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02. März 2010. Rezensionen: Indien - Geschichte & Religion Michael Mann: Sinnvolle Geschichte. Historische Repräsentationen im neuzeitlichen Südasien.

Beinahe mantraartig wiederholt findet sich in der älteren Südasienwissenschaft die Klage, auf dem indischen Subkontinent hätte es keine eigenen historiografischen Traditionen gegeben. In Michael Manns Monografie zur Geschichtsschreibung im neuzeitlichen Südasien werden nicht nur diese und andere Legitimationsversuche kolonialer Wissenschaft und Verwaltung beschrieben sondern auch die in Schulbüchern und Massenmedien vermittelten Geschichtsbilder Indiens und Pakistans hinterfragt.

Schon 1996 fasste Christiane Schnellenbach mit mehr als berechtigter Kritik einige der 'Meilensteine' aus der Geschichte der Südasien-Forschung zusammen, die den vermeintlich fehlenden Sinn für Geschichte unter anderem mit dem Einfluss des Klimas, dem zyklischen Weltbild oder gar dem 'Rassencharakter' der Völker Südasiens zu erklären suchten (Schnellenbach 1996, S. 62-71). Mittlerweile hat sich der theoretische Ansatz in der Geschichtswissenschaft zu Südasien glücklicherweise erheblich geändert. In diesem Zusammenhang ist vor allem der Begriff der Endohistorie (Berkemer 2007) zu nennen.

Michael Mann legt mit seinem Werk 'Sinnvolle Geschichte' erstmals eine deutschsprachige gegenstandsabdeckende Arbeit zu diesem in der Südasienforschung bis hin zur regelrechten Toposbildung wiederholt problematisierten Feld der Historiografie vor. Auch auf internationaler Ebene existiert meines Wissens bislang keine Fachpublikation, die einen vergleichbaren Ansatz zeigt.

Das damit bislang einzigartige Buch ist eine Geschichte der Geschichtsschreibung im neuzeitlichen Südasien. Vor allem der multiperspektivische Ansatz des Autors leistet einen längst überfälligen Beitrag zu Beschreibung, Verständnis und Hinterfragen von historischen Situationen und Prozessen, die in Südasien wie in allen anderen Regionen der Erde gegebenermaßen als transkulturell konstituiert vorfindbar waren und sind. So ist beispielsweise das Durchschauen des eingangs erwähnten Vorwurfs der besonders von der britischen Indienforschung des 18./19. Jh. so vehement betonten angeblichen 'Geschichtslosigkeit' als eines der vielen Legitimationsversuche der Kolonialisierung nicht Gegenstand, sondern einer der Ausgangspunkte der Monografie, die zudem eine herausragend klare und überschaubare Gliederung bietet.

Nach einer kurzen und informativen, perspektiv- und standortbestimmenden Einleitung (Kap. 1) beschäftigt sich der Autor eingehend mit dem Einfluss und den Folgen der kolonialen europäischen Forschungen und Diskurse auf die Geschichtsschreibung Südasiens seit dem 18. Jh. (Kap. 2), um anschließend aus diesem Blickwinkel heraus die Geschichte der Übernahme und Geltendmachung von Ansprüchen auf Deutungshoheit durch die indischen Nationalisierungsbewegungen seit 1860 zu analysieren (Kap. 3). Dies geschieht unter deutlicher Bezugnahme auf die Einflüsse der vorhergehenden Epoche, die ihrerseits klar wahrnehmbar unter dem Diktat westlicher, zunehmend institutionalisierter Kolonialwissenschaften standen. Die seit etwa 1919 zu beobachtenden nationalen, regionalen und partikularistischen Tendenzen in den Repräsentationen der Geschichtsschreibung Südasiens (Kap. 4) formierten sich über verschiedene kommunalistische Festschreibungen und Zuweisungen entsprechender Gruppennarrative, welches sich spätestens seit 1947 in der Formulierung von neuen (Kap. 5), darunter (mindestens) zwei ganz unterschiedlichen Geschichtsnarrativen, repräsentiert durch die pakistanische und die indische Nationalgeschichte (Kap. 5), bis in die Gegenwart hinein nachhaltig manifestiert.

