indischen Punjab zeigt sich die Verwaltung hilflos, im westlichen, im pakistanischen Punjab existiert sie nicht mehr.
Riesige, oft über 50 Kilometer lange Flüchtlingstrecks der Hindus und Sikhs versuchen Indien, diejenigen der Muslimbauern versuchen Pakistan zu erreichen. Die Flüchtlingszüge sind Städte auf Füßen und umfassen oft mehr als 30.000 bis 50.000 Menschen. Die Ochsenkarren, die Alten, Verletzten und Kinder, die mitgenommenen Kühe und Ziegen kommen nur langsam vorwärts. Den Flüchtlingstrecks aus dem Osten begegnen oft Flüchtlingszüge aus dem Westen. Nach der ersten Beschimpfung, den ersten Steinen setzen tagelange blutige Kämpfe ein. Die Flüchtlingstrecks werden von den Milizen und Mobs der umliegenden Dörfer und Städte attackiert; je länger sie sich ziehen, desto verwundbarer werden sie. Britische Piloten berichten, sie seien länger als eine Stunde über den Punjab geflogen und hätten nicht das Ende dieser Flüchtlingszüge erreicht. Aber auch für diejenigen, die mit der Eisenbahn flüchten, führt die Flucht oft in den Tod. Die Züge werden angehalten, in Ferozpur auf der indischen und in Lahore auf der pakistanischen Seite kommen mit Leichen gefüllte Waggons an. (Hodson 1969: S. 386-418) Die Zahl der an ihren Heimatorten oder während der Flucht Erschlagenen ist niemals erfasst worden, auch die gesamte Zahl der bis 1948 Vertriebenen beruht auf Schätzungen: "No one knows and no one will ever know the exact figures, but it appears that about 6 million Muslims came into Pakistan and about 5 to 6 million non-Muslims left it. Something like one million of the total died in the process, from starvation, exhaustion, disease, or murder" (Davis 1951: S. 197). In der größten Fluchtbewegung der indischen Geschichte verlieren mehr als 11 Millionen ihre Heimat; mehr als die Hälfte der Bevölkerung des Punjab wird zum Flüchtling.
Diese Massenfluchten traumatisieren die Betroffenen, aber sie lassen weder Indien und Pakistan noch den Punjab zusammenbrechen. Die Masse dieser Flüchtlinge sind Bauern, Dorfhandwerker und Erntearbeiter, sie werden auf pakistanischer Seite in den von den Sikhbauern "gereinigten" Canal Colonies, auf indischer Seite in den von den Muslimen "geräumten" Dorfvierteln und Mohallas angesiedelt. Die Regierungen und die Geschichte beider Länder gehen über das Schicksal dieser Flüchtlinge hinweg. Erst seit 10 Jahren beginnen indische Historiker – im Rahmen einer "oral history"-Forschung – die Überlebenden dieser Massenfluchten und deren Nachfahren zu befragen. In Pakistan zeigt sich nicht einmal diese Form des Erinnerns.
Nicht alle Pakistanflüchtlinge lassen sich in Dörfern nieder, mehr als eine Million, überwiegend städtische Handwerker, Händler und Arbeiter, ziehen in die Städte des Punjab und der North West Frontier Province. Die von Hindus und Sikhs "gesäuberten" großen Verwaltungszentren und Handelsstädte des Punjab und der Grenzprovinz verfügen nach dem erzwungenen Bevölkerungstausch nunmehr über einen oft extrem hohen Anteil an Flüchtlingen: Lahore 46 %, Lyallpur 70 %, Gujranwalla 51 %, Rawalpindi 40 %, Multan 44 %, Sialkot 33 % (Government of Pakistan 1955). Dennoch, die gemeinsame Sprache des Punjabi, eine Ähnlichkeit der bäuerlichen oder städtischen Berufslage und die Fähigkeit und Bereitschaft, sich mit lokalen Kasten-, Stammes- und "Biraderi"-Netzwerken zu arrangieren, dies alles führt dazu, dass diese Flüchtlinge rasch kulturell, ökonomisch, sozial und politisch integriert werden. Sie begründen keine eigenen Interessengruppen, Bewegungen, Parteien oder Fraktionen.
