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24. Juli 2013. Rezensionen: Forschung & Technik - Indien Archive des Zweifelns

Über den Bildband "File Room" von Dayanita Singh

Der Einband des Rezensionsexemplars ist schlicht und elegant. Hellgraues Leinen, dazu eine schwarze Prägung auf dem Buchrücken: der Name der Autorin, der Titel des Werkes und die fünf Buchstaben des Verlags Steidl. Die Schwarz-Weiß-Fotografien von Dayanita Singh gewähren einen Einblick in die Archive des Milliarden-Landes Indien. Augenblickliche Eindrücke und Gedanken beim Durchblättern...

Es geht um bedrucktes Papier. Es geht um das Gedächtnis von Institutionen, um das spätere Nachvollziehen von Vorgängen, die einmal wichtig gewesen sind. Für den Fall aller Fälle sind die Dokumente hier abgelegt, vor dem Verfall mehr oder weniger prächtig gerettet.

Verwaltungsvorgänge, Entscheidungen, Urteile, Schriftstücke, Vermerke, Kopien in vielfacher Ausfertigung, bestempelt mit wichtigen Stempeln von einstmals gewichtigen Personen sind mit dicken Schnüren zu schweren Bündeln geschnürt, sind in zum Bersten übervollen Pappmappen regalweise gestapelt. Sind die Regale gefüllt, geht es vor und neben ihnen weiter. Akten, vom Boden bis auf Schulterhöhe aufgetragen, Möbel sind unter, hinter und neben den Türmen nicht mehr bzw. allenfalls selten zu erkennen. Computer gibt es keine und auch Aktenordner im europäischen Sinne sind nirgends zu sehen! Alles scheint Handarbeit zu sein, mit Papier und Stift: auf einer Aufnahme hebt ein enervierter Angestellter eine Remington-Schreibmaschine ins Bild.

Zweifel tun sich auf beim Anblick so mancher ausgefranster, sich langsam auflösender Sammelsurien. Wer muss hier je wieder die Anstrengung unternehmen und auf vergilbtem Papier etwas entziffern? Wann sind gesetzliche Fristen endlich verjährt, um sich von diesem papierenen Ballast zu befreien? Man blättert weiter und sieht Zettelkästen und Schubladenschränke vor feuchten Wänden, beladen mit weiteren Mappen. Obwohl das alles nicht organisch, sondern eben bürokratisch aussieht, kann man ahnen, dass die Sammlungen wie ein Organismus angewachsen sind. Großformatiges liegt in Rollen meterweise in blinden Ecken. Ein abgestelltes Fahrrad beweist, dass hier täglich Mensch vorbei kommt.

In fleckigen Tüchern als Bündel im Raum verteilt, vorwurfsvoll mahnend auf den durchgebogenen Bearbeitungstischen in den Archivstuben: Bedrucktes Papier, abgelegt vor Jahrzehnten, aufbewahrt für kommende Jahrzehnte. Schlafende Mappen unter spärlicher Neonröhren-Beleuchtung, weder trostlos, noch gemütlich.

Zahlen und Buchstaben bilden Ordnungssysteme, die man als Eindringling und Fremdling nicht versteht. Chaos? Nicht unbedingt, nicht überall. Kladden stehen brav nummeriert nebeneinander: 628, 629, 630, 631...
Doch man fragt sich, welcher Art von Arbeit die hier Angestellten wohl nachgehen, womit sie de facto ihre Arbeitszeiten verbringen, was ihr aktueller Auftrag ist. Gestresst sieht niemand der wenigen Porträtierten aus, vielmehr strahlen sie selbst die Ruhe aus, die von ihrer Umgebung auf sie übergegangen, in sie eingedrungen ist. Hier etwas zu suchen muss für jemanden, der nicht mit Leib und Seele Archivar ist, eine Strafarbeit sein. Wenn irgendwo da draußen in den Ämtern ein Zweifel angemeldet wird oder ein Beweis erbracht werden muss, geht der nicht in den hiesigen Hallen mit schierem Zweifel einher, angesichts der Masse an einzelnen Seiten, auf denen der mögliche Beweis zu finden sein kann? Wie groß muss der Wille sein, hier nicht zu kapitulieren?

Nur ansatzweise nachvollziehbar für den Rezensenten, wie man sich auf eine Stelle in diesen Räumlichkeiten bewerben kann. Ein Grund mag sein: die tägliche Ruhe hier drinnen, während draußen das Leben durch den heißen Staub tobt, hupt, klingelt und schreit. Archive also als Rückzugsorte ihrer Sachbearbeiter_innen, denn die landestypische Reizüberflutung bleibt hier unten aus (vorausgesetzt, die Einheimischen nehmen diese als ein solches Zuviel wahr).  Hier unten? Ja, unwillkürlich denkt man sich die Raumporträts als Kellerräume, was freilich nicht immer zutrifft.

Es sind beeindruckende, teilweise gespenstische, in jedem Fall sehenswerte Aufnahmen, die Dayanita Singh und der Steidl Verlag vorlegen (Das Buch ist in zehn verschiedenen Farben erhältlich: Schwarz, Dunkelgrau, Hellgrau, Blau, Dunkelgrün, Hellgrün, Dunkelrot, Hellrot, Beige und Ocker).

Quellen

Dayanita Singh: File Room
ISBN 978-3-86930-542-4
Steidl, Göttingen 2013   
30 EUR

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