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27. Dezember 2007. Analysen: Indien - Kunst & Kultur Die Frau im kommerziellen Hindi-Kino

Symbol indischer Tradition und Kultur

"As necessary first steps in examining Hindi films' representations, these studies provide a rich and abundant characterization of its idealized woman figures: passive, victimized, sacrificial, submissive, glorified, static, one-dimensional, and resilient." So charakterisiert die Autorin Jyotika Virdi in ihrem Buch The Cinematic Imagination 1 die idealisierten Frauenfiguren im kommerziellen Hindi-Kino. Sie stellt fest, dass die Frau in der Zeit unmittelbar nach der Unabhängigkeit sehr reaktionär dargestellt wurde, obwohl das Hindi-Kino in anderen Bereichen relativ zukunftsorientiert war.

 

Filmposter "Pyaasa"
Filmposter zu "Pyaasa" Foto: promo

Die Regierung des unabhängigen Indien befürwortete in der äußeren, "materiellen" Sphäre die Nutzung westlicher Technologien, Wissenschaft und Staatskunst. Dagegen sollte die "geistige" Sphäre der indischen Kultur und Tradition vor westlichen Einflüssen bewahrt werden. Der geistige Bereich wurde mit der inneren Sphäre von Ehe und Familienleben identifiziert, deren Symbol die Frau war und ist. Das erklärt auch, warum das Verhalten von Frauen ein so wichtiges Thema ist. Einerseits fürchtete die indische Regierung den immensen Einfluss des Kinos auf die Gesellschaft, versuchte aber andererseits, ihn zu nutzen, um der Bevölkerung ihre Ideale zu vermitteln. Dafür entwickelten die Filmschaffenden im indischen Kino einen Realismus von eigenwilliger Natur, dessen Ziel es war, der indischen Gesellschaft zu zeigen, wie sie sein sollte und nicht, wie sie wirklich ist. Diese idealisierte Linie versuchte einerseits, Realität zu artikulieren und auf der anderen Seite, diese wieder zu zerstreuen, zum Beispiel Guru Dutts "Pyaasa" (1957) und Manmohan Desais "Coolie" (1983). In "Pyaasa" führt Guru Dutt den mittellosen Helden nach vielen Schicksalsschlägen in die Welt der Reichen ein, zeigt ihm ihre Doppelmoral und lässt ihn dann geläutert und aus eigener Entscheidung in die Armut zurückkehren. Manmohan Desai holt den Helden in der Realität eines Kuli ab und bewirkt dann seinen märchenhaft Aufstieg zum heldenhaften Politiker, der gegen die Machenschaften dieser Klasse kämpft, wobei die Realität der Armut romantisiert werden.

Die ideale Frau

Wie sollte die Frau als Bewahrerin indischer Kultur und Tradition idealerweise beschaffen sein? Die ideale Frau sollte keusch, bescheiden, hingebungsvoll, selbstlos, aufopfernd, gebildet, stark, mutig und tugendhaft sein, wobei die Keuschheit der wichtigste aller Werte ist. Es gibt drei wesentliche Rollen für die Frau, sie ist Tochter, Ehefrau und Mutter. Als Ehefrau sollte sie dem Beispiel des Ramayana 2 folgen und ihren Mann als Gott verehren. Frauen sollte keinerlei Unabhängigkeit gegeben werden, die Grenze des Handlungsfreiraums einer Frau wird symbolisch durch die Lakshman Rekha 3 eingegrenzt. Das Manusmriti 4 empfiehlt, eine Ehe nicht auf Sehnsucht und Leidenschaft zu begründen und rechtfertigt dies mit dem unkontrollierten Hunger der Frauen nach Sex. 5 Stattdessen sollte man diese Energie auf Schutz und Fürsorge für die Familie lenken. Darum sollte die Frau in ihrer Kindheit der Obhut des Vaters unterliegen, in der Jugend der ihres Mannes und später der ihrer Söhne. Männer sollten einen gewissen emotionalen Abstand zu ihren Frauen haben, um sie besser unter Kontrolle zu halten. Romantische Liebe war eigentlich der Frau nur genehmigt, wenn sie dem Radha-Krishna-Beispiel folgt. Im klassischen Text ist die Liebe von Radha zu Krishna absolut rein und ewig – und dies ist die romantische Liebe, wie sie im indischen populären Kino dargestellt wird. Frauen, die nach den traditionellen Werten leben, finden Glück, während die, die es wagen sie zu überschreiten, bestraft und geopfert werden. Dabei wird ausgeklammert, dass Krishna eigentlich der große Verführer der Hirtinnen von Braj ist, die den "Scham der Welt" hinter sich lassen, um sich mit ihrem Geliebten jenseits aller gesellschaftlichen Konvention zu vereinigen.