Dies unterscheidet diese neuen Punjabis radikal von einer kleineren, Mohajir genannten Flüchtlingsgruppe. Diese Flüchtlinge stammen nicht aus dem Ostpunjab, sondern aus Nord- und Mittelindien, aus den United Provinces, aus Maharashtra, Gujrat und dem Dekhan. Überwiegend haben sie in Städten gelebt; sie sind literat und beruflich qualifiziert, und viele haben in der britischen Verwaltung gedient. Sie beherrschen das von den Engländern auf den mittleren Verwaltungsebenen benutzte Urdu, eine während der Mogulherrschaft entstandene Soldaten-, Garnisons-, Händler- und am Ende Literatur- und Verwaltungssprache. Die aus den unterschiedlichsten Distrikten stammenden Mohajir können sich dank dieser Sprache miteinander verständigen. Diese Honoratioren, Magnaten, Unternehmer, Anwälte, Künstler und Beamten bildeten und bilden jene relativ aufgeklärte und zugleich religiös korrekte überlokale Muslimelite, die sich frühzeitig der Muslim-Liga und von Anfang an der Pakistanforderung angeschlossen hatte. Viele sind Politiker, Kader, Mitglieder der Muslim-Liga. Sie nennen sich in Anspielung auf die Hijra, den Fortgang Mohammeds und seiner Anhänger von Mekka nach Medina, "Mohajir", Pilger. Nicht alle sind Opfer von Vertreibungen und Pogromen, viele ziehen freiwillig in den neuen, idealen Staat. Oft können sie ihre Reise, ihre "Pilgerfahrt" planen, und manche können zumindest einen Teil ihres Vermögens retten und transferieren.
Die Flucht und Pilgerfahrt der Mohajir richtet sich von Anfang an auf Karachi. Karachi ist die Hauptstadt des neuen Staates. Karachi wird gewählt, nicht weil es die Geburtsstadt Jinnahs ist, sondern weil dieses Hafen- und Handelszentrum neben Lahore die einzige entwickelte Großstadt (West-)Pakistans ist, weil Jinnah den Punjabis und der Hauptstadt des Punjab misstraut und weil zusätzlich Lahore nahe der neuen Grenze zu Indien liegt (Frotscher 2005: S. 88-116). Karachi ist de facto eine Gründung der britischen Kolonialmacht. Bis 1900 hat dieses ehemalige Fischerdorf in weniger als 60 Jahren eine enorme strategische und kommerzielle Bedeutung angenommen. Von Karachi aus wird der Persische Golf kontrolliert, der Weizen und Zucker des Punjab und der Kanalkolonien wird über Karachi exportiert; der Hafenplatz konkurriert inzwischen mit dem seit drei Jahrhunderten bestehenden Bombay. Seit 1900 beginnt die Stadt noch rascher zu wachsen: 1947 leben ca. 500.000 Menschen in der Stadt, eine große Anzahl davon Hindus. Als Beamte, Händler und qualifizierte Spezialisten ("liberal professions") unterstützen sie die britische Herrschaft und sind ihre Nutznießer. Im Sommer der Unabhängigkeit werden sie alle vertrieben. Das gleiche Schicksal trifft auch die Hindubevölkerungen der übrigen Städte des Sindh, insbesondere Haidarabad und Sukkur.
Es sind die mehr als eine Million umfassenden Mohajir, die nunmehr die Häuser und Amtsstellen der Hindus übernehmen. Das Gros der Mohajir, mehr als 600.000, zieht nach Karachi. Weitere Mohajir lassen sich in Haidarabad, Sukkur und anderen großen Städten des Sindh nieder. Diese Ansiedlung der Mohajir verändert grundlegend den Charakter der meisten Städte im Sindh. Da weit mehr Mohajir kommen, als Hindus gehen, verwandeln sich die Städte des Sindh nunmehr in Bastionen von Fremden, während die Zahl der Stadtbewohner insgesamt sprunghaft ansteigt. Zum Zeitpunkt der Teilung hatte Karachi eine halbe Million Einwohner. Rund 100.000 Hindus, Hindubeamte, -prokuristen, -anwälte, -ärzte, also das Rückgrat der kolonialen Verwaltung und der großen angelsächsischen Firmen und Handelsunternehmen, werden vertrieben. Zurück bleibt ein winziger Rest überwiegend Unberührbarer, die als Wäscher oder als "Sweeper", als Latrinenreiniger oder Diener arbeiten. Mindestens 600.000 Mohajir aber drängen in die Stadt. Innerhalb weniger Monate wird Karachi zu einer Millionenmetropole. Jetzt sind 57 Prozent der Stadtbewohner Mohajir. Haidarabad, das nach dem Niedergang Tatthas wichtigste politische und sakrale Zentrum des Sindh, hat vor der Unabhängigkeit weniger als 100.000, durch den Zuzug verfügt die Stadt jetzt über 240.000 Menschen, 65 Prozent der Bewohner sind Mohajir. Gleiches gilt für das im Norden gelegene Sukkur: Im Jahr 1951 hat es 77.000 Einwohner, davon sind 55 Prozent Mohajir (Government of Pakistan 1955). Karachi verwandelt sich aufgrund dieses immensen und unkontrollierten Zuzugs in ein riesiges Flüchtlingslager. Während die vermögenden und politisch einflussreichen Mohajir die leerstehenden Wohnungen und Villen der Hindus übernehmen, siedeln Hunderttausende auf den Freiflächen im Zentrum und im Umkreis der Stadt.
