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Die fünf bedeutendsten Konfliktlinien seien hier genannt: Erstens bekämpfen sich in Karachi militante Vertreter verschiedener Volksgruppen zur Verteidigung oder Durchsetzung ihrer Rechte: Sindhis kämpfen gegen Muhajirs, Muhajirs gegen Pathanen sowie Sindhis und Muhajirs gegen Punjabis. Sie alle geraten zweitens regelmäßig in Konflikt mit staatlichen Sicherheitsorganen, seien es nun Polizeikräfte, Paramilitärs oder regelrechte Armeestreitkräfte. Dasselbe gilt drittens bei aller Korrumpierung des Staatsapparates auch für die in Karachi und ganz Pakistan operierende Drogen- und Waffenmafia, die von den Pathanen dominiert wird. Im Mittelpunkt des Gewaltgeschehens der letzten Jahre stehen allerdings viertens der erbarmungslose Bruderkrieg zweier verfeindeter Fraktionen der Partei Muhajir Qaumi Movement (MQM) sowie fünftens gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen den Parteigängern radikaler sunnitischer und schiitischer Gruppierungen.
Doch Karachi ist nicht nur die Stadt des fast unüberschaubaren Bürgerkriegs aller gegen alle, es ist auch Pakistans größte Stadt und sein ökonomisches Gravitationszentrum. Fast alle wichtigen Industrie- und Dienstleistungsunternehmen des Landes haben hier ihre Konzernzentralen und Produktionsstätten. Über Karachis Hafen, den einzigen des Landes, wird ein sehr großer Teil von Pakistans legalem wie illegalem Außenhandel abgewickelt. Karachis Flughafen ist Pakistans Tor zur arabischen Welt, durch das Tausende von Arbeitskräften den Weg zu äußerst einträglichen Anstellungen in die Golfstaaten finden. Und auch die binnenökonomische Bedeutung Karachis ist gewaltig: In der im äußersten Süden des Landes gelegenen Metropole wird knapp ein Viertel des Bruttoinlandsproduktes des Landes erwirtschaftet (Zaidi 1997, S. 28).
Die Gewalteskalation der letzten anderthalb Jahrzehnte hat viele Wirtschaftszweige stark getroffen. Eine spezielle Branche prosperiert unter den bürgerkriegsähnlichen Zuständen allerdings ganz außerordentlich: Nach Schätzungen werden in Karachi täglich bis zu 8 Millionen pakistanische Rupien (etwa 150.000 US-Dollar) durch Schutzgelderpressung und andere Formen organisierter Kriminalität erwirtschaftet (HRCP 1995, S. 18). Ziel der Schutzgelderpressung sind nicht nur Unternehmen und Fabriken (einschließlich deren Angestellte), sondern auch Krankenhäuser, Hochzeitsparties und frisch in den Ruhestand versetzte Angestellte der regulären Ökonomie. Alle 24 Stunden werden etwa zehn Fahrzeuge "at gunpoint" entwendet. Ein erheblicher Teil der Drogenhandels des "Goldenen Halbmonds" wird über Karachi abgewickelt und hat sich mit der schon sprichwörtlichen "Kalaschnikow-Kultur", die die Stadt durchzieht, zu einem Teufelskreis einträglicher Gewalt geschlossen. Doch das sind nur Beispiele – auch eine noch so umfassende und detaillierte Auflistung der vielfältigen Konfliktlinien des "Beiruts Asiens" bliebe notwendig unvollständig.
Karachi ist nicht nur die Stadt des allgegenwärtigen Bürgerkriegs und des legalen wie illegalen Big Business. Wenn auch nicht mehr die Hauptstadt des Landes, so ist Karachi doch nicht nur in den Augen des Staatsgründers Mohammed Ali Jinnah der "Geburtsort Pakistans", im übertragenen wie im tatsächlichen Sinne: Jeder zehnte Pakistaner wohnt hier, und in keiner pakistanischen Stadt wohnen mehr Muhajirs, Belutschis, Sindhis, Pathanen und Kaschmiris (Malik 1998). Damit ist Karachi für alle pakistanischen Volksgruppen außer den Punjabis eine Art heimliche Hauptstadt. "Offizielle" Hauptstadt ist Karachi nur für jene Gruppe indischer Muslime, die im Zuge der Teilung des Subkontinentes nach Pakistan übersiedelten: die Muhajirs. Und in gewisser Weise auch für die Sindhis, in deren Provinz Sindh die Hafenstadt zu finden ist.
Die Eigentümlichkeit Karachis besteht also darin, daß die Stadt ökonomisches Gravitationszentrum, Bürgerkriegsstadt, Ort des organisierten Verbrechens und "Muhajir City" zugleich ist. Und im historischen Längsschnitt zeigt das Beispiel Karachi, wie die schleichende Erosion staatlicher Handlungsfähigkeit und die Entstehung bürgerkriegsähnlicher Gewalt einander bedingen und zur Auflösung einer Gewaltordnung führen können.
Die Geschichte Karachis ist aufs engste mit der des pakistanischen Staates verknüpft. So ziemlich alle Widersprüche und Konflikte Pakistans finden sich hier auf engstem Raum verdichtet und potenziert. Die eigentümliche Bedeutung der Hafenstadt hat spezifische historische und politische Gründe, deren Kenntnis das Verständnis der heutigen Situation erleichtert.
Am 15. August 1947 wurde die Einwohner des indischen Subkontinents nach fast zweihundertjähriger britischer Kolonialherrschaft in die Unabhängigkeit entlassen. Die Wandlung Indiens vom Schuldner der Kolonialmacht zu ihrem Gläubiger, die moralische und materielle Stärkung der indischen Unabhängigkeitsbewegung durch den Zweiten Weltkrieg und nicht zuletzt der Druck der USA, der neuen Hegemonialmacht des heraufziehenden nachkolonialen Zeitalters, waren die entscheidenden Faktoren für den unerwartet rasch, ja überstürzt vollzogenen Abgang der britischen Kolonialherren.
Ein weiterer Faktor war die Zuspitzung des Konfliktes zwischen den beiden verfeindeten Flügeln der indischen Unabhängigkeitsbewegung, dem mehrheitlich hinduistischen, sich aber als säkular verstehenden Indian National Congress (INC) einerseits und der All-India Muslim League (AIML) andererseits. Die AIML verstand sich als Interessenvertretung der Muslime des Subkontinentes und forderte seit 1940 die nationale Selbstbestimmung. Die Begründung für diese Forderung lieferte die "Zwei-Nationen-Theorie", mit der das Prinzip der Selbstbestimmung der Völker auf die Religionsgemeinschaften übertragen wurde: Indische Muslime (gut ein Viertel der Bevölkerung) und die Mehrheitsbevölkerung der Hindus seien zwei Nationen, so hieß es, die unmöglich friedlich in einem Staat leben könnten, ohne daß die eine die andere unterdrücke.