Auch die Geschichte der 'Geschichten' der anderen südasiatischen Nationen wie Bangladesh, Sri Lanka und Nepal oder der 'regionalen Nationalgeschichten' wie die von Orissa und Sindh werden im besprochenen Buch übersichtlich, bestens recherchiert und analytisch eingehend verständlich vorgestellt (Kap. 6). Durch klar arrangierte Zitate und Belege ist zudem volle Nachvollziehbarkeit der Quellen erreicht worden. Stilistisch überzeugt die 'Sinnvolle Geschichte' vor allem wegen in hohem Maß gegebener Allgemeinverständlichkeit. Besonders die jedes Kapitel einführenden Abschnitte ermöglichen auch Einsteigern in das Studium der südasiatischen Geschichte/n, den Ausführungen inhaltlich zu folgen, ohne dass dadurch Experten 'gelangweilt' würden.

Neben den (Massen-)Printmedien werden südasiatische Geschichtsbilder seit Mitte des 20. Jh. wohl am stärksten durch die in den Medien Film und Fernsehen transportierten Inhalte und Botschaften geprägt, die in Kapitel 7 als Quellenfundus herangezogen, übersichtlich vorgestellt und kritisch analysiert werden. So beschäftigt sich Michael Mann im Ausblick mit dem Feld "Medialisierte Geschichte/n" und analysiert neben historischen Repräsentationen in Film- und Fernsehproduktionen auch die explosionsartig wachsende Zahl von Internetangeboten, die, zum großen Teil stark ideologisch eingefärbt, historische Themen präsentieren. Doch auch Repräsentationen von Geschichtsauffassungen in Schulbüchern (textbooks), über die regelmäßig heftigste Debatten entbrennen und welche nicht selten regelrecht zensorisches Eingreifen seitens der Staatsmacht nicht nur zu Zeiten der kolonialen Fremdherrschaft, sondern auch in der Indischen Republik verursachten, werden in Manns Monografie behandelt.

Einige Verwirrungen, die sich durch die (nicht selten unumgängliche) Wahl veralteter Publikationen gerade im Einstiegsstadium ergeben und die sich auch in verschiedenen Beiträgen deutscher Massenmedien zeigen, ließen sich durch die Lektüre von Michael Manns 'Sinnvolle(r) Geschichte' leicht vermeiden. Südasienwissenschaftliche Veröffentlichungen aus verschiedenen Zeiten und Regionen sind nach der Lektüre dieses Werkes nicht nur besser verständlich sondern auch einfacher in ihrem geistesgeschichtlichen und politischen (Um-)Feld einzuordnen. Michael Manns Buch bietet sozusagen eine 'Landkarte zur Beschäftigung mit der Geschichte Südasiens nebst beigefügtem Kompass'.

Durch die im Vergleich zu anderen Disziplinen oft geringe personelle Ausstattung der Disziplinen der Südasienforschung (Geschichte, Kulturwissenschaft, Kunstgeschichte, Philologie u.s.w.) muss in diesen Fächern aber häufig auch mit veralteten Publikationen gearbeitet werden. Zitationen von bis zu mehr als einem Jahrhundert zurückliegenden Veröffentlichungen sind dadurch beispielsweise in aktuellen philologischen, archäologischen oder kunsthistorischen Arbeiten zu Südasien nicht unüblich und durchaus legitim. Bei Verwendung in Zeitschriften-, Film- und Fernsehbeiträgen ohne Hinzuziehen von Südasienwissenschaftlerinnen als beratende Fachleute kann es aber zu bis zur Unverständlichkeit verzerrten Aussagen kommen. Michael Manns 'Sinnvolle Geschichte' liefert Hilfestellungen zum Verständnis und zur Zuordnung solcher Publikationen und damit zur sinnvollen wissenschaftlichen, bildungspolitischen und medialen Verwertbarkeit auch älterer oder in unterschiedlichem Maß ideologisch beeinflusster Veröffentlichungen.