Das Idealbild der züchtigen indischen Frau nach der Unabhängigkeit war nicht neu, es entstand im 19. Jahrhundert einerseits als indisches Äquivalent zur viktorianischen Bürgerlichkeit, aber auch als Antithese zur "Dekadenz" der westlichen Welt und wurde als solches zum nationalen Symbol gegen die Kolonialmacht. Nach der Unabhängigkeit wurde es in Abgrenzung zur westlichen Welt und als Symbol der nationalen Einheit wieder aufgegriffen. Dennoch vermischen sich in der Beschreibung der idealen Frau viktorianische und höhere brahmanische Werte, was gleichzeitig eine Abgrenzung von Frauen niedriger Klassen und Kasten bedeutet. Das ist umso interessanter, wenn man bedenkt, dass niedrige Klassen und Gesellschaftsschichten das Hauptpublikum des Hindi-Kinos nach dem Zweiten Weltkrieg waren.

Die Darstellung der Heldin und Antiheldin in Raj Kapoors Film 'Barsaat'

Anhand von Raj Kapoors Romanze "Barsaat" von 1949 möchte ich beispielhaft zeigen, welche Verhaltensweisen und Entscheidungen von Frauenfiguren belohnt werden, und bei welchen mit Ausgrenzung gerechnet werden muss. Es wurde gerade eine Romanze ausgewählt, weil sie sich zum beliebtesten Genre des Hindi-Kinos entwickelte, obwohl das ideale Frauenbild eigentlich eine Romanze gar nicht zulässt.

Filmposter "Barsaat"
Filmposter zu "Barsaat" Foto: promo

Raj Kapoor begann seine Karriere als Regisseur 1948 im Alter von 23 Jahren, ein Jahr nach der Unabhängigkeit. Er ist eine der großen Legenden des kommerziellen Hindi-Kinos und hat als Regisseur zahlreiche technische Neuerungen eingeführt, die zu den Grundlagen des heutigen Bollywood-Kinos gehören. Er führte Leidenschaft und größere Intensität im emotionalen Ausdruck in das indische Kino ein; Musik bekam bei ihm eine neue Bedeutung und die Atmosphäre und Stimmung wird szenisch stark hervorgehoben. Mit "Barsaat" wählte er als erster Kaschmir als Kulisse für einen Film, was einen neuen Trend auslöste. Mit seinen Film "Sangam" (1964) war er ebenfalls der erste, der die Schweiz, und Europa im allgemeinen, als Drehort entdeckte.

"Barsaat" war sein erster ganz großer Kinoerfolg, mit dem er neue Maßstäbe für die Romanze in Indien setzte. Im Gegensatz zur allgemeinen Auffassung der indischen Gesellschaft sah er die romantische Liebe, verbunden mit traditionellen Tugenden, als die ideale Grundlage für individuelles Glück und eheliche Zufriedenheit.

