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Dr. Hein G. Kiessling (Jahrgang 1937, Promotion 1983 zur sozialistischen Partei in Indonesien) lebte als Repräsentant der Hanns-Seidel-Stiftung von 1989 bis 2002 in Pakistan. Während seiner Tätigkeit für die CSU-nahe Stiftung hatte der Autor ausgiebig Möglichkeit, englischsprachige Zeitungsmeldungen zu den großen Geheimdiensten der Region auszuwerten sowie Insidergespräche zu führen. 2002 wurde ihm für seine Tätigkeit in Pakistan das Bundesverdienstkreuz verliehen.
Kiesslings Haupttext besteht aus zwei unverbunden nebeneinander stehenden Teilen: Einem deutlich längerem und besser recherchiertem zu Pakistans Inter-Services Intelligence (ISI) (S. 8- 288) und einem sehr viel kürzerem zum deutlich größeren Research & Analysis Wing (R&AW) Indiens (S. 290-383). Beide Dienste werden grob bezüglich Struktur, Organisation, geschichtlicher Entwicklung, Pannen und geopolitischer Interessen beschrieben und hierbei auch als vom Parlament unabhängige Zentren innenpolitischer Macht porträtiert. Der Autor hat hier ein in vielerlei Hinsicht diskussionswürdiges Werk zu zwei der aktivsten Geheimdienste Asiens vorgelegt.
Kiessling betrachtet im ersten Abschnitt systematisch den hochgerüsteten pakistanischen Geheimdienst ISI. Dabei geht er in historischer Abfolge seit Beginn der Gründung 1948 vor und diskutiert ebenso Transformationsdynamiken wie zentrale Betätigungsfelder. Die Wandlungsvorgänge sind in Richtung unter anderem i) hin zur Herrschaftsabsicherung des Machthabers insbesondere im Falle von Militärdiktatoren, das heißt zusätzlich als Inlandsdienst zunehmende Überwachung politischer Opponenten; ii) im Zuge wachsender Rechtsstaatlichkeit Sicherstellung der Erpressbarkeit von Richtern; iii) parallel zur Einführung von Anfängen einer Pressefreiheit Desinformationskampagnen; iv) mit der "Demokratisierung" einhergehende Bestechung/ Erpressung von Politikern (wie bei den Wahlen 1990 durch die Mehrangate-Affäre aufgedeckt wurde).
Aktionsfelder umfassen unter anderem in den 1960er Jahren die Hilfen für militante Gruppen im Nordosten Indiens und ab den 1970ern die Unterstützung der aufständischen Sikhs im indischen Punjab sowie die Organisation der Massaker in Mumbai vom März 1993 und November 2008. Zentrale Großprojekte waren die Talibanisierung Afghanistans seit den 1990ern und die Jihadisierung und Internationalisierung des Kaschmirkonflikts sowie der Verkauf moderner Nukleartechnik an Iran, Saudi Arabien und Nordkorea (Transport durch Maschinen der Pakistan Air Force beziehungsweise im Falle Saudi Arabiens ab 2003 als Pilgerflüge während der hajj getarnt). In der Gegenwart besonders relevant sind Waffenlieferungen an und Besoldung der Rebellen in Assam, Anschläge auf indische Einrichtungen in Afghanistan wie die Botschaft in Kabul im Juli 2008 sowie Mobilisierung von Heroingeldern durch die Weltmarktzuführung über Pakistan (Schutzzölle für die Absicherung der Transportwege aus Afghanistan in den Westen zur Finanzierung von ISI-Missionen). Hierzu zählt auch das Betreiben von pakistanischen Falschgeldpressen für indische Rupien, damit die Sabotageakte in Indien auch auf Kosten der indischen Wirtschaft finanziert werden können. Aber auch zahlreiche Korruptionsphänomene werden ausgebreitet, unter anderem Abzweigungen von den für die afghanischen mujahidin gedachten amerikanischen Waffenlieferungen für pakistanische Gruppen in Indien sowie der Brand des Ojhri-Waffenlagers 1988 - mit weit mehr als 100 Todesopfern - unmittelbar vor dem außerordentlichen Besuch amerikanischer Inspekteure zur Vertuschung geheimer Stingerraketenverkäufe an den Iran. Kooperationen des ISI mit dem CIA und MI6 bei gemeinsamen Interessen gegen China und die Sowjetunion werden ebenfalls besprochen. Spannend sind die Ausführungen Kiesslings zu Omar Said, der durch seine sehr engen ISI-Kontakte Osama bin Laden treffen durfte und hiernach im August 2001 an den in Hamburg lebenden Terrorpiloten Muhammad Atta 100.000 US-Dollar transferierte (diese Überweisung und die Verwicklungen des ISI bei den Anschlägen am 11. September 2001 verschweigt der amerikanische 9/11 Commission Report kurioserweise).