Vor dem Hintergrund der sich zuspitzenden gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den Religionsgemeinschaften wurde das Britische Raj auf ethnographischer Grundlage in zwei Staaten geteilt: Mehrheitlich muslimische Provinzen bzw. Distrikte wurden Pakistan zugeschlagen, das übrige Territorium wurde Bestandteil der Indischen Union. Die Regenten der von der Kolonialmacht nur indirekt beherrschten Fürstenstaaten mußten sich für einen der beiden Nachfolgestaaten entscheiden.
Die Verfechter der Zwei-Nationen-Theorie, die zum Großteil als Minderheit in den mehrheitlich hinduistischen Provinzen lebten, setzten sich also weitgehend durch, allerdings um einen hohen Preis: Über 15 Millionen Menschen verließen im Zuge der Teilung freiwillig oder unfreiwillig ihre Heimat und wechselten über die Grenze, knapp eine Million von ihnen wurde Opfer geplanter oder spontaner Massaker. Mehr noch: Die Folgen des wohl größten Bevölkerungsaustausches der Menschheitsgeschichte sollten sich als eine widersprüchliche Grundkonstellation in der nachkolonialen pakistanischen Formation und ihrer Metropole Karachi einnisten. (2)
Über zwei Drittel der muslimischen Flüchtlinge kamen aus dem östlichen, nunmehr indischen Teil des Punjab nach Pakistan und ließen sich in der gleichnamigen pakistanischen Provinz nieder (Ahmed 1998, S. 91). Gemeinsame punjabische Sprache und Kultur sowie die Tatsache, daß fast ebenso viele Hindus und Sikhs den westlichen Punjab in Richtung Indien verließen, erleichterten die Eingliederung dieser Bevölkerungsgruppe.
Die meisten übrigen Flüchtlinge ließen sich aber in der relativ dünn besiedelten, ländlich geprägten Provinz Sindh und ihrer Hauptstadt Karachi nieder. Viele von ihnen entstammten der muslimischen Ober- und Mittelschicht Zentralindiens und hatten vor der Unabhängigkeit zu den intellektuellen Vorkämpfern der Zwei-Nationen-Theorie und der Pakistan-Bewegung gezählt (vgl. Ahmed 1998, S. 94ff.). Diese Gruppe der Flüchtlinge nannte sich fortan und bis zum heutigen Tage "Muhajirs", was in ihrer Muttersprache Urdu, die zur Nationalsprache Pakistans wurde, soviel wie "Flüchtling" bedeutet. (3)
Schon kurz nach Vollzug der Teilung bildeten die Muhajirs die Bevölkerungsmehrheit in Karachi und übernahmen dort rasch die Schlüsselpositionen in Verwaltung, Handel und Industrie (vgl. Husain et al. 1965, 67ff. u. 116). Begünstigt wurden sie dabei durch die Politik der zu diesem Zeitpunkt in Karachi residierenden Zentralregierung, die den Flüchtlingen den Erwerb des fast gänzlich im Besitz der öffentlichen Hand befindlichen Grundeigentums zu Sonderkonditionen ermöglichte (Haydar 1974, S. 111). Mit der so gewonnenen ökonomischen und politischen Dominanz gegenüber der indigenen Sindhi-Bevölkerung traten die Muhajirs gewissermaßen die Nachfolge der nach Indien emigrierten Hindu-Mittelschicht an.
Damit war eine zentrale Konfliktlinie geschaffen, denn die Migrationsbewegung prägte sich im Süden des Landes als sozialer Gegensatz aus. Der ländliche Sindh war vor der Gründung Pakistans geographisch, politisch und ökonomisch an der Peripherie des Subkontinentes angesiedelt gewesen und politisch wie ökonomisch durch die Sindhi-Landlords und ihre Reproduktionsweise geprägt. Durch den starken Zufluß von Menschen und Kapital gerieten die innersindhischen Machtverhältnisse in Widerspruch zu einer durch staatliches Eingreifen und ökonomischen Wandel transformierten politischen Ökonomie (vgl. Malik 1996, S. 76ff.). Dieser Widerspruch zwischen tradierter und modernisierter Ökonomie übersetzte sich durch die "Übernahme" Karachis durch die Muhajirs in einen krassen Stadt-Land-Gegensatz, der als Muhajir-Sindhi-Gegensatz ethnisch codiert war.
In diesen Zusammenhang lohnt auch ein kurzer Blick auf die gesamtpakistanische Machtkonstellation, die eng mit der ökonomischen und politischen Lage Karachis verknüpft ist. Im Gegensatz zu den Muhajirs sahen sich die alteingesessene Sindhi-Eliten auf gesamtpakistanischer Ebene von Beginn an exkludiert. Die AIML, nun Pakistan Muslim League (PML) genannt, war vor allem dort stark, wo die Muslime Britisch-Indiens in der Minderheit waren. In den muslimischen Mehrheitsprovinzen dagegen, auf deren Territorium sich der pakistanische Staat konstituierte, war die Pakistan-Bewegung nur schwach in der ländlich-lokal geprägten politischen Kultur verankert. Diese Grundkonstellation begünstigte im Zusammenspiel mit anderen Faktoren den Aufstieg zunächst der zivilen und dann der militärischen Bürokratie zur dominanten Fraktion eines hegemonialen Blockes, an dem die punjabischen Landlords als Juniorpartner mit Vetomacht beteiligt waren (vgl. Alavi 1990). Da die urdusprachigen Muhajirs in der zivilen Bürokratie wie auch in den staatlich gelenkten Medien stark vertreten waren und zudem Karachi zunächst zur pakistanischen Hauptstadt erkoren wurde, gehörten sie – und mit ihnen Karachi – diesem hegemonialen Block zunächst auch an, die Sindhis dagegen nicht. Nicht nur wurden diese in ihrer alten Provinzhauptstadt demographisch, politisch und ökonomisch an den Rand gedrängt, Karachi wurde obendrein als "Hauptstadtterritorium" administrativ aus dem Sindh herausgelöst (Ahmed 1998, S. 103). Mit der Proklamierung der Verwaltungsreform der "One Unit" im Jahre 1955 wurde Sindh dann sogar mit den anderen westpakistanischen Provinzen Punjab, Belutschistan und North West Frontier Province zu einer administrativen Einheit zusammengelegt und gewissermaßen von der Landkarte getilgt.