In "Barsaat" gibt es zwei zentrale Frauenfiguren, die beide in die Betrachtung mit einbezogen werden sollten. Der Film zeigt zuerst am Beispiel von Neela (Nimmi), wie es einer Frau ergeht, die sich den sozialen Konventionen ihrer Zeit widersetzt. Neela ist Waise aus den Bergen Kaschmirs und gehört einer ethnischen Minderheit an. Als Waise ohne jegliche Obhut wird ihre Keuschheit von vornherein in Frage gestellt. Sie hatte sich im Jahr zuvor in Gopal (Premnath), einen vorbeifahrenden Touristen aus der Stadt, verliebt und eine Nacht mit ihm verbracht. Damit hat sich das Vorurteil gegenüber Neela bereits bestätigt, denn sie hat die Lakshman Rekha überschritten. Er versprach, im nächsten Jahr wiederzukommen, sie wartet seitdem sehnsüchtig auf ihren Geliebten. Ein Jahr später ist er wieder mit seinem Bruder Pran in den Bergen und bittet ihn, bei Neela zu halten. Gopal erzählt Pran von Neela, seine Beschreibung passt in das gängige Klischee gefährlicher Weiblichkeit: "Sie ist eine Waise und unbekümmert wie wir, aber sie ist durchtrieben. Sie kann dich ohne Probleme hereinlegen, sie könnte Dein Herz stehlen". Dabei ist es offenkundig, dass sie nur ihn liebt und mit anbetender Ehrerbietung wie einen Gott betrachtet, ganz die ideale Frau. Sie ist ekstatisch über Gopals Rückkehr und sie lieben sich in der stürmischen Nacht - diese Szene wurde natürlich von der Zensurbehörde gestrichen. Gopal bezahlt sie mit 10 Rupien wie eine Prostituierte. Sie nimmt das Geld an, denn sie erkennt in ihrer Naivität nicht die Erniedrigung. Sie gibt die 10 Rupien heimlich Pran, um ihr einen ordentlichen Sari zu kaufen, damit sie sich nicht blamiert, wenn Gopal sie seinen Eltern vorstellt. Gopal glaubt nicht, dass Neela ihn aufrichtig liebt. Pran erkennt hingegen ihre echte Liebe zu Gopal und auch dessen Liebe zu Neela, auch wenn er diese natürlich leugnet. Während des Films gibt es immer wieder Schnitte auf Neela, wie sie sehnsüchtig auf ihren Geliebten wartet. Gopal erkennt endlich seine Liebe zu ihr und eilt zu ihr. Aufgrund eines Missverständnisses begeht sie jedoch Selbstmord. Egal wie gut und rein die Absichten einer Frau sind, sexuelle Überschreitungen werden meistens mit einem schicksalhaften Tod gesühnt.

Szenenfoto: Barsaat
Szenenfoto aus "Barsaat" Foto: promo

Die zweite wichtige Frauengestalt in "Barsaat" ist Reshma (Nargis) und sie gehört ebenfalls einer ethnischen Minderheit an. Pran (Raj Kapoor) verliebt sich auf seiner Reise mit Gopal in sie. Reshmas Vater ist anfänglich abwesend und ihre Mutter blind, dadurch hat ihre Liebe genügend Raum, sich zu entfalten. Sie ist die Verkörperung sämtlicher Ideale liebender Frauentypen der indischen Mythologie. Zuerst wird sie von Gopals Violinenspiel angelockt, wie Radha von Krishnas Flöte. Nach seiner Rückkehr zerstört der Vater ihr Boot, damit sie nicht mehr zu Pran übersetzen kann. Daraufhin stellt sich Reshma dem Soni-Test und versucht, mit dem Seil über den Fluss zu kommen, sie besteht ihn (im Panjabi-Epos "Soni-Mahinwal" benutzt Soni einen irdenen Krug, um zu ihrem Geliebten zu gelangen, obwohl sie weiß, dass dieser sich vor dem Erreichen des Ufers aufgelöst haben kann).

Pran hat einen schweren Autounfall und die Ärzte kämpfen um sein Leben. Reshma hat keinen Zweifel, dass ihre Liebe ihn retten wird. Tatsächlich erhält sie Pran aus den Fängen des Todes zurück, wie die mythologische Figur der Damayanti ihren Ehemann Nala. Reshma ist rein geblieben. Pran sagt zu Reshmas Vater: "Frag das Wasser, ob sie nicht rein war wie der Ganges". Darum werden Pran und Reshma am Ende vereint, belohnt für ihren starken Glauben an die Liebe - und Reshma für ihre Tugendhaftigkeit. Mit einem Sari, Puder, Brenneisen und Lippenstift und ein paar Brocken Englisch verwandelt Gopal Reshma am Ende in eine typische Hindu-Frau der indischen Mittelschicht. Die Unterschiede scheinen nur Äußerlichkeiten zu sein. In "Barsaat" gehören die Frauen- und Männergestalten verschiedenen Gemeinschaften an. Im wahren Leben wäre eine Verbindung zwischen den Figuren fast unmöglich. In vielen, nach der Unabhängigkeit Indiens entstandenen Filmen werden jedoch die Unterschiede zwischen den Kasten, Religionen und Ethnien geleugnet, so auch in "Barsaat". Reshma, so die Aussage, kann genauso eine Radha, Soni oder Damayanti sein wie jede hinduistische Frau.