In dem Chaos und Gedränge der Flüchtlingsstadt gilt es zunächst, den neuen Staat vor dem Kollaps und der Anarchie zu retten. Dabei fallen rasch folgenschwere Entscheidungen. Der Sindh, erst seit 1935 eine eigenständige Provinz mit einem Provinzparlament, hat fast bis zum Schluss die Errichtung des Staates Pakistan abgelehnt. Karachi ist mit weitem Abstand die größte Stadt des Sindh, sein Tor zur Welt und eine enorm wichtige Quelle von Pfründen und Steuern. Die Sindhregierung und die überwiegend agrarische Sindhelite hat der neuen Regierung, Jinnah und der Muslim-Liga, gerne Gastrecht gewährt; sie will aber die Kontrolle über die Metropole nicht verlieren. Jinnah hat sich das mit kolonialen, autokratischen Interventionsrechten ausgestattete Amt des Governor General gesichert, um angesichts des zu erwartenden Chaos den neuen Staat festigen zu können. Mithilfe dieser Rechte, mit Intrigen und mithilfe der Manipulation des Sindhparlaments setzen er und die Ligaregierung durch, dass die Sindhregierung Karachi an den neuen Staat abtritt. Karachi wird Hauptstadt Pakistans und zu einem autonomen, nur der Regierung unterstellten Gebiet. Mit einem Schlag verliert die Sindhi-Elite und eine erste Generation der Sindhi-Nationalisten die Kontrolle über ein für sie wichtiges Prestige-, Investitions- und Manipulationsobjekt.
Für den neuen Staat muss eine Staatssprache festgelegt werden. Durchgesetzt wird die überregionale Schrift- und Verwaltungssprache Urdu. Die um ein homogenisierendes Nation Building bemühte Liga-Regierung will aber das Urdu auch in den Provinzen durchsetzen. Die Punjabi-Elite unterstützt dieses Ansinnen, weil sie frühzeitig erkennt, dass sie ihre demographische und ökonomische Vorrangstellung in Westpakistan am besten dadurch konsolidieren und verschleiern kann, indem sie sich umstandslos mit dem neuen Staat identifiziert – um ihn anschließend unter dem Vorwand der Staatsloyalität und der raison d’état zu übernehmen. Nachdem Urdu zur Verwaltungssprache des Punjab erhoben wird, erhöht sich der Druck auf den Sindh. Das Sindhi ist aber eine seit Jahrhunderten etablierte, genutzte und gefeierte Literatur- und Verwaltungssprache – ganz im Gegensatz zum Punjabi. Wiederum unter Einsatz autoritärer Interventionen und politischer Manipulationen wird Urdu als Verwaltungssprache des Sindh eingeführt. Diese Maßnahme verstärkt einen gegen die Regierung und gegen die Mohajir gerichteten Sindhi-(Sprach-)Nationalismus (Jalal 1990: S. 8-93).
Der neue Staat wird beherrscht von M. A. Jinnah. Er ist zwar in Karachi geboren, hat aber seinen Berufsaufstieg und seine politische Karriere in Bombay und in Nordindien gefunden. Er entstammt der als religiös suspekt geltenden Khojja- (Händler-)Gemeinschaft, er ist mit einer Parsifrau verheiratet, er ist ein Säkularist und gilt in den Kreisen der Mullahs und Maulanas als schlechter Muslim, aber unverzichtbarer politischer Führer. Er ist nicht nur "the sole spokesman", im Triumph nach Karachi zurückgekehrt, ist er der exemplarische Mohajir (Jalal 1995). Sein Premier, Liaqat Ali Khan, ist ebenfalls ein Mohajir, ebenso wie fast alle seine Kabinettskollegen. Aber auch das Parlament, das jetzt in dem Prachtbau der ausquartierten Sindh-Assembly seine Sitzungen abhält, besteht zu einem erheblichen Teil aus Mohajir und Ligaveteranen. Da der gesamte Kolonialapparat im Sindh, im (West-)Punjab und in der Grenzprovinz in einem hohem Maße von inzwischen geflohenen Hindubeamten gestellt wurde, so gilt es jetzt, diese Posten mit qualifizierten Muslimen zu besetzen. Es ist verständlich, dass die Regierung dabei vorrangig auf die nach Pakistan geflohenen und in Karachi konzentrierten Mohajirbeamten zurückgreift. Auf allen Ebenen und in fast allen Landesteilen wird der Verwaltungsapparat von Mohajir übernommen und zunächst monopolisiert. Dem Einsatz, der Loyalität und der Opferbereitschaft dieser "(Pakistan)Pilger" verdankt der neue Staat sein Überleben – glauben diese Flüchtlinge. In Abwandlung der Nationendefinition von Ernest Renan haben sie "vieles gemeinsam erlitten, nichts vergessen und sie haben vor, noch vieles zu tun" – dies alles für Pakistan (Renan 1882/1991: S. 41).