Schon in den frühen 1950er Jahren wurden im Innenleben der Millionenmetropole Karachi die ersten Auswirkungen des durch Migration eigentümlich akzentuierten sozialen Wandels spürbar. Zu Krisen- und Konflikterscheinungen kam es allerdings erst unter der Herrschaft von Feldmarschall Ayub Khan, der sich 1958 an die Staatsspitze geputscht und die erst zwei Jahre zuvor in Kraft getretene Verfassung aufgehoben hatte. Ayub Khan errichtete mit massiver Unterstützung der Vereinigten Staaten eine Modernisierungsdiktatur. Ihr Kennzeichen war eine staatlich gelenkte Entwicklungspolitik, die fast ausschließlich einer schmalen ökonomischen Elite zugute kam (vgl. Amjad 1983). Doch trotz staatlich gelenkter Entwicklung zeigten sich aber schon in dieser Periode erste Anzeichen eines eher unfreiwilligen Rückzugs des Staates aus zentralen Politikbereichen.
In Karachi hatte sich die Bevölkerungszahl nach der Unabhängigkeit binnen Monaten mehr als verdoppelt und die Millionengrenze überschritten (vgl. zum folgenden: United Nations 1989; Zaidi 1997). Gleichzeitig expandierte die industrielle Basis der bis dahin nur gering industrialisierten Stadt unter dem Banner der Importsubstituierung und zog Arbeitskräfte aus dem ganzen Land an.
Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung sollte sich eine weitere Konfliktlinie an den bestehenden Gegensatz anlagern: Etwa die Hälfte dieser Binnenmigranten kam aus der über tausend Kilometer entfernten North West Frontier Province, die zum größten Teil von ethnischen Pathanen (auch Paschtunen genannt) bewohnt wurde. Dort, im verhältnismäßig dicht besiedelten Grenzland zu Afghanistan, begannen moderne Produktions- und Reproduktionsformen sich langsam in die noch weitgehend tribal-segmentierten Gesellschaftsstrukturen einzunisten. Die reguläre Ökonomie bot jedoch keine genügende Basis für die Integration der freigesetzten Arbeitskräfte. Viele pathanische Männer kamen so zunächst als temporäre Arbeitsmigranten nach Karachi, richteten sich aber dann häufig dauerhaft ein (United Nations 1989, S. 5; Husain et al. 1965, S. 44). So wurden die Pathanen nach den Muhajirs und den Binnenmigranten aus der größten westpakistanischen Provinz Punjab zur drittgrößten Bevölkerungsgruppe in der Stadt (vgl. Husain et al. 1964, S. 45).
Den Auffassungen der Zeit entsprechend versuchte der pakistanische Staat, die Folgen der Migration durch großangelegte Entwicklungspläne und Wohnungsbauprogramme zu meistern. Nach dem "Doxiadis-Plan" (1958-64) sollten die Bewohner der irregulären Behausungen im Zentrum Karachis – nicht zuletzt aus polizeistrategischen Erwägungen – in zwei neue Townships am Rande der Stadt ausquartiert werden. Diese Neusiedlungen sollten jeweils ihren eigenen Reproduktionskreislauf haben, um ein übermäßiges Verkehrsaufkommen oder eine neue Slumbildung im Innenstadtbereich zu verhindern. Die Townships Korangi und New Karachi wurden zwar gebaut, doch es gelang weder, den Bewohnern die nötige Infrastruktur bereitzustellen, noch fanden diese genügend wohnortnahe Arbeitsplätze in der regulären Ökonomie. Auch andere nach der Unabhängigkeit neu errichtete Townships konnten die Not nicht mildern und die Errichtung neuer illegaler Wohnviertel nicht verhindern (United Nations 1989, S. 20).
De facto lieferte der letztlich kläglich gescheiterte "Doxiadis-Plan" nur den Startschuß für den Entwicklung eines großen informellen Sektors, der inzwischen drei Viertel der Werktätigen Karachis mit Arbeitsplätzen versorgt (Zaidi 1997, S. 37). Dieser informelle Sektor übernahm in den zum größten Teil illegal neu errichteten Siedlungen das gesamte Quartiersmanagement, mit einer "Rundumversorgung" von der Grundstücksbeschaffung über die Kreditvergabe bis zur Arbeitsplatzbeschaffung.
Das Muster dieser Informalisierung sieht in etwa wie folgt aus (4): Mittelsmänner, sog. dalalls, besetzen illegal und unter Bestechung der zuständigen Beamten Grund und Boden, verkaufen diesen entweder direkt an die Wohnungssuchenden oder an ebenfalls illegal operierende Bauunternehmer, die ganze Wohnviertel errichten, sog. katchi abadis (vgl. Hasan 1992; 1995). Nun treten andere Unternehmer auf den Plan und organisieren entweder durch Intervention bei den zuständigen staatlichen Unternehmen oder durch eigenes Betreiben die Bereitstellung der Infrastruktur: Wasser, Abwasser, Elektrizität etc. Wieder andere Unternehmer sorgen sich um den Anschluß des neu errichteten Wohnviertels an das städtische Verkehrsnetz, wiederum unter Bestechung der zuständigen Behörde. Auch die nötige Verkehrssicherheit und andere polizeiliche Dienstleistungen wurden wenigstens zum Teil auf die gleiche Weise bereitgestellt.
Nach diesem Muster wurde schon in den 1960er Jahren ein großer Teil der städtischen Entwicklungspolitik Karachis informalisiert und privatisiert, mit dem Resultat, daß noch heute etwa ein Drittel von Karachis Wohnbevölkerung "illegal" lebt (Duncan 1989, S. 170). Dabei traten die Unternehmer nicht "am Markt" auf, sondern setzten den Migranten die Pistole auf die Brust: Der Kauf der "Rundumversorgung" wurde häufig zur Bedingung der Bereitstellung von Bauland oder Behausungen gemacht. Da zumindest die Binnenmigranten aus der North West Frontier meistens mittellos waren, waren sie zur Annahme von Krediten genötigt, die sie im Rahmen eines lohnarbeitsähnlichen Abhängigkeitsverhältnisses häufig über eine ganze Dekade abarbeiten mußten (5).
Diese Abhängigkeitsverhältnisse wiederum bauten häufig auf clanhaften oder tribalen Loyalitäten auf, so daß z. B. die Pathanen aus der Frontier in ihren Wohn- und Arbeitsvierteln ihre tribal strukturierte Ökonomie in modifizierter, modernerer Form reproduzierten. Über die Agenten ihres Quartiers waren sie fast alle in denselben Branchen tätig, so die Pathanen im Transportsektor, die Punjabis im Polizeidienst und die Muhajirs im modernen Dienstleistungssektor (vgl. Duncan 1989, S. 174f.). Auf diese Weise wurde ein erheblicher Teil von Karachis "Arbeitsmarkt" unter Clans und ethnischen Gruppen aufgeteilt. Nur die Muhajirs konnten in ihrer sozialen Organisation nicht auf entsprechende tribale oder familiale Strukturen zurückgreifen. Bei ihnen spielten moderne oder zumindest clanübergreifende Organisationsformen von Beginn an eine größere Rolle (vgl. Hasan 1992, S. 253). Doch dank ihrer überdurchschnittlich hohen Qualifikation gab es auch bei ihnen ein relativ einheitliches Berufsbild, zumindest in der Eigen- und Fremdwahrnehmung.
