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18. Mai 2010. Rezensionen: Indien - Kunst & Kultur Nachtregen

Gegenwartslyrik aus Indien

In Deutschland haben uns vor einem halben Jahrhundert vor allem zwei Bücher zur modernen Lyrik beschäftigt: "Die Struktur der modernen Lyrik" von Hugo Friedrich und Hans Magnus Enzensbergers "Museum der modernen Poesie". Gegen Ende des vorigen Jahrhunderts erschien dann der ebenfalls wegweisende "Atlas der neuen Poesie" von Joachim Sartorius, der sich als eine Weltkarte der heutigen Poesie verstand und Lyrik aus 36 Ländern sowie 22 Sprachen umfasste und in der Einführung festhielt: "Die Geschichte der Dichtung der letzten fünfzig Jahre ist eine spannende Geschichte des Zustroms neuer Poesien aus Afrika, Asien und Lateinamerika". Indien war in dieser Anthologie nicht vertreten.

Dabei war 1986, also ein Jahrzehnt vorher, in München bereits die Anthologie "Gelobt sei der Pfau. Indische Lyrik der Gegenwart" erschienen, die in der englischen Kolonialsprache geschriebene Gedichte bewusst aussparte", da sie in der Einschätzung des Herausgebers an dem Prozess der "Identitätsfindung im heutigen Indien" nicht teilhatten. Diese Auffassung finden wir auch in einem 1995 erschienenen Roman "Red Earth and Pouring Rain" von Vikram Chandra wieder, in dem der Protagonist Sanjay an einer zentralen Stelle bekennt: "Was er hätte sagen können, war im Englischen nicht zu sagen: Rosen, zum Scheitern verurteilte Liebe, keusche Leidenschaft, mein Vater, meine Mutter, ihre nie ausgesprochene Liebe, Stolz, Ehre, wofür ein Mann leben kann und eine Frau sterben sollte; kann man auf Englisch sagen: das ferne langsame Läuten der Kühe bei Sonnenuntergang, die grüne Schwere der Bäume nach dem Monsun, der Staub vom Worfeln des Getreides und die Lieder der Frauen, der elegante Schatten eines Minar, der sich langsam über den weißen Marmor stiehlt, die geduldige Güte der Menschen, die man am Wegesrand trifft, das einen warm umhüllende Vertrauen zu Tanten, Onkeln und Vettern, die Feuer des Winters und frische Chappatis? Im Englischen bleibt all dies, die wahre Gestalt und Form des Herzens einer ganzen Nation, ungesagt und unsagbar." Trotz solcher Bedenken unternimmt es die vorliegende Anthologie, die deutschen Übersetzungen von Gedichten in 14 indischen Sprachen - Assamesisch, Bengali, Gujarati, Hindi, Kannada, Maithili, Malayalam, Marathi, Oriya, Punjabi, Tamil, Telugu, Urdu und indisches Englisch - auf der Grundlage von englischen Übersetzungen bzw. Übersetzungen des indischen Englisch vorzulegen, die entweder in "Kavityan.Online anthology of Indian Poetry in English Translation" zu finden sind oder bei den Gedichten gesondert ausgewiesen sind. Inzwischen hatte Salman Rushdie in der amerikanischen Zeitschrift The New Yorker vom Juni 1997 in einem international beachteten Artikel der indischen englischsprachigen Prosa immerhin Weltniveau bestätigt. Aber ist indische Lyrik über zwei Sprachen und Kulturen gebrochen ohne wesentlichen Verlust "ihrer Sprache, ihrer Bilder, ihrer Metaphern und
Bedeutungstiefe" (Originalton des Übersetzers) übersetzbar?