Darüber hinaus unterstützt die Lektüre das Verständnis der hierzulande besonders in der letzen Dekade zunehmend an Popularität gewinnenden Bollywood-Filme. Zu nennen wären hier neben Bollywood-Produktionen wie Ashoka (2001) oder Lagaan (2001), die sich mittlerweile auch in zahlreichen deutschen Videotheken finden, auch die weltweit berühmt gewordene und von der indischen Regierung bezuschusste Hollywoodproduktion 'Gandhi' (1982), der im Auftrag der pakistanischen Regierung der Film 'Jinnah' (1998) entgegengestellt wurde (S. 272 f.; 293-300). Michael Mann konnte zeigen, dass "gezielte Auslassungen" und Verdrängungen zur Unterstützung der Argumentation einer bestimmten ideologischen Anschauung "nicht nur zur Machart eines historischen Films" gehören. Solche Manipulationen "sind auch [...] ein oftmals verschleierter Bestandteil der Geschichtswissenschaften wie der Geschichtsschreibung generell." (S. 298)

Michael Manns 'Sinnvolle Geschichte' ist unentbehrlich, sowohl in den Bücherregalen Studierender und Südasienforscherinnen aller (nicht nur geisteswissenschaftlichen) Disziplinen, als auch ganz allgemein für Südasieninteressierte als Einstiegslektüre. Neben Fachbibliotheken mit Sammelgebieten der Südasienwissenschaften ist es besonders durch den gut verständlichen Schreibstil auch Nichtfach-Bibliotheken wie Stadt- oder Schulbüchereien sehr zu empfehlen. Nicht zuletzt durch die klar gegliederte Übersicht und Analyse der Geschichte der Geschichtsschreibung und damit auch der Südasienforschung in Südasien eignet es sich als angemessene Einstiegslektüre zur Beschäftigung mit den faszinierend vielfältigen Kulturen und (politischen) Geschichten des Subkontinents.

Es bleibt zu wünschen, dass dieses Grundlagenwerk möglichst bald auch in englischer Sprache erscheint, um einem internationalen Leserkreis zugänglich zu sein. Mit Sicherheit wird es einige interessante Diskurse anstoßen - möglicherweise weit über disziplinäre Grenzen hinaus. Wie Michael Mann schon im Vorwort auf Hayden White verweisend betont, sagen Geschichtstexte "oft mehr über die Zeit aus, in der sie niedergeschrieben wurden, als über die Zeit, die sie behandeln." (Vorwort). Auch hierfür liefert die 'Sinnvolle Geschichte' unverzichtbare Schlüssel.

Das Buch:

Michael Mann (2009): Sinnvolle Geschichte. Historische Repräsentationen im neuzeitlichen Südasien. Heidelberg: Draupadi Verlag. 347 S., 24,80 Euro, 39,80 SFr., ISBN 978-3-937603-34-6

Anmerkungen:

Berkemer, Georg: Banausia and Endo-History: European Concepts of Indian Historical Consciousness. (University of Heidelberg, South Asia Institute, Department of South Asian History. Internet publication series on South Asian history; No. 3) Heidelberg 2007, URN: urn:nbn:de:bsz:16-savifadok-417
URL: http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/savifadok/volltexte/2007/41/.

Schnellenbach, Christiane: Geschichte als "Gegengeschichte"? : Historiographie in Kalhaṇas Rājataraṅgiṇī. (4 Mikrofiches.) Marburg : Tectum-Verl., 1996 (Edition Wissenschaft : Reihe Orientalistik ; 3) Zugl.: Kiel, Univ., Diss., 1995.

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