Als Folge des Staatsversagens bildete sich in Karachi also ein Flickenteppich lokal zentrierter, in ihrer Alltagswahrnehmung weiterhin ethnisch codierter Gemeinschaften heraus, die zumindest zum Teil den Charakter von Gangs oder Protection Rackets hatten (6). "Am Staat vorbei" oder durch Einbeziehung einzelner Beamter kontrollierten sie die Land- und Wohnungsvergabe sowie die Bereitstellung von Elektrizität, Wasser und Transportmitteln. Das Racket schützte zu allererst vor dem Abriß der illegalen Siedlungen durch den Staat, versuchte aber auch, über seinen privilegierten Zugang zum (korrumpierten) Staatsapparat die Bereitstellung von Infrastruktur zu monopolisieren (vgl. v. d. Linden 1983, S. 253ff.).
Die Folge der gescheiterten Entwicklungspolitik waren also Privatisierung, Illegalisierung und ethnische Segmentierung im Sinne der Herausbildung tribal oder clanförmig strukturierter, als Claim Areas gegeneinander abgegrenzter politischer Ökonomien, die dem Zugriff der Extraktionsorgane des Staates weitgehend entzogen waren. Die Gewaltordnung Karachis war schon zu diesem Zeitpunkt zumindest potentiell segmentiert, wenn der Stadt auch der Lackmustest einer gewalttätigen Konflikteskalation vorerst erspart blieb.
Neben der Informalisierung der Stadtentwicklung ist ein weiteres Erbe der Ayub-Ära zu beachten, das den Eindruck eines friedlichen Nebeneinanders der verschiedenen Protection Rackets zu zerstreuen vermag. Als Reaktion auf die Unterdrückung jeder demokratischen Regung durch Ayub Khans Regime radikalisierte sich die Universitätsszene, vor allem in Karachi. Seit den frühen 1950er Jahren wurde auf dem Campus eine gewaltsame Konfliktkultur eingeübt, in die fast alle in Karachi lebenden Volksgruppen – Sindhis, Punjabis, Belutschis und Pathanen – mit studentischen Kampforganisationen einbezogen waren. Auch einige Muhajirs mischten mit: Sie waren – wie auch außerhalb des Campus – größtenteils Parteigänger der militanten islamistischen Partei Jamiat-i-Islami, die am modernsten und straffsten organisiert war und für eine stärkere Islamisierung von Staat und Gesellschaft focht (Ahmed 1998, S. 109).
Die Kämpfe der Studenten untereinander und gegen den Staat griffen ab Mitte der 1960er Jahre auf weitere Bereiche der Gesellschaft über. Ein Auslöser waren die von Ayub Khan angeordneten lokalen Nicht-Parteien-Wahlen: Da parteilich-weltanschauliche Positionen bei diesen Abstimmungen nicht vertreten werden durften, schrieben die Kandidaten ethnische Identitäten auf ihre Fahnen (Shaheed 1990, S. 203). Von symbolkräftiger Wirkung waren auch die Präsidentenwahlen des Jahres 1965, in denen sich Ayub Khan erstmals dem Volk stellte. In Karachi wurde Ayub, der selbst Pathane war, fast ausschließlich von Pathanen unterstützt, während sich die Muhajirs hinter der Gegenkandidatin Fatima Jinnah, der Tochter des Staatsgründers Mohammed Ali Jinnah, versammelten.
Vor dem Hintergrund dieser spezifischen Politisierung "vorgestellter Gemeinschaften" (Anderson) griffen die universitären Konflikte auf andere Bereiche der Gesellschaft über. Die bis dahin im Bereich der Berufsgruppe der professionals unangefochtenen Muhajirs sahen sich angesichts langsam knapp werdender Jobs im öffentlichen wie privaten Dienstleistungssektor durch die aufstrebende Sindhi-Mittelschicht herausgefordert. Langsam wurde in und um Karachi eine Muhajir-Sindhi-Konfliktlinie erkennbar, hervorgerufen durch die kompetetive Lage in den bildungsbürgerlichen Elitepositionen. Die späten 1960er Jahre markieren deshalb den "Zusammenbruch der symbiotischen Interdependenz zwischen Muhajirs und Sindhis" (Haydar 1974, S. 119).
Schon in den 1960er Jahren war also eine Zersplitterung und Segmentierung der politischen Ökonomie Karachis zu beobachten. Auf die Verwaltung der Gewalt hatte dies noch keinen dramatischen Einfluß – nicht zuletzt weil die Stadt im Jahre 1961 aus militärstrategischen Gründen ihren Status als pakistanische Hauptstadt verlor. Auf lange Sicht wurde die Konfliktlage damit eher verschärft: Von der neu errichteten, idyllisch an den Margalla Hills gelegenen Hauptstadt Islamabad aus erschienen den Regierenden die mannigfaltigen Konflikte Karachis als eher lokalpolitische Angelegenheit.
Ende der 1960er Jahre weitete sich die Krise des Ayub-Regimes zu einer Krise des pakistanischen Staates aus. Die politischen, sozialen und kulturellen Gegensätze zwischen Westpakistan und dem 1.800 Kilometer entfernten Ostpakistan eskalierten in einen Bürgerkrieg, in den Indien militärisch zugunsten Ostpakistans intervenierte und somit die Gründung des Staates Bangladesch ermöglichte (vgl. Sisson/Rose 1990).
Die Abspaltung des östlichen Landesteils verstärkte die westpakistanischen Widersprüche und Konflikte und wurde zu einer entscheidenden Voraussetzung der Zuspitzung der Konfliktlage in Karachi. Denn im "ethnic make-up" Pakistans stellten die Punjabis, die sich inzwischen in Militär, Verwaltung und Agrarwirtschaft (Stichwort: Grüne Revolution) die Dominanz erkämpft hatten, nicht nur den wichtigsten Machtblock, sie stellten nun auch die knappe Mehrheit der pakistanischen Gesamtbevölkerung. Mit ihrer ökonomischen, politischen und numerischen Dominanz drängten sie die Muhajir-Bourgeosie mehr und mehr in den Hintergrund (Zaidi 1992, S. 34). Gleichzeitig wurde durch die Sezession Bangladeschs ein Präzedenzfall für die Abspaltung einer Provinz geschaffen. Damit wurde auch der Mythos der Zwei-Nationen-Theorie und der des punjabisch dominierten Militärs zerstört. In das so entstandene Machtvakuum drang in der Folge die Pakistan People’s Party (PPP) des populistischen Sindhi-Politiker Zulfikar Ali Bhutto ein.
