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Der Titel "InderKinder" erinnert unweigerlich an die 2000 geführte Kampagne "Kinder statt Inder", die im Rahmen der Diskussion um die Green Card und den Zuzug von IT-Spezialist_innen aus Indien nach Deutschland geführt wurde. Weniger bekannt dürfte Vielen der in diesem Zusammenhang entstandene Begriff InderKinder als Selbstbezeichnung von Kindern indischer Migrant_innen sein, die so einen humoristischen und selbstbewussten Umgang damit wählten und von denen einige in diesem Buch zu Wort kommen. Die Herausgeber_innen, die die erste und zweite Generation vereinen, standen jedoch vor der Aufgabe zu definieren, wer als InderKind gilt – und einigte sich auf Menschen mit mindestens einem biologischen, in Indien aufgewachsenen Elternteil. Die Problematik dieser biologistischen Kategorisierung zeigt sich beispielsweise im Gespräch mit Merle Kröger, die sich dieser Kategorie nicht zugehörig fühlt, sie aber zugeschrieben bekommt. Mitherausgeberin Urmila Goel reflektiert diese künstliche und ethnisierende Konstruktion und weist zudem darauf hin, dass andere, sich zugehörig fühlende Menschen, dadurch wiederum ausgeschlossen würden. Diese Reflexion steht exemplarisch für einen insgesamt sehr selbstkritischen Ansatz der Herausgeber_innen, der positiv hervorzuheben ist.
In der Einleitung werden Idee und Konzept des Buches vorgestellt sowie ein kurzer Abriss zur Migrationsgeschichte von Indien nach Deutschland gegeben. Laut Mitherausgeber Jose Punnamparambil sollten die InderKinder von ihren "kulturbedingten Konflikterfahrungen" berichten. Als mögliche Konfliktfelder nennt er die elterliche Erziehung, die Anpassung an "hiesige Sitten, Traditionen und Moralvorstellungen" (z.B. in Bezug auf die Partnersuche) und einen schwierigen und schmerzhaften Identitätsfindungsprozess. Auch der Arbeitstitel "Zwischen den Kulturen", unter dem das Buch entstand, zeigt zunächst eine Sichtweise auf die Geschichten der InderKinder als potentiell konfliktreich aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu zwei Kulturen und weniger aufgrund von Rassismus und Fremdzuschreibungen in der deutschen Gesellschaft. Teilweise spiegelt sich diese anfängliche Herangehensweise in den autobiographischen Erzählungen wieder, wird aber an vielen Stellen aufgebrochen und sowohl von Herausgeber_innen wie Autor_innen hinterfragt.
Eingeleitet werden die Erzählungen mit einem Foto der jeweiligen Autor_innen und einer kurzen biographischen Angabe zur Person und der Migrationsgeschichte der Eltern bzw. eines Elternteils. Dies und die sehr persönlichen Erzählungen, die folgen, eröffnen einen fesselnden und berührenden Einblick in die Biographien und Erfahrungen der InderKinder. Reflektiert werden unter anderem das Aufwachsen in Deutschland unter dem Einfluss indischer Eltern(teile), Zugehörigkeiten und Zuschreibungen, "Indisch-" und "Deutschsein". In vielen Erzählungen wird die Frage "Bin ich deutsch oder indisch?" verhandelt und versucht, Kindheitserfahrungen und Erziehungsmethoden kulturell einzuordnen. Nicole Karuvallil wiederum stellt die Frage: "Ich kann nicht sagen, ob ich mich als Deutsche oder Inderin fühle. Muss ich das eigentlich?". Oft wandelt sich die Bedeutung der indischen Herkunft in unterschiedlichen Lebensphasen und je nach Wohnort, ist mal mehr, mal weniger präsent, positiv oder negativ konnotiert. Insgesamt (und sicherlich verallgemeinert) jedoch ergibt sich ein erstaunlich positives Bild von privaten wie beruflichen Erfolgsgeschichten einer "model minority", die zwar von der einen oder anderen Ausgrenzungserfahrung durchbrochen werden, insgesamt jedoch einen selbstbewussten Umgang mit der eigenen Identität aufzeigen und wenig Kritik an der weißen Mehrheitsgesellschaft üben.
Eher zwischen den Zeilen und selten explizit als Rassismuserfahrungen benannt, lassen sich schmerzhafte Erlebnisse herauslesen: Betty Cherian-Oddo berichtet von einer "gewissen Ausländerfeindlichkeit", die ihr von älteren Menschen, in Geschäften und in der Schule entgegengebracht wird. Renuka Jain würde aus Angst vor rassistischen Übergriffen nicht die neuen Bundesländer bereisen und Daniela Singhal erinnert sich, wie ihr Name und ihre indische Herkunft ihr in der Schulzeit peinlich waren, sodass sie versuchte, diese zu verbergen. Umso mehr erstaunt es, dass viele Autor_innen trotz dieser enormen Herausforderungen, denen sie zumeist schon als Kinder begegnen mussten (z.B. als N-Kuss beschimpft zu werden), berichten, kaum oder keine Diskriminierungserfahrung gemacht zu haben.