Im Abschnitt zum R&AW werden als Betätigungsfelder unter anderem beschrieben i) Training bengalischer und tibetanischer (sic!, S. 310) Freiheitskämpfer, ii) Abhöranlagen gegen China in den 1960ern, iii) Zusammenarbeit mit den Franzosen bei der Beobachtung amerikanischer und sowjetischer Flottenbewegungen im Indischen Ozean in den 1970ern, iv) Unterstützung der Tamilen in Sri Lanka in den 1980ern usw. In diesem zweiten Abschnitt liest man nun auch über Liebesfallen, also wie indische Diplomaten russischen und chinesischen Agentinnen (beziehungsweise eine Diplomatin einem pakistanischen Romeo) erlagen.
Kiessling handelt die Geschichte des Geheimdienstes stark personenzentriert ab, weshalb er mehrmals wichtigen Akteuren kriecherische Züge (S. 50) attestiert oder sie als beste Kriecher und Speichellecker (S. 32) porträtiert. Bedenkt man die Brutalität, mit der solche Dienste mit Freigeistern umgehen, ist dieses Urteil möglicherweise nicht uneingeschränkt fair (vielleicht könnte man im Sinne von Coser 1974 von greedy institutions sprechen).
Angenehm fällt auf, dass der Autor häufig mehrere Versionen möglicher Hintergrundinteressen nebeneinander vorstellt und dann darlegt, welche Argumente für beziehungsweise gegen die eine oder andere Lesart der Ereignisse sprechen. Der Schattencharakter des Themas allerdings bedingt, dass die Analysen des Autors schwerlich verifizierbar und auch nur manchmal falsifizierbar sind. Die Wahrheitsfrage kann daher bei der Diskussion der Einschätzungen des Autors nicht Ziel einer Besprechung sein. An einigen Stellen aber sind seine Analysen deutlich zu radikal oder schlicht falsch, wie die Feststellung: "Ein Großteil dieser Madressen [in Bangladesch] vertritt heute den nicht landestypischen Wahabi-Islam, ist von der HUJI-B unterwandert und hält Kontakte zu militanten Jihadis in Pakistan." (S. 355). Der Großteil der madaris in Bangladesch ist Deobandi-nah, wie auch die HUJI eine Deobandi-nahe Bewegung darstellt. Deobandis sind nun sehr landestypisch und sehen sich keineswegs als Wahhabis (zu den Medressen siehe zum Beispiel Malik 2008). Ein weiteres Beispiel für eine Fehlanalyse: Obwohl der Autor im Nachwort ausgiebig über die amerikanische Militäraktion zur Tötung Osama bin Ladens berichtet, versäumte er, den Textteil zu berichtigen. Auf S. 240-241 liest man von der ISI-Lüge, dass Osama bin Laden sich im pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet aufhalte. Dass Osama bin Laden in einer pakistanischen Großstadt untergetaucht sein könnte, erscheint Kiessling zu riskant, daher geht er davon aus, dass i) Osama bin Laden entweder bereits verstorben sei und der ISI den Ort seines Grabes geheim halte, oder ii) der ISI für Osama bin Laden Fluchthilfe in ein anderes islamisches Land leistete. Beide Varianten sind - so wissen wir mittlerweile - falsch. Aber sie waren auch zuvor bereits äußerst unwahrscheinlich: Osama bin Laden meldete sich zwischenzeitlich mehrmals via Video- beziehungsweise Audiobotschaften, so dass er nicht verstorben sein konnte; und wenn man bedenkt, wie der ISI Osama bin Laden zum Goldesel zur Sanierung des eigenen Haushalts dank der Fremdfinanzierung durch internationale Geberländer im Krieg gegen den Terror machte (zum Beispiel erläutert Kiessling, dass der ISI für das von ihm geplante Mumbaimassaker vom 28. November 2008 al-Qa'ida zu verdächtigen plante [S. 279]), ist auch klar, weshalb der ISI ihn im eigenen Land halten musste: Einen Goldesel verschenkt man nicht.