Die Machtübernahme Bhuttos, des ersten demokratisch gewählten Präsidenten und Premierminister Pakistans, bedeutete das Anfang vom Ende der überkommenen Gewaltordnung Karachis. Die PPP war zwar in vielerlei Hinsicht die erste gesamtpakistanische Volkspartei und wurde nicht nur von Sindhis unterstützt; sie distanzierte sich auch von der separatistischen Sindhudesh-Bewegung, die sich gegen eine perzipierte Unterdrückung der Sindhis durch Punjabis, Muhajirs und Pathanen wandte. Doch bei allem "nationalem appeal" hatte die PPP doch im Sindh ihre wichtigste Machtbasis. Die massive Förderung der Bildungschancen der Sindhi-Mittelklasse durch die Einführung eines verschärften Quotensystems für den öffentlichen Sektor wurde zum Kern einer Politik Bhuttos, die sich auch gegen die im Sindh und in Karachi dominanten Muhajirs richtete (Kennedy 1991, S. 944). Ebenso traf die Verstaatlichung von Großbetrieben gerade in Karachi viele Muhajirs, die sich folglich durch den Sindhi-Populisten Bhutto enteignet sahen. Als Resultat dieser Politik bildete sich eine scharfe ethnische und politische Identität der Muhajirs heraus.
In diesem Zusammenhang ist von Bedeutung, daß Bhutto der erste führende Politiker Pakistans war, der seine Macht einem demokratischen Mandat verdankte. Die Demokratisierung führte geradewegs zu einer Verschärfung des Sindhi-Muhajir-Gegensatzes, besonders in Karachi: Nach Aufhebung der One Unit wurde der Sindh wieder in seine demokratische Rechte eingesetzt. Dies hatte zur Folge, daß die Muhajirs von Karachi sich erstmals politisch dem Sindh zugeteilt sahen, was um so schwerer wog, als der Metropole die unter Ayub Khan zugestandene Autonomie wieder genommen wurde und alle Regierungsgewalt über die Stadt dem Provinzparlament des Sindh zufiel, in dem die PPP die Mehrheit hatte (Bakhtiar 1996, S. 63). Als diese sich schließlich daran machte, die Regionalsprache Sindhi zur zweiten obligatorischen Amtssprache in der Provinz zu machen (neben der Nationalsprache Urdu), entlud sich der nun schon lange schwelende Konflikt im Jahre 1972 in großen Gewaltmanifestationen, den Karachi language riots (Shaheed 1990, S. 198).
Die politische Atmosphäre in Karachi wurde weiter vergiftet durch die massive Einflußnahme von PPP-Honoratioren auf die politisch geschwächte Stadtverwaltung. Diese Politisierung der zivilen Bürokratie verbesserte nicht gerade ihre Performanz, auf die es aber mehr denn je angekommen wäre. Die Abspaltung Bangladeschs hatte nämlich eine neue Flüchtlingsbewegung nach Karachi initiiert: Nichtbengalische Muslime des ehemaligen Ostpakistan, "Biharis" genannt, ließen sich zu Hunderttausenden in der Flüchtlingsmetropole nieder. Die legale Wohnungsversorgung brach vollends zusammen, nicht viel besser sah es mit dem Transportwesen und anderen Infrastrukturleistungen aus. Die Stadt hat sich bis heute nicht von dieser Zuspitzung der Versorgungslage erholen können: Bis in die 1980er Jahre konnte der formelle Sektor nur 10% der Wohnungsnachfrage bedienen (Hasan 1992, S. 231). Der sich trotz Demokratisierung weiterhin autoritär gerierende Staat reagierte auf seine zeitweilige Abdankung in der städtischen Entwicklungspolitik zunächst mit dem Abreißen neu errichteter katchi abadis, ohne damit verhindern zu können, daß heute bis zu 25 % der Stadtbevölkerung in solchen Quartieren leben (United Nations 1989, S. 11). Erst 1975 rang sich die städtische Entwicklungspolitik dazu durch, die Lage der Slumbewohner nicht durch Abriß ihrer Siedlungen, sondern durch deren Aufwertung zu verbessern (v. d. Linden 1983, S. 249). Als Reaktion auf den Zusammenbruch des bis dahin öffentlichen Nahverkehrs reagierte die Stadt mit der Einführung privater Minibusse (United Nations 1989, S. 32), eine Maßnahme mit gravierenden Spätfolgen, wie sich später zeigen sollte.
Die Regierungszeit Bhuttos brachte also für Karachi die Politisierung eines immer machtloseren Staatsapparates, die Verfestigung informeller Praktiken und die Offenlegung und beginnende gewaltsame Eskalation der Gegensätze zwischen Sindhis und Muhajirs, aber auch zwischen Muhajirs und Pathanen. Die bestehende, zumindest nominell noch weitgehend staatliche sanktionierte Gewaltordnung der Stadt geriet allerdings noch nicht vollends aus den Fugen. Um die bestehende Machtbalance ins Wanken zu bringen, bedurfte es eines neuen Akteurs, der seit den späten 1970er Jahren erstmals in Erscheinung trat: des Muhajir Qaumi Movement (MQM).
Der Machtmißbrauch des ersten demokratisch legitimierten politischen Führers Pakistans nahm Mitte der 1970er Jahre derart große Ausmaße an, daß der erneute Putsch des Militärs, diesmal unter General Zia-ul Haq, fast eine Erleichterung war. Diese Erleichterung sollte bald einer gewaltigen Ernüchterung weichen, auch und gerade in der Stadt, die mit Bhutto eine kaum kaschierte Haßbeziehung verband: Karachi. Daß Zia den gescheiterten Sindhi-Populisten im Jahre 1979 hinrichten ließ, machte Pakistan um einen Märtyrer und einige Probleme reicher.
Zia installierte eine rigorose, in Ansätzen islamistische Militärdiktatur, vor deren Hintergrund die elf Jahre unter Ayub Khan im nachhinein als eine liberale Ära erschienen (7). Tausende politische Gegner ließ der Diktator einsperren oder ermorden, ganze Bevölkerungsgruppen wurden dauerhaft vom Staat entfremdet, an erster Stelle die Sindhis. Zia verbot alle politischen Parteien und ließ erst nach Jahren wieder einige handverlesene Politiker mit ihm und seinen Generälen die Macht teilen. Aus diesem Politikerkreis rekrutierte sich auch die neue Führungsriege der PML, die bis heute mit der von der Bhutto-Tochter Benazir geführten PPP in einem dynastisch geprägten Ausscheidungskampf liegt, den allerdings beide zu verlieren scheinen (8).