Ein corps d’esprit entwickelt sich in dieser Bürokratenschicht und staatstragenden Elite. Dieses Ethos wird durch ein nachvollziehbares Ressentiment und durch eine realistische Einschätzung komplettiert. Die Mohajir wissen, dass sie in dem neuen Gastland nicht willkommen sind. Sie halten aufgrund des Entwicklungsrückstandes des Industals dessen Bewohner für ignorant und abergläubisch, dessen Agrareliten und Magnaten für korrupt und unverantwortlich. Sie alle gelten als undankbar. Soll der Staat nicht fallen, so müssen sie, die Mohajir, die schmerzhaften Entscheidungen treffen. Bereits während der ersten vier Jahre allerdings beginnen sich die Machtgewichte zu verlagern, eine neue Machtallianz entsteht: Ein Jahr nach der Unabhängigkeit stirbt Jinnah, vier Jahre nach der Unabhängigkeit fällt der Jinnah-Gefolgsmann und Ligaveteran Liaqat Ali Khan einem nie aufgeklärten Attentat zum Opfer.
Mit dem Tod des "großen Führers" und des "Führers des Volkes" (besser: der Mohajir) ist die heroische Phase der Muslim-Liga beendet. Es zeigen sich jetzt im Machtzentrum und im Verwaltungsapparat Machtkämpfe und -verschiebungen, die hier nicht detailliert werden, die aber zu einer Mohajir-Punjabi-Allianz führen. Innerhalb dieser Machtteilung und -kooperation verliert allerdings die Mohajirelite beständig an Einfluss: In dem neuen Kunststaat zeigen sich drei Machtgefälle: Die Karachi-Mohajir dominieren zunächst den Staat; Westpakistan mit rund 40 Prozent der Bevölkerung dominiert politisch und militärisch Ostpakistan – mit 60 Prozent der Bevölkerung; in Westpakistan dominiert der Punjab mit 60 Prozent der Bevölkerung wirtschaftlich und schließlich politisch die übrigen Bevölkerungsgruppen, also Sindhi, Paschtunen, Balutschen, am Ende auch die Mohajir. (Jaffrelot 2002: S. 7-48)
Angesichts eines unausgesprochenen Konsens, dass die bengalische Bevölkerungsmehrheit daran gehindert werden muss, den Staat – auf der Grundlage eines "one man, one vote" – zu beherrschen, bildet sich im Westen frühzeitig eine Interessenallianz zwischen der Mohajir- und der Punjabielite. Aufgrund seiner Bevölkerungsstärke stellt der Punjab jetzt rasch die meisten Ligamitglieder und -politiker. Nach den Monaten der Teilung und des Chaos hat sich die Liga im Punjab vordergründig konsolidiert, in Wirklichkeit ist sie jetzt endgültig von opportunistischen Punjabimagnaten und Provinzpolitikern usurpiert worden. Da der Punjab seit britischer Zeit über den höchsten Entwicklungs- und Bildungsstand in Westpakistan verfügt, so übernehmen jetzt auch Punjabibürokraten auf allen Ebenen Macht- und Verwaltungsstellungen.
Inzwischen ist auch der koloniale Militärapparat endgültig zwischen Indien und Pakistan aufgeteilt und in (West)Pakistan unter britischer Assistenz rekonstituiert worden. 80 Prozent dieser Armee werden traditionell aus den "martial races", als wehrhaft geltenden Kasten und Stämmen des Westpunjab, rekrutiert. Der Rest der Soldaten sind überwiegend Paschtunen. Die Mohajir sind in der Armee kaum vertreten, in den oberen Befehlsrängen befinden sich allerdings einige Mohajir und relativ wenige Paschtunen. Der ehemalige Diktator Parviz Musharaf ist beispielsweise ein Mohajir. (Jones 2002: S. 250-280) In dem Jahrzehnt nach der Unabhängigkeit spielt sich – mithilfe zahlloser Regierungswechsel, politischer Intrigen und Stellenbesetzungen – eine neue, von der Mohajir- und Punjabielite getragene Machtbalance ein. Die Machtverschiebung zeigt sich insbesondere an der Staatsspitze, beim Amt des Governor General und des Premierministers. Zugleich beginnt die von Punjabis gestellte und befähigte Armee hinter den Kulissen die Regierungspolitik entscheidend mitzubestimmen. Mit dem von Ayub Khan durchgeführten Militärputsch von 1958 tritt die Armee offen auf die Bühne.