Sprachlich und inhaltlich sticht jedoch Diptesh Banerjee mit seinen Erzählungen aus diesen Erfolgsgeschichten hervor und berichtet von Rassismuserfahrungen, die bereits in Kindergarten und Schule beginnen und heute in der eigenen Wut über die "Multi-Kulti-Lüge", Sarrazin und das Gefühl, ein Mensch zweiter Klasse zu sein, münden.
Fast alle Autor_innen stammen aus der bildungsorientierten Mittelschicht und sind in West-Deutschland aufgewachsen. Ihre indischen Eltern(teile) sind überwiegend Akademiker_innen und christlich. Es kommt also eine ganz bestimmte Gruppe von InderKindern zu Wort. InderKinder der Unterschicht und/oder Muslime hätten sicherlich andere Geschichten zu erzählen – sowohl im Hinblick auf die deutsche Mehrheitsgesellschaft wie auf ihre Position innerhalb "der" indischen Community. Um diesen stark eingeschränkten Blickwinkel zu erweitern sollen auf der Webseite des Buchs weitere autobiographische Essays und Erzählungen von InderKindern veröffentlicht werden.
Autobiographische Erzählungen mit wissenschaftlichen Essays zu ergänzen birgt die Gefahr, die InderKinder als Forschungsobjekte darzustellen, deren Erfahrungen nur von sogenannten Expert_innen interpretiert werden können (Goel: 138). Dies wurde bereits am ersten Teil der Buchreihe, "masala.de", in der Rezension von Nadja-Christina Schneider bemängelt. Abgeschwächt aber vielleicht nicht gänzlich gelöst wird dieses Problem, indem ebenfalls InderKinder für die Essays angefragt wurden, die sich in unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen damit auseinandersetzen und zudem eigene biographische Aspekte einfließen lassen konnten. Die Gleichwertigkeit der Autor_innen wird dadurch unterstrichen, dass auch sie mit einem Foto und kurzen biographischen Angaben eingeführt werden. Und so scheinen sich die Essays tatsächlich weder über die Erzählungen zu stellen noch die Autor_innen dieser in den Hintergrund zu drängen, teilweise sind die Grenzen zwischen Erzählung und Essay fließend. Gleichzeitig greifen sie Aspekte auf, die mich als Leserin bei der Lektüre der Erzählungen bereits beschäftigten, kontextualisieren die Erfahrungen in gesellschaftlichen, politischen und diskursiven Veränderungsprozessen und geben Anstöße, aus den Denkmustern der Integrationsdebatte auszubrechen. Während sich die Erzählungen eher um Aushandlungsprozesse zwischen "Indisch-" und "Deutschsein" drehen, liegt der Fokus der Essays auf das Anders-gemacht-Werden und es kommen eine stärkere Kritik sowie Forderungen nach Veränderung zum Ausdruck.
Besonders deutlich wird dies in Pia Skariah Thattamannils Essay, die sich gegen die Verknüpfung von InderKindern und potentiellen Identitätsproblemen sowie die starren Kategorien "Indischsein" und "Deutschsein" ausspricht. Sie berichtet von grenzüberschreitenden Fragen nach ihrer Biographie und Herkunft, die dahinterstehende Ausgrenzung (da sie doch eigentlich nicht hierher gehöre) und von der Erfahrung, dass die Fremdzuschreibungen Anderer mehr zählten als ihre Selbstbeschreibung. Wie weitreichend das von Außen erzeugte Gefühl des Andersseins sein kann zeigt sich darin, dass sie als Jugendliche beginnt, sich für ihre Eltern zu schämen und Indien zu verachten – etwas, was sie auch bei Freundinnen beobachtete und was auch in manchen Erzählungen bereits anklang. Kritik übt sie aber nicht nur an weißen Deutschen sondern auch an "der" indischen Community, in der manche nicht-muslimische Inder_innen versuchen, sich als "gute Ausländer" zu positionieren, indem sie sich am antimuslimischen Rassismus in Deutschland beteiligen und so von den "schlechten Ausländern" abzugrenzen versuchen. Innerhalb dieser Community fehle es zudem an der Benennung von und dem Austausch über Rassismus.