Als Faustpfand gegen die nach einigen Jahren wieder erstarkende PPP ließ Zia der MQM heimliche Unterstützung zukommen und baute sie regelrecht zu einer politischen Kraft auf. Die MQM, die "Nationale Flüchtlingsbewegung", wurde 1986 unter der Führung des ehemaligen Chicagoer Taxifahrers Altaf Hussain gegründet. (9) So rekrutierte sich die MQM fast ausschließlich aus jungen, gut ausgebildeten, urbanen Nachkommen der 1947 nach Pakistan geflüchteten unteren Mittel- bis Oberschicht Zentralindiens. Die MQM war und ist bis heute straff organisiert, vertritt zumindest in Teilen eine vergleichsweise progressive Programmatik und zählt sogar Frauen zu den aktiven Parteimitgliedern. Ihr wichtigster Programmpunkt und ihr raison d’être ist allerdings die militante Wahrnehmung der Interessen der Muhajir-Bevölkerung. So ist die MQM keineswegs frei von autoritären Zügen, wofür der Führerkult um Altaf Hussain (10) das schlagendste Beispiel ist.
Die MQM ist ein Kind Karachis. Moderne Organisationsformen, progressive Programmatik und Führerkult verschränken sich in ihr in widersprüchlicher Manier mit Elementen segmentierten, über abgegrenzte claims operierenden sozialen Organisationsformen andererseits. Die MQM eroberte inner- wie außerhalb des langsam revitalisierten demokratischen Prozesses die mehrheitlich von Muhajirs bewohnten Stadtteile im Sturm und machte sich dort als soziale Einrichtung unentbehrlich. Ihr Anspruch war es jedoch, ganz Karachi, das sie als eine Art "Muhajir-City" verstand, zu regieren – demokratisch, versteht sich.
Als Partei der Immigranten, die keine Clanchefs oder andere traditionale Führer kennen, und die damit tatsächlich ehesten dem Ideal des pakistanischen Staatsbürgers entsprechen, als eine solche Partei konnte sich die MQM nicht mit dem Status Quo der ubiquitären Korruption und ethnisch-funktional differenzierten Dienstleistungen abfinden. Folglich versuchte sie, gewissermaßen als ideeller gesamtpakistanischer Akteur, die Macht zumindest in ihrer Hochburg Karachi, dem "Geburtsort Pakistans" (Jinnah), auf möglichst demokratischem Wege an sich zu ziehen. Schon 1987 gelang es der MQM, den Bürgermeister der Stadt zu stellen. Damit gefährdete sie über kurz oder lang die bestehende ethnisch-segmentierte Machtbalance und die noch leidlich staatlich sanktionierte Gewaltordnung der schon lange kaum regierbaren Stadt.
Die MQM stellte eine Gefahr für das korrupte Establishment Karachis, des Sindh und sogar Pakistans dar. Zugleich wurde sie von der Spitze dieses Establishments als Spielball betrachtet, mit dem man verschiedenen Gegner – die PPP, aber auch die eigentlich mit der Militärregierung verbündete Jamiat-i-Islami – in Schach halten konnte. Ebenso kurzsichtig wie seine MQM-Politik war Zias Afghanistanpolitik: Sein Militärregime ließ sich nur allzu gerne von den USA als Verbündeter im Ost-West-Konflikt und als Aufmarschgebiet der afghanischen Mujahideen nutzen. Der versprochene Ressourcenzufluß blieb nicht aus, Pakistan erlebte einen wahren Boom. Doch der Preis war hoch: Als Teil der afghanischen Kriegsökonomie wurde es zu einem Produktions- und Umschlagort für Drogen und Kleinwaffen, eine Entwicklung, die von Teilen des Staatsapparates einschließlich der Geheimdienste und des Militärs befördert oder zumindest geduldet wurde (vgl. Kartha 1999).
In der Millionenmetropole breitete sich die schon sprichwörtliche "Kalaschnikow-Kultur" aus, die auch die stoffliche Voraussetzung der Konflikteskalation wurde. Außerdem mußte allein Karachi in den Kriegsjahren bis zu 100.000 afghanische Flüchtlinge aufnehmen (United Nations 1989, S. 5). Die bestehenden Widersprüche wurden durch die Einbeziehung Pakistans in den Ost-West-Konflikt noch verschärft. Die Staatsgewalt war angesichts des massiven Zuflusses von Waffen und Drogen aus dem benachbarten Bürgerkriegsland weniger denn je in der Lage, das Gewaltmonopol zu garantieren. Folglich organisierte sich die Gesellschaft in und um Karachi noch stärker entlang vertikaler, d. h. familialer, clanmäßiger oder ethnischer Linien.
Die Initialzündung zur gewalttätigen Eskalation lieferte ein Verkehrsunfall im April 1985, bei dem ein Pathane mit seinem gelben Minibus ein Muhajir-Mädchen überfuhr und tötete (vgl. Hussain 1990). Die Pathanen hatten schon in den 1960er Jahren unter der Patronage von Präsident Ayub Khan das Transportwesen monopolisiert, ihre Fahrer waren zumeist innerhalb ihres Racket hoch verschuldet und zu riskanter, rücksichtsloser Fahrweise gezwungen, was ihnen den Namen "gelbe Teufel" eintrug. Immer wieder hatte es kleinere Ausschreitungen nach Verkehrsunfällen gegeben, die durch die rücksichtslose Fahrweise der Minibusfahrer verursacht wurden (United Nations 1989, S. 31). So entlud sich der Zorn der Muhajirs zunächst gegen die pathanischen Busfahrer, weitete sich aber rasch zu einer Pogromstimmung gegen die gesamte pathanische Gemeinschaft aus.
Dabei speiste sich der Zorn der Muhajirs auch aus dem Umstand, daß die Pathanen zumeist illegal wohnten, keine Steuern zahlen und als ethnische Verwandte der afghanischen Flüchtlinge in den Drogen- und Waffenhandel verstrickt waren oder es zumindest schienen. Den erwirtschafteten Profit, so unterstellte man jedenfalls, transferierten sie dann zurück in die heimatliche Frontier Province. Daß sie selbst auch in illegalen Siedlungen lebten und kaum Steuern zahlten, erschien den ebenfalls zugewanderten Muhajirs verzeihlich, weil sie sich als "sons of the soil" betrachteten.
Die vorher – im krassen Gegensatz zu den "von Natur aus kriegerischen" Pathanen – als "Memmen" verschrienen Muhajirs begannen sich nun unter der Führung der MQM auch militärisch zu organisieren und Stadtteil für Stadtteil unter ihre Kontrolle zu bringen. Dabei kam es immer wieder zu geplanten Massakern von Pathanen an Muhajirs und von Muhajirs an Pathanen, die dadurch erleichtert wurden, daß beide Bevölkerungsgruppen in getrennten Wohnvierteln lebten, jeweils bestimmten Berufen nachgingen, verschiedene Sprachen sprechen und sich zumeist auch äußerlich deutlich voneinander unterscheiden (vgl. Duncan 1989, S. 173ff.; Malik 1997, S. 235ff.). Der MQM, der pathanisch dominierten Drogenmafia und anderen Gruppen, die ein Interesse an der Eskalation der Gewalt hatten, war es auf der Grundlage einer über Jahrzehnte angelegten und gefestigten ethnisch-funktionalen Segmentierung der Stadt leicht, zu neuen Gewalttaten zu mobilisieren. Es bildeten sich regelrechte no-go-areas heraus. Die Gewaltordnung wurde privatisiert (vgl. Hussain 1990). Dabei verliefen die Fronten zunächst noch zwischen den "sons of the soil", zu denen sich paradoxerweise auch die MQM rechnete, und den "Ausländern" aus den anderen Provinzen, also den Pathanen, Punjabis und Belutschis. Die Jahre 1985 bis 1988 können also als diejenige Phase gelten, in der die MQM ihre politisch-militärische Macht so weit festigte, daß gegen ihren Willen in Karachi kein Staat mehr zu machen war.