Inhaltliche Mängel sind bei einem solch auf breiter Ebene angelegten Vorhaben schon aus strukturellen Gründen unvermeidbar. Wünschenswert gewesen wäre beispielsweise eine Erwähnung der Thesen Mearsheimers (2011: Why Leaders Lie: The Truth About Lying in International Politics) zur Lüge im inneren Politikgeschäft oder ein Hinweis auf Dietl (2010: Schattenarmeen: Die Geheimdienste der islamischen Welt), der eine vergleichende Studie mehrerer Geheimdienste der islamischen Welt vorlegt. Der vom Autor nicht zitierte, aber vergleichsweise kurze Essay von Riedel (2011: Deadly Embrace: Pakistan, America, and the Future of the Global Jihad) konzentriert knapp wichtige Hintergrundinformationen zur Zusammenarbeit zwischen ISI und CIA. Auch Standardwerke wie Ayesha Siddiqas (2007) Military Inc.: Inside Pakistan's Military Economy oder die Studie von Menezes (1999: Fidelity and Honour: The Indian Army from the Seventeenth to the Twenty-first Century) finden keine Erwähnung. Zuletzt sollte auch auf die Überlegungen von Lieven (2011: Pakistan: A Hard Country) hingewiesen werden, der korrekt anmerkt, dass die in der jüngsten Vergangenheit dramatisch erhöhte Zunahme an Naturkatastrophen sehr viel zentralere Herausforderungen an die zukünftigen Wandlungsvorgänge in Südasien stellen werden, als politische Intrigenspielchen und die nachrichtendienstlichen Plänkeleien, die jihadistische beziehungsweise separationistische Missionen generieren (zu den qualitativen Unterschieden in den diversen Formen "islamischer" Gewalt siehe zum Beispiel Lohlker 2009: Dschihadismus: Materialien).
Formal finden sich fehlerhafte Fachtermini, zum Beispiel im englischsprachigen Kapitel Abkürzungen: Lashkar-e Toiba (S. vii) statt Lashkar-e Taiba, Jish-e Mohammad statt Jaish-e Muhammad, Tableeghi Jammat (S. viii) statt Tablighi Jama'at. Falsch auch die Erläuterung des iranischen SAVAK mit dem afghanischen Khadamat-e Etela'at-e Dawlati - obgleich die englische Übersetzung wieder stimmt (die korrekte originalsprachliche Angabe wäre: Sazeman-e Ettela'at va Amniyat-e Keshvar). Auch das beliebige Wechseln von al und ul (selbst in einem Terminus, zum Beispiel die mehrmalige Erklärung von HUJI als Harkat-ul-Jihad-al-Islami (zum Beispiel S. vi) beziehungsweise Jihad und Jehad (zum Beispiel S. vi) ist unnötig unschön. Ebenso ungenau die Konfundierung von Tablighi Jama'at und Jama'at-e Islami zu Tablighi Islami (S. 237). Aber auch bei deutschsprachigen Fachbegriffen und Ortsnamen finden sich zahlreiche Flüchtigkeitsfehler, zum Beispiel Natalixen (S. 244) statt Naxaliten, Dakha (S. 296) statt Dhaka, Katmandu (S. 360) statt Kathmandu, Paktunkhwa (S. 367) statt Pakhtunkhwa, Lashkargah (S. 368) statt Lashkar Gah, Madressen (S. 354 und 355) statt Medressen, Wahabi (S. 355) statt Wahhabi und so weiter.
