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Die passive Duldung der eigenen Situation als vom Ehemann abhängige Frau wird von Nazneens Mutter zum Prinzip erhoben und an ihre Tochter weitergegeben ("It’s easy. You just have to endure"). So wagt Nazneen keinen Widerspruch als sie, gerade 18 und wenige Wochen nach dem mysteriösen Tod der Mutter, verheiratet werden soll. Der Ehemann ist über 40 Jahre alt, fett, schwatzhaft und wohnt in London.
Dort, oder vielmehr in einem der trostlosen Vororte, muss sich Nazneen nun einrichten. In einem Land, dessen Sprache sie nicht spricht, dessen Kultur sie ratlos gegenübersteht und mit dessen Bewohnern sie ohnehin kaum in Kontakt treten kann, verstreichen ihre Tage zwischen Kochen, Aufräumen, depressiver Langeweile und der Pflege der Hühneraugen ihres Ehemanns. Und auch die Nacht bietet wenig Trost, weil die triste Umgebung ihrer Billigwohnung nur einen Blick auf den winzigen Ausschnitt jenes Himmels ermöglicht, der in Bangladesch unendlich zu sein schien. Zu den wunderlichen Gebräuchen der neuen Heimat gehört, die Männer sonntags in ein Striplokal zu schicken, damit die englischen Hausfrauen in Ruhe die Wohnung putzen können. Doch noch weitaus stärker verblüfft Nazneen die Erkenntnis, dass es hier möglich ist, arm zu sein und dennoch keinen Hunger zu leiden. Die Beobachtung der alkoholabhängigen, am ganzen Körper tätowierten Frau aus dem gegenüberliegenden Haus wird so zum Mysterium: "To Nazneen it was unfathomable. In Bangladesh it was no more possible to be both poor and fat than to be rich and starving."
Nur langsam verschafft sich Nazneen Freiräume in ihrem durch den Ehemann eng begrenzten Lebensraum. Zögerlich erschließt sie sich die rätselhafte Welt, die sich ihr in London bietet, geht auf Streifzüge durch die Umgebung und versucht verzweifelt die alles bestimmende Sprachbarriere zu überwinden. Nach einigen Jahren des von Respekt statt Liebe geprägten Ehelebens wagt sie schrittweise zu rebellieren, indem sie die Hausarbeit vernachlässigt. Doch dieser stille Aufstand gegen die Konventionen bleibt vom Ehemann unbemerkt und verpufft wirkungslos. Die Fortschritte auf dem Weg zur bengalischen Version von Emanzipation verlaufen fortan quälend langsam, zeigen jedoch allmählich Wirkung. Dabei kommt Nazneen zugute, dass sie als Mutter dreier Kinder allmählich in diese Rolle hineinwächst. Sie entwickelt sich vom naiven Mädchen, das die anfängliche Lieblosigkeit ihres Mannes ("She is an unspoilt girl. From the village ... Not beautiful but not so ugly either ... What’s more, she is a good worker") achselzuckend akzeptiert, zur zunehmend auf Selbstbestimmung pochenden modernen Frau.
Geboren 1967 in Dhaka, aufgewachsen in Südlondon: Monica Ali Indem die Autorin diese Entwicklung begleitet, gewährt sie gleichzeitig tiefe Einblicke in das Leben der bengalischen Minderheit in London. Man bekommt einen Eindruck von dieser nahezu unabhängig von der britischen Gesellschaft existierenden Subkultur, deren Alltag im Wesentlichen von Gewalt in der Ehe, finanziellen Sorgen und sozialem Druck, aber auch gegenseitiger Unterstützung der Frauen geprägt ist. Dabei grenzt es an ein Wunder, dass Monica Ali trotz der Fülle an behandelten Problemen (u.a. Ausländerfeindlichkeit, Generationenkonflikt, Drogen, religiöser Radikalismus) nicht die Entwicklung Nazneens aus den Augen verliert. Stattdessen entwirft sie en passant ein präzises Bild jenes Milieus, das den Nährboden für die Eskalation der Gewalt in den britischen Vorstädten liefert. Allein, indem man Nazneen auf ihrem Weg verfolgt, erhält man mehr Informationen über dieses Phänomen als sie Stapel soziologischer Untersuchungen und Zeitungsartikel über das Thema bieten können.
Die eigentliche Stärke von Brick Lane liegt jedoch nicht im Informationsgehalt des Buches, sondern in der liebevollen Zeichnung der Charaktere. Nazneens Umgebung ist von zahlreichen liebenswerten Personen bevölkert, die sich selbst dann der Sympathie des Lesers gewiss sein können, wenn sie – wie etwa Mrs. Islam, Patronin des Viertels und Matriarchin einer Dynastie von Wucherern – Nazneen bei ihrer Entwicklung im Wege stehen. Die Sympathie Alis für jede ihrer Romanfiguren tritt vor allem bei der Beschreibung von Nazneens Ehemann Chanu zutage, der, stets auf die Abgrenzung zu den einfachen Bauern aus Bangladesch, die sich als Handlanger in Großbritannien verdingen, bedacht ist und dennoch mit seinen hochfliegenden beruflichen Plänen scheitert. Seiner Verbohrtheit, der pseudo-intellektuellen Endlos-Monologe und anderer Fehler und Schwächen zum Trotz ist Ali mit ihm ein von großartiger Menschlichkeit bestimmter Charakter gelungen, der allein dieses Buch lesenswert machen würde.
Dank dieser wunderbaren Figuren verzeiht man der Autorin kleinere Nachlässigkeiten wie die in penetrantem Englisch einer Dreijährigen gehaltenen Briefe von Nazneens Schwester und das nah am Kitsch gelegene Ende. Falls die nächsten Bücher der für den Booker-Prize 2003 Nominierten nur annähernd das halten, was Brick Lane verspricht, steht der jungen Autorin eine große Zukunft bevor.
Quelle: Monica Ali: Brick Lane, aus dem Englischen von Anette Grube, Droemer/Knaur, München 2004, 544 S., 19,90 Euro
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