Der Demokratisierungsprozess war diskreditiert und blockiert worden durch die Versuche der Mohajir und der Punjabipolitiker, Ostpakistan und der bengalischen Mehrheit ein uneingeschränktes Stimmrecht zu verweigern. Mit dem Putsch ist der Demokratisierungsversuch endgültig gescheitert. Die Mohajir finden sich aber jetzt in einer Situation wieder, die sie in Zukunft mit wachsender Macht-, Einfluss- und Bedeutungslosigkeit bedroht: Pakistan mochte als ein "Mojahiristan" gegründet worden sein, mit dem Ausbau der Militärherrschaft droht es sich in ein "Punjabistan" zu verwandeln – in der Einschätzung dieser Flüchtlinge und Staatselite. (Talbot 2002: S. 51-62) Diese Machtverschiebung zeigt sich an einer für den "Marschall" und de facto-Punjabi Ayub Khan charakteristischen Entscheidung. Die Hauptstadt soll nicht länger an der Südküste und unter Mohajirkontrolle stehen, sondern im Punjab und in der Nähe des zentralen Garnisonsstadt Rawalpindi liegen. Hier im Süden Rawalpindis entsteht nach den Vorgaben einer griechischen Planungsfirma eine neue, "Stadt des Islam" genannte, Hauptstadt. Der Grundriss von Islamabad erinnert eher an ein Militärlager als an ein Regierungszentrum. Noch vor der endgültigen Fertigstellung ziehen Militärregierung und Parlament nach Islamabad. Sie stehen damit bis heute unter Aufsicht des in Rawalpindi konzentrierten Militärs.
Karachi wird aber wiederum zum Zentrum des Sindh. Die Mohajir verlieren damit die politische Kontrolle über die Metropole und fürchten, künftig von den Sindhwählern und -parteien majorisiert zu werden. Wollen die Mohajir nicht in die Macht- und Bedeutungslosigkeit zurückfallen, so müssen sie fortan mit einer weit stärkeren Macht zusammenarbeiten, von der sie sich zugleich aus vielerlei, aus historischen, politischen und kulturellen Gründen distanzieren. Sie sind zu diesem Kondominium mit den Punjabis gezwungen, weil sie die Sindhelite stärker verachten und weit stärker fürchten müssen; weil die Punjabi-Eliten und -Militärs für ein starkes, zentralisiertes Pakistan eintreten; weil nur diese Machtgruppe ihnen eine nach wie vor starke, wenn auch nicht mehr dominante Stellung im Staatsapparat sichert. Noch 1973 stellen die Mohajir – lediglich 6 Prozent der Bevölkerung – 30 Prozent der Beamten im gesamtstaatlichen, 85.000 Stellen umfassenden Verwaltungsapparat ("General Administration"), und sie stellen 34 Prozent des Elitekaders, der 6.000 "Senior Civil Servants". Selbst nachdem die den Sindhi-Interessen verpflichtete Bhuttoregierung den Mohajir lediglich eine 7,6 Prozent betragende Zugangsquote auferlegt hat, können die Mohajir eine überdurchschnittliche Präsenz im Staatsapparat bewahren. Im Jahr 1983 stellen sie noch 17 Prozent des Beamtenapparates und 20 Prozent des Elitekaders – bei 1983 134.000 und 12.000 Stellen. (Samad 2002: 63-84)
Neben einer erzwungenen Kooperation zeigt sich aber eine wachsende politische Distanz. Der Militärherrscher Ayub Khan versucht sich im Rahmen zweier weitgehend gesteuerter Wahlen demokratisch zu legitimieren. Bei einer Präsidentenwahl votieren die Mohajir mit großer Mehrheit für die gegen Ayub Khan angetretene greise Schwester Jinnahs, Fatima. Bei einer Parlamentswahl entscheidet sich die Mehrzahl der Mohajirwähler gegen ihre traditionelle Partei, die Muslim-Liga. Diese ist inzwischen von Ayub Khan re-konstituiert und übernommen worden. Die Mohajir entscheiden sich aber auch nicht für die von den Oppositionspolitikern getragene sogenannte Council Muslim League. Sie wählen vielmehr in ihrer