Wir schalten hier den Herausgeber von "Der Kanon. Die deutsche Literatur. Gedichte", Marcel Reich-Ranitzky, in die Debatte ein, der grundlegende Fragen zur Natur von Lyrik aufwirft, vor der er als "einer höchst fragwürdigen Gattung" warnt. "In der Prosa wird mit offenen Karten gespielt, in der Lyrik hingegen oft mit gezinkten". Meint er. Wenn im Volk der Denker und Dichter die Dichtung für das Dunkle und Geheimnisvolle und nicht das Klare und Analytische steht, so ist nach ihm ein Hauptschuldiger Goethe, der in den Gesprächen mit Eckermann dekretierte: "Je inkommensurabler und für den Verstand unfasslicher eine poetische Produktion, desto besser." Nehmen wir Klarheit für Form und das Inkommensurable für den Inhalt, wäre nach Reich-Ranitzky das Gedicht das Zusammenfallen von Form und Inhalt, die Form schon der Sinn, also seine Existenzberechtigung. Wer aber hat in der deutschen Literatur Form und Sinn genialer zusammengeführt als Goethe, und das nicht nur im Faust? Ein anderer Deutscher, Albert Einstein, hat nicht für die Lyrik, sondern für die Naturwissenschaften in der äußersten Präzision einer Formel, E=mc2, Sinn und Form ebenfalls zu einer Einheit verschmolzen, die wiederum für den Dichter Joseph von Eichendorff zum
Zauberwort wird und nicht über den Verstand, sondern über die Wünschelrute erreichbar wird. "Schläft ein Lied in allen Dingen, die da träumen fort und fort, Und die Welt hebt an zu singen, Triffst du nur das Zauberwort." Die Präzision der chemischen Formeln in den Naturwissenschaften, etwa für den Wind und das Wasser, ist in der Lyrik eines Goethe das Gleichnis: "Seele des Menschen, Wie gleichst du dem Wasser! Schicksal des Menschen, Wie gleichst du dem Wind!" (Gesang der Geister über den Wassern). Was aber bleibt - wie bereits gefragt - von den Originalgedichten unserer Anthologie über zwei Sprachen und Kulturen und ihre Übertragungen hinweg gebrochen und dem damit verbundenen wesentlichen Verlust? Der Sauerstoff als chemisches Element mit der Ordungszahl 8 und dem Symbol (O) ist für Menschen ebenso lebensnotwendig wie der "Hauch" in dem Goetheschen Gedicht "Ein Gleiches", den man in einer Vorahnung des Todes "kaum mehr spürt". In der vorliegenden Anthologie ist die poetische Ontologie z.B. dort am Werk, wo ich selbst zum "Nachtregen" werde wie im Titelgedicht. Die Ordnung des Gedichts ist eben von einer anderen Welt. Rilke drückt es in den "Duineser Elegien" so aus: "Wir ordnens. Es zerfällt./ Wir ordnens wieder und zerfallen selbst." Auf dieser alten Erde, weiß Sikant Mahapatra, unterhalten wir uns mit Mitmenschen "aus Lichtjahresferne im Universum". In meinem eigenen Verständnis von Lyrik sind Gedichte wie Individuen, also unverwechselbar, unersetzbar, einmalig. Deshalb auch wie chemische Formeln nicht übersetzbar. So unübersetzbar wie Sanskrit Begriffe, sozusagen chemische Formeln im hinduistischen Weltbild, von Karma, Dharma,Samskara, Brahman, Mantra, Tantra, Avatar, Ahimsa.

Wenn der Vergleich von Gedichten als Individuen einen Sinn haben soll, bedeutet dies, dass Gedichte wie Individuen nicht nur unersetzbar und einmalig sind, sondern eben auch wie diese genial, unbedeutend, oder mittelmäßig sein können und keines je dem anderen gleicht. Erfahrungen von und mit einzelnen Individuen lassen sich stricto sensu nicht austauschen ebenso wenig wie einzelne Gedichte untereinander oder gar deutsche Gedichte gegen indische, englische oder chinesische. Aber selbstverständlich können Individuen wie Gedichte auf Grund ihrer je eigenen Erfahrungs- und Erlebniswelten miteinander kommunizieren, ohne sich je zu verwechseln. Und damit sind wir wieder beim "Nachtregen". Ohne je Malayalam gelernt zu haben, haben wir alle immer schon Nachtregen erlebt. In der deutschen Übersetzung von Asok Punnamparambil erleben wir Sugatha Kumari's "Nachtregen" jedoch zum ersten Mal. Wenn Sigmund Freud in seinem Versuch über das Unbewusste sagte "Wo es war, soll ich werden", so regnet "es" nach diesem Gedicht nicht mehr nachts, sondern der Regen wird zum Freund: "Mein Freund, auch ich bin wie du, wie du regne ich nachts". Übersetzungen sind besonders in der Lyrik immer nur Versuche sprachlicher Annäherungen. Vielleicht sollten sie bescheidenerweise auch so heißen. Aber sie können unseren Horizont mit Sicherheit erweitern und bereichern. Reich-Ranitzky bleibt jedoch dabei: "Poesie ist eine zwiespältige Sache". Da muss er sich beim Wort nehmen lassen: denn einesteils nennt er Lyrik "Lebensbejahung", andernteils muss darunter auch "die schwarze Milch der Frühe" (Paul Celan) und "das Aas" (Charles Baudelaire) ihren Platz haben. Am Ende bekennt der bekannte Kritiker lapidar "oft ist die Poesie auch nützlich, nützlich, weil schön".