Viele weitere Denkanstöße werden in den Essays im Hinblick auf die Erfahrungen in den Erzählungen und die Integrationsdebatte gegeben. Shobna Nijhawan weist darauf hin, dass die beschriebenen Konflikte zum großen Teil Generationenkonflikte sind und so stellt sich die Frage, wie viel Kultur daran überhaupt beteiligt ist. Sie bemängelt die fehlende Möglichkeit, in Deutschland als Kind mit indischen Wurzeln diese auch außerhalb des diasporischen Kontextes selbstbewusst leben zu können. Bis heute hat sie sich nicht von dem "selbsterzeugten (...) Druck, so zu sein wie deutsche Kinder" erholt.
Rohit Jain stellt eine Kulturalisierung der eigenen Erfahrungen der InderKinder fest, die in der Metapher "Zwischen den Welten" zum Ausdruck kommt. In einem Gespräch mit Urmila Goel beschreibt Nivedita Prasad ihre Beobachtung, Konflikte würden in den Erzählungen ethnisch begründet, Vorurteile verinnerlicht und Rassismus erstaunlich wenig benannt, wenngleich von Rassismuserfahrungen berichtet wird. Indem etwa von "Ausländerfeindlichkeit" gesprochen wird, machen sich manche InderKinder selber zu etwas Anderem, Nicht-Dazugehörigen.
Paul Mecheril verdeutlicht die Widersprüche, denen auch dieses Buch nicht entkommen kann: Es ermöglicht die wichtige Selbstrepräsentation von "Geanderten", ein Privileg, das in dieser Gesellschaft ungleich verteilt ist; gleichzeitig wird mit dieser Repräsentation das zu Repräsentierende überhaupt erst geschaffen, eine "andere" Identität erst hergestellt. Es werden "die Anderen als Andere bestätigt" und ein "Selbst-Othering" der InderKinder ermöglicht. Was daraus folgt, sieht er auch in den Erzählungen: Selbst-Ethnisierungen, Selbst-Exotisierungen, Doing India und Doing Indianness. Trotz der ermöglichten Selbstrepräsentation scheint ein Entkommen aus dem deutschen Migrationsdiskurs so leicht nicht möglich, da Rassismuserfahrungen zur Verinnerlichung von Zuschreibungen und zu einem Streben nach Assimilation führen können. Fremdbilder können zu Selbstbildern werden. Dennoch sieht er die InderKinder nicht als passive Opfer, sondern betrachtet gerade das vorliegende Buch als Ausdruck von Stärke. Der Kampf um Selbstrepräsentation kann ihm zufolge den Diskurs verändern und neue Perspektiven eröffnen.
InderKinder bietet höchst spannende und tiefe Einblicke in das Leben von Inder_innen der zweiten Generation in Deutschland, die durch eine sehr persönliche Aufmachung unterstrichen werden. Dabei besticht die mutige Bereitschaft der Erzähler_innen, derart intime Einblicke in ihre Familiengeschichten, die Beziehung zu ihren Eltern, Erfahrungen mit Ausgrenzung und die fortwährende Reflexion über die eigene Identität zu geben und diese wiederum in den Essays analysieren zu lassen. Interessant wäre es gewesen, die Leitfragen zu kennen, die die InderKinder als Grundlage für ihre Erzählungen erhalten haben. Eine Bereicherung für das Buch wären Beitrage von InderKindern mit muslimischem Hintergrund oder aus andern sozioökonomischen Schichten gewesen. Das Vorhaben, diese auf der Webseite des Buches zu veröffentlichen ist lobenswert, aber es ist fraglich, wie diese Zielgruppe erreicht werden soll und ob eine Umsetzung realistisch ist.
Die Essays stellen die Erzählungen in einen größeren Kontext, hinterfragen starre Kategorien und geben Denkanstöße in Bezug auf Zugehörigkeiten, Selbst- und Fremdzuschreibungen, "Othering" und Rassismus. Das Buch ermöglicht die Selbstrepräsentation von Menschen, die für gewöhnlich mit dem Zusatz "Migrationshintergrund" belegt und von anderen besprochen werden. Dass es dabei manche Denkmuster und Kategorien der gängigen Integrationsdebatte reproduziert, ist kaum vermeidbar und wird durch die fortwährende (Selbst-)Reflexion der Autor_innen sowie Herausgebenden aufgefangen. Dieser höchst selbstkritische und transparente Ansatz ist hervorzuheben und wäre für manch anderes Buch und die Integrationsdebatte in Deutschland insgesamt wünschenswert.
Urmila Goel, Jose Punnamparambil und Nisa Punnamparambil-Wolf (Hrsg.): InderKinder. Über das Aufwachsen und Leben in Deutschland. Heidelberg: Draupadi Verlag, 2012.
220 Seiten, ISBN 978-3-937603-73-5, 19,80 €
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