überwältigenden Mehrheit jetzt eine zuvor gemiedene, islamistische Partei, die Jamiat-i-Islami des Fundamentalisten Maududi. Diese Zuwendung ist charakteristisch, aber nicht dauerhaft. Die Jamiat-i-Islami steht für einen fundamentalistischen Islam, den die Mehrheit der gut ausgebildeten, hoch kultivierten und säkularistisch orientierten Mohajir im Grunde ablehnt. Die Partei steht zugleich für einen hochzentralisierten Staat, und sie propagiert jene bürokratischen Sekundärtugenden, die die Mohajir bei den Einheimischen und in dem neuen Staat so schmerzlich vermissen. Vor allem aber steht sie, als eine für eine Minderheit offene Klein- und Kaderpartei, gegen den von säkularen Militärs dominierten Staat. (Nasr 1994: S. 3-43)
Seit Beginn der Militärdiktatur zeigt sich mithin eine neue Entwicklung: Die Mohajir fürchten, dass weder ihre Opfer noch ihre Verdienste anerkannt werden. Um ihre geschwächte Stellung zu bewahren, kooperieren sie mit einem Staat, von dem sie sich politisch distanzieren. Sie identifizieren sich mit einem meritokratischen Ideal, demzufolge ihnen eine Führungsrolle zusteht. Die Missachtung dieses Ideals seitens der einheimischen Eliten begründet ein wachsendes Ressentiment. Das Ideal und das Ressentiment fördern eine von der Mohajirelite getragene diffuse, auf Abgrenzung und Selbstprivilegierung gegründete Identität. Dies ist noch keine ethnische Identität. Die Gruppe ist nach Herkunft, Spezialisierung, sektarischer Ausrichtung und nach ihrer Sprache viel zu heterogen, um sich als einheitliche ethnische Gemeinschaft konzeptualisieren und repräsentieren zu können. Lediglich eine Identifizierung mit dem Urdu und dem Bild des korrekten Muslim verschaffen eine minimale Einheit.
Neben den aus den unterschiedlichsten Herkunftsgebieten zusammengewürfelten Mohajir umfasst die Flüchtlingsgruppe darüber hinaus auch zahlreiche traditionelle Händlergemeinschaften. Diese hatten sowohl in Karachi wie in dem benachbarten Gujarat und vor allem in der Handelsmetropole Bombay gelebt. Erst nach der Teilung haben sie sich in Karachi konzentriert. Sie sprechen überwiegen Gujarati und hängen den unterschiedlichsten, oft als heterodox eingeschätzten islamischen Glaubensrichtungen an. (Aitken 1907: S. 157-180) Diese Händlergemeinschaften aber tragen und monopolisieren eine beeindruckende industrielle Entwicklung, die sich erst im Rahmen der Laissez-faire-Ökonomie unter Ayub Khan entfalten kann. Während der zehn Jahre der Militärdiktatur Ayub Khans, gefördert durch staatliche Hilfen und Kredite, errichten die aus diesen Händlergemeinschaften stammenden Unternehmer und Bankhäuser neue Grundstoff-, Stahl- und Textilindustrien.
Diese Industrien werden zunächst vorrangig in Karachi angesiedelt; sie verwandeln die Metropole in das mit Abstand größte Industriezentrum des Landes. Der neue Reichtum kommt aber nicht nur der Stadt und den Mohajir zugute, die neuen Industrien ziehen auch verarmte Punjabibauern, ebenso wie wagemutige Unternehmer, Mitglieder der Chiniotigruppe, an. Die Industrien beschleunigen damit das Wachstum und die Ausdehnung des Großraums. Die wirtschaftliche, insbesondere die industrielle Entwicklung Pakistans wird damit ausgelöst und beherrscht von traditionellen Händlergemeinschaften, die weniger als 0,1 Prozent der Bevölkerung stellen, aber die überwältigende Masse des Investitionskapitals und des Aktienbesitzes kontrollieren. Von 22 Familien ist später die Rede, die mehr als vier Fünftel des industriellen Reichtums des Landes besitzen (Talbot 1999: S. 181).