Immerhin. So funktioniert Kommunikation zwischen Individuen und zwischen Gedichten. Auf Grund ihrer Erfahrungs- und Erlebniswelten können sie sich seit jeher austauschen, aber nie verwechseln. Beide können genial, bedeutend, mittelmäßig oder unbedeutend sein. Aber immer einmalig.

Machen wir im Geiste solcher kreativer Verunsicherung abschließend einen Kurzgang durch die Anthologie, der Ihre eigene Lektüre befruchten mag. Schon beim ersten Gedicht wird die ganze Erde aufgerufen: "Die Erde ist mein Gedicht" von Hiren Bhattacharya greift zum großen Schreibgerät. "Mein Stift ist der Hammer", Worte werden nicht geschrieben, sie sind scharf und kantig, pflügen auf den Furchen, pressen aus dem Holz "Worte, fleckig vom Blut der Erfahrung". Manche sind "hoch wie die Berge, tief wie Seen und schwer wie Seen". Hier spricht kein Dichter der engen Stuben, sondern ein "Dichter des weiten Kontinents, sein Gedicht ist die Erde. Man spürt hinter den Bildern den Wohllaut des Bengali. Alokeranjan Dasgupta benutzt die gleiche Sprache, um von der Weite in die Enge des politischen Alltags zu führen. Aber beim Grübeln über "Namen möglicher Minister für ein Schattenkabinett" im Wald erweist sich die Natur stärker und eine "zarte Himalayazeder" nimmt sich seiner an und "wir hüllten uns beide in die Freude der fehlenden Macht". Tabish Khair greift sodann in unserer Nachbarsprache Englisch in dem "Haus mit dem grauen Tor" die alte Legende von Philemon und Baucis auf. Die alten Eheleute haben Wurzeln geschlagen und Samen gestreut, wo heute "wolkenkratzende Straßen" sind, wo sie wie Unkraut und Gestrüpp, "das sich nicht jäten lässt",die Hoffnung nicht aufgeben und "noch durch verhängte Fenster spähen, wenn das Tor quietscht." Lothar Lutze hat einmal anlässlich eines Gedichts von Vishnu Khare erklärt, mit welchen Familienerinnerungen das Hindi Wort "ghar" für das Haus getränkt sein kann. In dem Gedicht "Wer wird auf unser Klopfen antworten?" fragt Ashok Vajpeyi "wer bringt uns jetzt nach Hause zu unserer Freude, wer?" Wenn nach den Menschen auch die Natur verschwindet, der Strom versiegt, die "grüne Grammatik des Laubes" vergessen ist und die Bäume schweigen, "wessen Echo bringt uns dann heim" und auf unser Klopfen antworten? Gagan Gill interpretiert in ihrem Gedicht "Beim Gang zur Henkersschlinge" das uralte asiatische Bild von der unwiderstehlichen Süße des Honigs angesichts der Todesstunde mit dem zum Tod durch Hängen verurteilten Mann neu, der sich in "unendlichem Neid auf den letzten Mann noch einmal umdreht und sich in diesem "hilflos düstren Augenblick mit dem eigenen Ende des letzten Mannes Ende vergewissern wollte." "Wie du zum Tao-Tempel kommst" von K. Satchidanandan beschreibt eine Reise, bei der der Weg das Ziel ist. Der westliche Wanderer schätzt klare Richtungs- und Ortsangaben und einen kräftigen Schritt, die östliche Wanderschaft erfährt sich durch die Negation. "Geh halb im Schlaf, brauche lange, lang, wie die Stille. Umkreise die Gottheit nicht, das Nichts kennt keine Richtung, lass den Fisch in seinem Wasser liegen, nur wer nichts tut, ist zu allem fähig. Geh, das formlose Gottesbild erwartet dich". In Malayalam wie in Sanskrit haben die deutschen Wörter Stille, Nichts, Gottheit, Tao andere Biographien. Dilip Chitre nimmt in Marathi, der Sprache des Dichterheiligen Tukaram, den griechischen Mythos von Narziss auf und erweitert ihn tiefgründig in die indische Illusionslehre der Maya. Scheinbar harmlos gibt sich der Gedichttitel "Der Mond und das Maultier". "Im Glauben es sei Gras weidet das Maultier im Schatten des eigenen Mondlichts." Dann aber verwirren sich die Sinne: "Im Glauben es sei der Mond selbst, bin ich Zeuge des grasenden Mondlichts eines blickgebannten Maultiers". Die Punjabi Dichterin Vanita hält in "Härte" die Steine weder für idolfähig noch für jegliche Gefühle geeignet. Ihre Formulierung "Steine sind Steine" erinnert an Gertrude Stein und ihre Gleichung "a rose is a rose is a rose". Das sollte stutzig machen, raunte doch Rilke schon von der Rose als reinem Widerspruch, "Lust niemandes Schlaf zu sein unter so viel Lidern" und die großen Skulpturen der Tempel von Ellora, Konarak, Malabalipuram und Khajuraho, das kulturelle Gedächtnis Indiens, sollten genügen, um Steine in Indien als jenes Material auszuweisen, in das sich die ganze Menschheit eingravieren lässt. Hart und weich sind letztlich Funktionen der Zeit: "Gutta cavat lapidem" heißt es lateinisch. Als Frau und als Inderin erlebt sich Anipindi Jayaprabha in dem Telugu Gedicht "Blicke". Nicht Goethe's "Warum gabst du uns die tiefen Blicke" sind hier gemeint, sondern unzählige Männerblicke, die "wie weiße Ameisen über den Körper krabbeln" und "Ekel erregen". Sie "stechen ins Schwarze und schlendern frei auf der Haut." Vor ihnen ist "Flucht keine Lösung". Am Ende prophezeit sie "Ein Tag mag kommen, da Frauen in diesem Land Dornen haben, nicht bloß in den Blicken, sondern überall auf dem Leib." In dem Urdu Gedicht "Meine Reise" von Ali Sardar Jafri wird der Lebensweg in der ornamentalen Bilderfülle dieser Sprache beschrieben: wo "der Schmetterling der Sprache für immer die Zungenblüte flieht" und "alle Gesichter knospenblühend, blumenlachend in den Schlaf gebracht werden". Das Leben, ein "rastloser Tropfen, beschäftigt mit Reisen" kann in den letzen Verszeilen sagen: "Ein Spiel bin ich, jahrhundertealt. Der Tod lässt mich ewig leben." Das kann nur in Urdu so stimmig sein.