In "Barsaat" verkörpert Reshma das Symbol nationaler Einheit und folgt in ihrer Romanze genau dem Vorbild Radhas und Krishnas. Damit entspricht sie der vorgegebenen Norm, die die Ras Lila (Radha/Krishna Mythos) als einzige erlaubte Form einer romantischen Liebe vorsieht. Raj Kapoors Heldin Reshma ist unerschütterlich in ihrer Liebe, ihr moralisches Verhalten entspricht ganz dem der idealen Frau. Sie handelt aktiv, indem sie sich für ihre Liebe entscheidet und sich darum einigen Normen widersetzen muss. Trotzdem kann man ihr eine gewisse Eindimensionalität nicht absprechen. Dem Beispiel Radhas folgt sie rein instinktiv. Dem Soni Test stellt sie sich zwar bewusst, aber eigentlich bestimmt das Schicksal über ihr Leben. Reshma vertraut ihrem Schicksal und der Kraft ihrer Liebe absolut. Auch ihre Verwandlung am Schluss geht von Gopal aus. Sie lebt wie selbstverständlich nach den Werten der idealen Frau, doch sie sind ihr nicht wirklich bewusst.

Neela unterscheidet sich nur in einer Beziehung von Reshma - sie verstößt gegen das wichtigste Gebot, indem sie ihre Keuschheit aufgibt. Allein diese Überschreitung fordert die höchste Bestrafung und macht ein Happy End unmöglich. Sonst entspricht der Charakter von Neela ganz der gesellschaftlichen Norm, aber auch sie ist im Grunde passiv und eindimensional. Sie handelt nicht, sie wartet und leidet.

Raj Kapoors Heldinnen entsprechen damit beispielhaft Jyotika Virdis Kritik. Aufgrund des großen Erfolgs, den der Film gehabt hat, muss man davon ausgehen, dass dieses Bild der Frau dem Geschmack des Publikums entgegenkam. Um das allgemeine Frauenbild Raj Kapoors in diesem Film ins rechte Licht zu rücken, muss man jedoch auch den Charakter von Pran und Gopal etwas genauer erläutern. Die beiden männlichen Protagonisten verkörpern zwei gegensätzliche Ansichten in Bezug auf Liebe und Frauen. Im Unterschied zu Gopal glaubt Pran an die wahre Liebe und bringt Frauen Anteilnahme, Verständnis und Respekt entgegen. Pran sieht die Verantwortung für die Keuschheit einer Frau nicht nur bei ihr, sondern auch beim Mann. Er erklärt Gopal, dass der Maßstab für Gut und Böse ist, die Gefühle eines anderen nicht zu verletzen. Dieses Einfühlungsvermögen Raj Kapoors gegenüber Frauen zeigt sich auch ganz deutlich in seiner Kritik an der sexuellen Ausbeutung von Frauen in Kaschmir durch männliche Touristen aus der Stadt.

 

Fußnoten

[ 1 ] Virdi, Jyotika: The cinematic Imagination: Indian popular films as social history. New Brunswick, NJ; London: Rutgers Univ. Press, 2003, S. 60.

[ 2 ] Ramayana: Das Ramayana ist neben dem Mahabharata das wichtigste indische Epos.

[ 3 ] Lakshman Rekha: Ist die Linie, die Lakshman, der Bruder von Rama, auf die Frage Sitas, wie weit sie sich ohne seinen Schutz vorwagen könnte, ohne in Gefahr zu geraten, um ihre Behausung zieht.

[ 4 ] Manusmriti: Das Manusmriti ist ein soziales und religiöses Gesetzbuch und wurde zwischen 200 v. Chr. und 200 n. Chr. von Manu verfasst. Es besitzt heute noch einen großen Einfluss auf die indische Gesellschaft.

[ 5 ] Sen, Geeti: Feminine fables: imaging the Indian woman in painting, photograhy and cinema. Ahmedabad: Mapin Publ., 2002. S.118. Oder Doniger, Wendy und Smith, Brian K: The Laws of Manu. Harmondsworth: Penguin 1991, S. 198.

 

 

Dieser Beitrag gehört zum Schwerpunkt: Film in Südasien .

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