Auch in der Wirtschaftsentwicklung zeigt sich damit das Engagement und das meritokratische Operationsprinzip der Mohajir – glauben diese Flüchtlinge. Auch bei der Wirtschaftsentwicklung gilt es, die Mohajir zurückzudrängen, zu kontrollieren oder zu kooptieren – glauben die Punjabi- und Sindhi-Eliten. Die Zurückdrängung des den Mohajir noch verbliebenen Einflusses auf die Verwaltung und die Kontrolle ihrer Wirtschaftsmacht wird jedoch erst nach einer das Überleben des Gesamtstaates gefährdenden Katastrophe möglich – der Sezession und der Unabhängigkeit Bangladeschs. Der Niedergang von Ayub Khans Militärherrschaft wird seit 1966 vorangetrieben und genutzt von dessen ehemaligem Außenminister, dem einer prominenten Sindhifamilie entstammenden Zulfikar Ali Bhutto. Diesem ist es gelungen, eine neue Volkspartei, die Pakistan Peoples Party, zu gründen, der zumindest in der Opposition zur Militärherrschaft Ayub Khans das Unmögliche gelingt: Die PPP stützt sich auf einen politisch gemäßigten Sindhi- (Sprach-) Nationalismus und eine Mehrzahl der Wähler des Sindh, zugleich kann sich die PPP aber im Punjab jene Wählerstimmen und Elitenunterstützung sichern, die notwendig sind, um in (West-) Pakistan den Wahlsieg zu sichern. (Wolpert 1993: S. 100-245)
Nachdem das Militär selbst Ayub Khan zum Rücktritt zwingt, führt der Militärchef der Übergangsregierung, Yahya Khan, Wahlen durch. Um das durch die Diktatur nicht gelöste, lediglich aufgeschobene Problem der angemessenen politischen Gewichtung Ostpakistans endlich zu lösen, werden diese Wahlen zum ersten Mal nach dem Prinzip "one man, one vote" durchgeführt. In Ostpakistan gewinnt daraufhin, vorhersehbar, die rasch für die De-facto-Sezession eintretende Awami-Liga, in Westpakistan dagegen die kompromisslos für die Einheit des Landes eintretende PPP. Eine Intervention des westpakistanischen Militärs, ein Massaker, ein Bürgerkrieg in Ostpakistan, schließlich die Gründung Bangladeschs sind die Folgen der Politik und des Wahlsiegs der beiden Parteien. Z. A. Bhutto, der diese Katastrophe mit verschuldet hat, wird zum gefeierten Retter des verbliebenen (West-) Pakistan. Er muss das gedemütigte Militär nicht fürchten und kann jetzt zur Stärkung seiner Stellung Sindhiforderungen weit entgegenkommen, solange diese Punjabiinteressen nicht verletzen. Seine Politik geht damit auf Kosten der Mohajir.
Bhutto gibt dem Land eine demokratische Verfassung, vor allem aber gibt er (West-) Pakistan seinen Provinzföderalismus zurück, der ihm durch Ayub Khans "One Unit Scheme" genommen wurde: Nach diesem Schema war Westpakistan und Ostpakistan jeweils zu einer "Unit" erklärt worden, beiden Einheiten waren – entgegen der Bevölkerungsmehrheit im Osten – jeweils die Hälfte der Sitze im Nationalparlament zugewiesen worden. Dadurch sollte die Gefahr einer politischen Majorisierung seitens der Bengalen abgewendet werden. Zugleich wurde damit aber auch dem Militärapparat und der Mohajir-Punjabielite eine Schiedsrichterrolle zugeschanzt. Die Rückkehr zum Föderalismus, damit die Wiedererrichtung der Sindhprovinz, -regierung und -Landtag muss zu einer Machtkonfrontation zwischen Sindhimehrheit und Mohajirminderheit führen. (Choudhury 1993)
Karachi ist jetzt wieder die politische Kapitale des Sindh, das Parlament tagt wieder in seinem alten Prachtbau. Die Mohajir aber müssen sich jetzt gegen die fast dreimal stärkere Mehrheit der Sindhis politisch behaupten. Im Jahr 1996 ist das Zahlenverhältnis 8 Millionen Mohajir gegen 22 Millionen Sindhis. Die Mohajir müssen fortan mit einer der beiden großen Volksparteien, der im Sindh konsolidierten PPP oder der wiedererstandenen Muslim-Liga, Absprachen treffen oder sich, wie zuvor, mit der bedeutungslosen Jamiat-i-Islami einlassen. In jedem Fall zwingt sie ihre unvermeidbare politische Verwundbarkeit und ihre neue Abhängigkeit – von Provinzregierungen und -politikern – dazu, ihre gemeinsamen Interessen zu formulieren und ihren kulturellen, sozialen oder politischen Zusammenhalt künftig zu steigern.