Das waren nur einige Beispiele aus dieser verdienstvollen Anthologie zeitgenössischer indischer Lyrik für die Leerstellen, die sich zwischen dem Original und der englischen bzw. deutschen Übersetzung notwendig ergeben und die der Leser mit Wissen, Ahnung, Phantasie und Sensibilität füllen muss, damit die sprachliche Wiedergeburt gelingen kann.

Nach den Prolegomena zur Natur von Lyrik und ihrem Verhältnis zum Individuum, einem freien Gang zwischen deutschen und indischen lyrischen Eingebungen, möchte ich noch einmal das Vermitteln zwischen beiden ansprechen: die (Un-)Übersetzbarkeit von Gedichten und dabei Goethe als meinen Kronzeugen anrufen. "Beim Übersetzen" sagte er einmal, "muss man bis ans Unübersetzliche herangehen; alsdann wird man aber erst die fremde Nation und die fremde Sprache gewahr." Und Asok Punnamparambil sei zum Dank das Goethe-Zitat zugeeignet: "Übersetzer sind als geschäftige Kuppler anzusehen, die uns eine halbverschleierte Schöne als höchst liebenswürdig anpreisen: sie erregen eine unwiderstehliche Neigung nach dem Original."

 

Nachtregen. Gegenwartslyrik aus Indien. Herausgegeben von Jose Punnamparambil. Übersetzt von Asok Punnamparambil. ISBN 978-3-937603-41-4, 140 Seiten, 12,80 Euro. Draupadi Verlag, Heidelberg, 2010.

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