So summieren sich kleinere Mängel auf: Sind die Familienfotos von Ehefrau und Töchtern des Autors in Pakistan (S. 408) Geschmacksache, ist die Fortzählung der Fußnoten von 1 bis 771 eine formale Schwäche (üblich wäre bei Kapitelanfang wieder neu mit der Zählung zu beginnen). Das Hin- und Herspringen zwischen Deutsch und auf Englisch (ohne Angabe von Quellen!) augenscheinlich Hineinkopiertem in Anhang, Abkürzungsverzeichnis, Umschlagstext und Bibliographie macht es dem Leser nicht einfacher. Dass in der dünnen Bibliographie unter Suggested Reading (sic!) nur englischsprachige Literatur zitiert wird, ist ohne Not leserunfreundlich, da mehrere der erwähnten Titel auch in deutscher Übersetzung erschienen. Südasienexperten werden verwundert feststellen, dass keine einzige Quelle in einer indischen oder pakistanischen Sprache angegeben ist, obwohl im Anhang (wozu auch immer) alle englischsprachigen Zeitungen in Pakistan aufgezählt werden. Jedem Zeitungsleser in Pakistan ist aber bekannt, dass die interessanteren Analysen und Kommentare in der Nationalsprache Urdu beziehungsweise einer Regionalsprache erscheinen. Das Ausblenden sämtlicher Publikationen in südasiatischen Sprachen ist eine entscheidende Schwäche und wirft auch Fragen zu den Interviewkompetenzen des Autors auf.
Zusammenfassend: Dem Laien kann das Buch nicht uneingeschränkt empfohlen werden - es ist einerseits inhaltlich bisweilen detailverloren, in der Erzählung anekdotenhaft und in der Analyse bisweilen unklar bis beliebig, andererseits formal oft leserunfreundlich, da doch profunde Kenntnisse in Geschichte und politischer Landschaft und Pakistans vorausgesetzt werden.
All diese Mängel können aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass dieses Werk als erste deutschsprachige Studie zu zwei der professionellsten Geheimdienste Asiens eine in vielerlei Hinsicht lesenswerte Publikation darstellt, der im deutschsprachigen Raum zusätzlich der Charakter einer Pionierarbeit zukommt. Aufgrund der Fülle von Informationen und den faszinierenden analytischen Anregungen wird das Werk Liebhaber finden. Die Publikation ist in mehrfacher Hinsicht mutig und es ist zu hoffen, dass weitere Publikationen folgen. Das Thema ist in der Tat von größter Wichtigkeit.
Coser, Lewis, 1974: Greedy Institutions: Patterns of Undivided Commitment. New York: Free Press.
Dietl, Wilhelm, 2010: Schattenarmeen: Die Geheimdienste der islamischen Welt. St. Pölten: Residenz.
Lohlker, Rüdiger, 2009: Dschihadismus: Materialien. Wien: Facultas.
Madsen, Stig Toft, Kenneth Bo Nielsen & Uwe Skoda (Hgg.), 2011: Trysts with Democracy: Political Practice in South Asia. London: Anthem.
Malik, Jamal (Hg.), 2008: Madrasas in South Asia: Teaching Terror? London: Routledge.
Mearsheimer, John J., 2011: Why Leaders Lie: The Truth About Lying in International Politics. New York: Oxford University Press.
Menezes, Lt. General S. L., 1999: Fidelity and Honour: The Indian Army from the Seventeenth to the Twenty-first Century. New Delhi: Oxford University Press.
Nawaz, Shuja, 2008: Crossed Swords: Pakistan, its Army, and the Wars Within. Karachi: Oxford University Press.
Riedel, Bruce, 2011: Deadly Embrace: Pakistan, America, and the Future of the Global Jihad. Washington DC: Brookings Institution Press.
Hein G. Kiessling: ISI und R&AW - Die Geheimdienste Pakistans und Indiens: Konkurrierende Atommächte, ihre Politik und der internationale Terrorismus. (Reihe: Geheime Nachrichtendienste, Bd. 6). Berlin: Verlag Dr. Köster, 414 S.
ISBN-13: 978-3-89574-770-0
29,80 Euro
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