Wie verwundbar sie jetzt in ihrer eigenen Bastion und in den von ihnen bevorzugten Berufs- oder Wirtschaftssektoren sind, zeigen drei weitreichende Entscheidungen der Bhutto-, also der PPP-Regierung. Diese Maßnahmen werden als Beiträge zur demokratischen, administrativen oder ökonomischen Entwicklung Pakistans gerechtfertigt, sie schwächen aber direkt die Karrierechancen und die Stellung der Mohajir: (1) Nach der Wiedererrichtung der Sindhprovinz darf die Sindhregierung auch darüber entscheiden, welche Verwaltungs- und Unterrichtssprache gelten soll. Sindhi wird erwartungsgemäß als Provinzsprache wieder eingeführt. Die Maßnahme verschafft Bhutto große Popularität, verschärft den Sprachantagonismus im öffentlichen Leben und steigert das Ressentiment der Mohajir. (2) Bhutto will den Staatsapparat modernisieren und ihn zugleich für Alle, vor allem für die bislang ausgeschlossenen Gruppen, öffnen. Zu diesem Zwecke werden für die Landesteile Quoten festgelegt; der Punjab erhält 50,0 %, die Grenzprovinz 11,5 %, Balutschistan 3,5 %, der Norden und die Stammesgebiete (FATA) 4,0 %, Azad Kashmir 2,0 %. Diese Quoten entsprechen ungefähr dem Anteil der jeweiligen Bevölkerungsgruppen. Im Falle des Sindh, dem 19 Prozent zustünden, wird aber zwischen einem städtischen Sindh mit 7,6 Prozent und einem ländlichen Sindh mit 11,4 Prozent unterschieden. Die Maßnahme soll sicherstellen, dass die Mohajirzugänge auf unter 8 Prozent gedrückt werden können und dass die weit höher gebildeten Mohajir nicht – als Sindhbewohner – von einer 19-prozentigen Sindhquote profitieren.
Die Maßnahme löst massive Proteste von Seiten der Mohajir aus. Diese haben sich bisher die Kontrolle des Verwaltungsapparates mit den Punjabis geteilt: Punjabis 49 Prozent, Mohajir 30 Prozent; daneben dienten noch 11 Prozent Paschtunen im Staatsapparat. Im Elitekader stammen sogar 97 Prozent der Beamten aus diesen drei Gruppen. Der Forderung nach einer angemessenen Beteiligung aller Gruppen setzen die Mohajir ihr Ideal der Leistungsgerechtigkeit entgegen (Jaffrelot 2002: S. 23). Zugleich verweisen sie darauf, dass sie als Menschen ohne Land und ohne Macht nur aufgrund ihrer Ausbildungsleistungen und Kompetenzen Aufstieg und Arbeit finden können. (3) Eine dritte Maßnahme zielt gegen die den Karachi-Händlergemeinschaften entstammenden größten Unternehmer- und Bankiersfamilien, trifft aber auch deren Klienten, Angestellte und Gefolgschaften, also viele Mohajir. (Duncan 1989: S. 77-97)
Bereits in der Endzeit Ayub Khans hatte Mahbub ul Haq, der "Architekt" des pakistanischen Wirtschaftsaufschwungs, in einer sensationellen Rede geklagt, 22 Familien kontrollierten fast alle Industrieunternehmen, Banken und Handelshäuser des Landes. Diese Klage über die vorgebliche Bereicherung und Privilegierung einer winzigen Schicht hatte mit zum Autoritätsverfall Ayub Khans beigetragen. Aber erst Bhutto verfügt über die notwendige Massenunterstützung und Interessenkonstellation, um diese führenden Familien zu entmachten. Nach Verabschiedung der neuen Verfassung verstaatlicht er die führenden Industrieunternehmen und Banken. Die sozialistische und populistische Maßnahme verschafft Bhutto bei den Sindhis und Armen Popularität, macht die führenden Unternehmerfamilien gefügig und sichert der PPP und dem Beamtenapparat neue Einflussfelder. Unter der Herrschaft einer zumindest anfänglich Sindhi-nationalistischen Partei verliert die Mohajirelite ein weiteres Mal an politischem und wirtschaftlichem Einfluss. Sie sieht ihre Karriereaussichten begrenzt, sie muss sich selbst auf regionaler Ebene Provinzpolitikern unterordnen und mit der PPP politisch arrangieren. (Zaidi 1992: S. 334-361)
Sie sieht sich auf ihr letztes Refugium, die Städte des Sindh, vor allem auf Karachi, zurückgeworfen. Aber selbst hier sieht die Mohajirelite ihre Vorrang- und Herrschaftsstellung bedroht, durch "insider", die als Flüchtlinge innerhalb Pakistans zugewandert sind und sich in wachsendem Maße politisch organisieren. Dabei handelt es sich in erster Linie um die Paschtunen, deren Gewicht und Einfluss nach dem Einsetzen des Afghanistankonflikts enorm zunimmt. Um diese Konfrontation zwischen Mohajir- und Paschtunenflüchtlingen zu begreifen, ist es allerdings notwendig, zunächst das Bewegungsprinzip dieser von Anbeginn rasant wachsenden Metropole zu analysieren.
Fortsetzung: Die Mohajir in Karachi, Pakistan – Flucht und Politik (II)
Dieser Beitrag gehört zum Schwerpunkt: Südasien-Experten Spezial: Jakob Rösel .
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