Legt man die Kriterien der Kriegsursachenforschung zugrunde, so hat die Gewalt in und um Karachi im Jahr 1986 die Kriegsschwelle überschritten, um die es seither oszilliert. Nach der zwischenzeitlichen Wiedereinführung der Demokratie in Pakistan (1988) und der Konsolidierung der MQM wurde die Lage scheinbar übersichtlicher: Die Auseinandersetzungen zwischen Muhajirs und Sindhis sowie – auf gesamtpakistanischer Ebene – zwischen MQM und pakistanischen Staat traten als wichtigste Konfliktlinien hervor. Die Auseinandersetzungen zwischen MQM und Pathanen dagegen hörten in diesen Jahren auf, ohne daß die genauen Hintergründe hierfür bisher geklärt werden konnten. Offensichtlich sind beide Gemeinschaften aus der Konfrontation in ein symbiotisches Stadium eingetreten.
Nachdem sich die Position der MQM in Karachi gefestigt hatte und die PPP im Jahre 1988 als stärkste Partei aus den ersten demokratischen Wahlen zur Nationalversammlung seit 15 Jahren hervorgegangen war, versuchten sich beide Vertreter der sons of the soil durch das Dezemberabkommen auf eine Phase der Kohabitation in Karachi, im Sindh und in Pakistan einzurichten, die sich am Ende aber eher als ein Stillhalteabkommen erwies (vgl. Malik 1997, S. 238ff.). Die auf nationaler Ebene regierende PPP unter Benazir Bhutto überließ der MQM Karachi, hatte dafür aber im ländlichen Sindh freie Hand.
Dieser "Waffenstillstand" zwischen PPP und MQM brach schon nach einem knappen Jahr zusammen. Die MQM wurde immer mehr zur Bedrohung der PPP und gefährdete langfristig auch den Status des Militärs, des übrigen Establishments und des pakistanischen Staates. MQM-Führer Altaf Hussain drohte sogar mit einem "neuen 1971", also der Sezession Karachis oder des Sindh nach dem Muster Bangladeschs. (11) Zu diesem Zeitpunkt wurde deutlich, daß die von staatlichen Agenturen gedeckte, wenn nicht vorangetriebene Politik der Aufrüstung der MQM und der Tolerierung der Kalaschnikow-Kultur und der Drogenökonomie zur völligen Auflösung der seit Jahrzehnten segmentierten, aber noch immer staatlich sanktionierten Gewaltordnung geführt hatte.
So rief die schwache Bhutto-Regierung die Armee zur Hilfe, um der Gewalt in Karachi mit Militärgerichten beizukommen. Der Versuch scheiterte bezeichnenderweise daran, daß Bhuttos PPP mit allen Mitteln zu verhindern versuchte, selbst zum Gegenstand der militärgerichtlichen Untersuchungen zu werden (Malik 1997, S. 243). Schon zu diesem Zeitpunkt wurde also die vorübergehende Bereinigung des Wirrwarrs durch eine neue Unübersichtlichkeit zunichte gemacht. Die personell unterbesetzte, demoralisierte und korrupte Polizei war und ist außerstande, die auf dem Gewaltmonopol des Staates basierende Ordnung aufrecht zu erhalten oder die Stadt "zurückzuerobern". Die öffentliche Ordnung brach zeitweise völlig zusammen, der Justizapparat ist bis heute hilflos.
Eine fast schon klassische bürgerkriegsförmige Eskalation war dann noch in den Jahren 1992 bis 1994 zu verzeichnen, als die Zentralregierung das Militär in Karachi einmarschieren ließ, um dem Treiben der MQM ein Ende zu setzen. Diese "operation clean-up" sorgte für die oberflächliche Beruhigung der Konfliktlage, ohne die MQM militärisch zu besiegen. Viele MQM-Aktivisten gingen in den Untergrund. Zeitgleich förderten Armee und Geheimdienste die Abspaltung einer Gruppe von MQM-Dissidenten um Aamir Khan und Afaq Ahmed, die sich zur Zusammenarbeit mit der Zentralregierung bereit erklärte (vgl. Malik 1997, S. 247ff.). Diese "wahre MQM" (MQM-Haqiqi) liefert sich seither mit der ursprünglichen MQM (Altaf) einen blutigen Kampf um die Kontrolle der Muhajir-Wohngebiete (vgl. Bakhtiar 1996, 1997, 1998). Die MQM (H) verfügt zwar über keine der MQM (A) vergleichbare Massenbasis, doch hat sie sich mit Waffengewalt und mit mutmaßlicher Unterstützung eines Teils der staatlichen Sicherheitskräfte in Muhajir-Hochburgen wie Landhi und Korangi festgesetzt und diese in no-go-areas für MQM-(A)-Aktivisten verwandelt. Damit ist es dem pakistanischen Establishment gelungen, die Herrschaft der MQM (A) über die Stadt zu brechen und der Muhajir-Bewegung, die es selbst stark gemacht hatte, die Spitze zu nehmen.
Doch damit ist der Geist nicht gleichsam in die Flasche zurückgekehrt, im Gegenteil: Nach dem Abzug der Armee im Dezember 1994 kam es zu den bisher heftigsten Kämpfen in Karachi, denen in zwölf Monaten über 2.000 Menschen zum Opfer fielen. Die meisten starben bei Zusammenstößen der beiden verfeindeten MQM-Fraktionen. Die Kämpfe nahmen den Charakter einer gnadenlosen gegenseitigen Ausmerzung an. Ein erneuter Versuch, die MQM (A) durch die Beteiligung an einer Koalitionsregierung, diesmal unter Führung von Premier Nawaz Sharif und seiner PML in den nationalen Mainstream zu integrieren, scheiterte kläglich.
1997 begann eine neue Serie von Gewalttaten, die mit dem erneuten Einzug der regulären Streitkräfte und der Errichtung von Anti-Terror-Gerichtshöfen im Jahr 1999 vorübergehend eingedämmt werden konnte. Doch ein politischer Ausweg ist zur Zeit nicht in Sicht. Auch eine Allparteienkoalition könnte den Zirkel der Gewalt nicht brechen. In gewisser Weise gibt es diese Koalition schon: So haben sich inzwischen fast alle politischen Parteien Karachis, aus welchen Gründen auch immer sie angetreten sein mögen, zu miteinander konkurrierenden Protection Rackets entwickelt. Ob MQM (A), MQM (H) oder PPP - sie alle erpressen Schutzgeld unter Beteiligung der lokalen Polizei, wenn gar nicht der paramilitärischen Ranger oder der regulären Streitkräfte in Karachi. Inwieweit die Erpresser mit Wissen der Parteiführung agieren oder nicht, ist häufig nicht klar. Ein MQM-(A)-Führer spricht diesem Zusammenhang von allein 30.000 nichtkontrollierbaren Aktivisten seiner Partei, die im Untergrund seien (12). Die Politik der Parteien in Karachi ist dadurch gekennzeichnet, daß sie nur in jenen Gebieten für Infrastruktur oder Schutz sorgen, die zu ihren "Hochburgen" zählen (vgl. HRCP 1995).
Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, daß der Putsch der Militärs unter General Pervez Musharrafs am 12. Oktober 1999 auch in Karachi zunächst eher Erleichterung als Furcht hervorgerufen hat (13). Zuvor hatte die Regierung Sharif nicht nur in Karachi wiederholt auf die Streitkräfte zurückgreifen müssen, um das Zusammenbrechen der staatlichen Ordnung zu verhindern. Nun nahmen die Militärs das Ruder ganz in die Hand. (14)
So haben die Ereignisse des Jahres 1999 den Ruf Karachis als Mikrokosmos Pakistans bestätigt. Hier wurden die Grenzen der demokratischen Konsolidierung des pakistanischen Staates früher und deutlicher als anderswo offengelegt: Der bereits in den sechziger Jahren einsetzende Rückzug des Staates aus zentralen Politikfeldern war die frühe, aber notwendige Voraussetzung für die andauernde Eskalation der Konflikte in Karachi. In der Folge des Rückzugs des Staates informalisierten sich die Alltagspraktiken, was zu einer ethnischen und funktionalen Segmentierung führte – diese bildete den Nährboden für die Zuspitzung der Gewalt seit Mitte der 1980er Jahre. Ihre Aufhebung ist die zentrale Bedingung der Wiedererrichtung einer staatlichen Ordnung. Unklar ist allerdings, wie gerade heute die materiellen Voraussetzungen hierfür geschaffen werden sollen.
(1) Zur Situation in Karachi vgl. Ahmed 1998, AKUF (1999, S. 178ff.) sowie Wilke (1997, S. 78f.). Zur Entwicklung Pakistans allgemein vgl. Duncan (1989) und Weidemann (1997). In die vorliegende Darstellung sind Informationen eingeflossen, die der Autor im Frühjahr 1999 während eines Forschungsaufenthaltes in Pakistan gesammelt hat.
(2) Auch auf internationaler Ebene hatte der Umsetzung der Zwei-Nationen-Theorie weitreichende Folgen: Als Pakistans Staatsraison determiniert sie bis heute die machtpolitische Rivalität zwischen den zwei Bruderstaaten, die sich seit der Unabhängigkeit in einem latenten bis virulenten Kriegszustand befinden (vgl. Weidemann 1996).
(3) Der Ausdruck "Muhajir" hat eine religiöse Konnotation: Er bezeichnet ursprünglich die Teilnehmer der Hijra des Propheten Mohammed von Mekka nach Medina und wurde später allen Muslimen zugedacht, die aus religiösen Gründen zur Migration gezwungen waren (Haydar 1974, S. 108).
(4) Vgl. zur Informalisierung der Wohnungspolitik die Darstellungen bei van der Harst (1983), Hasan (1992), v. d. Linden (1983) und Zaidi (1997).
(5) Vgl. Hasan (1995, S. 61) sowie van der Harst (1983, S. 63), dessen exemplarische Fallstudie eines katchi abadi etwa die Hälfte aller Behausungen als (informell) kreditfianziert ausweist, wobei ein Drittel der Kredtite durch den "Arbeitgeber" gestellt wurden.
(6) "Protection Rackets" können hier verstanden werden als gewaltgeladene Klientelbeziehungen, über die Güter aller Art ausgetauscht werden, wobei das Gut "Sicherheit" - in seinem umfassenden Sinn - das reziproke Tauschverhältnis begründet. Vgl. zum Racket-Begriff Pohrt (1997), der dabei auf Horkheimer (1985, S. 287ff.) verweist, sowie zum Racketeering in Karachi die Passagen bei Alavi (1991, S. 184).
(7) Vgl. zur Ära Zia-ul Haq: Hyman/Ghayur/Kaushik (1988), Burki/Baxter (1991).
(8) Eine solche Interpretation drängt sich nach dem Militärputsch General Pervaiz Musharrafs vom 12. Oktober 1999 geradezu auf. Es ist zur Zeit allerdings nicht absehbar, welche politischen Gruppierungen an die Stelle von PML und PPP treten könnten. Einen guten Überblick zur innenpolitischen Lage Pakistans (vor dem Oktoberputsch) bietet Buchta (1998).
(9) Die MQM ging aus der 1978 gegründeten All-Pakistan Muhajir Students Organisation hervor, die sich infolge der Entfremdung weiter Teile der Muhajirs von der ehedem favorisierten islamistischen, nunmehr zunehmend pro-punjabischen Jamiat-i-Islami gebildet hatte. Vgl. dazu Ahmed (1998, S. 121ff.) und Malik (1997, S. 223ff.) sowie zum Verhältnis der Muhajirs und der MQM zu Karachi: Verkaaik (1994).
(10) Vgl. dazu die Website der MQM (http://www.mqm.org)
(11) Vgl. das Interview mit dem MQM-Führer in India Today v. 15.07.95, S. 44-47 ("Don't push the Mohajirs to the Wall. Or else 1971 will be repeated.").
(12) Vgl. das Interview mit dem MQM-Führer Dr. Farooq Sattar in der Zeitschrift Südasien 3-4/99 S. 77ff.
(13) Zu den Hintergründen des Putsches und den Reaktionen in Pakistan und anderswo, vgl. Wilke (2000).
(14) Hierfür zwei Beispiele: Zu Beginn des Jahres 1999 wurden über 30.000 Soldaten eingesetzt, um die überschuldete Wasser- und Elektrizitätsbehörde zu sanieren. Die Militärs trieben Stromrechnungen ein, kappten illegale Stromverzweigungen und stellten bestechliche Beamte und Politiker vor Gericht. Auch wurden Soldaten eingesetzt um zu überprüfen, wie viele Schulen es im Lande überhaupt gibt. Unzählige Beamte hatten sich an den Mittelzuweisungen für "Geisterschulen" bereichert.
Quelle: Dieser Aufsatz erschien im Original in: Leviathan. Zeitschrift für Sozialwissenschaft, 28. Jg., Heft 2 (Juni 2000, S. 235-253).
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