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Viel zu selten rücken die langfristigen Folgen der Industrialisierung jenseits der medialen Tagesaktualität in den Blickpunkt. Genau dies versucht aber der von der Adivasi-Koordination in Deutschland e.V. herausgegebene Band "Rourkela und die Folgen", der die Auswirkungen des in den 1950er Jahren aufgebauten Stahlwerkes Rourkela thematisiert, für das mehr als 20.000 Menschen umgesiedelt wurden. Genaue Zahlen über die Landenteignungen fehlen bis heute, was an sich schon ein Skandal darstellt. Die Hütte Rourkela, zusammen mit weiteren Großprojekten wie dem Hirakud-Stausee in Sambalpur oder dem Stahlwerk in Bhilai Teil der Nehru'schen Vision eines modernen sozialistischen Indiens, wurde dabei nicht nur durch deutsche Entwicklungshilfegelder finanziert, sondern auch mit Hilfe deutscher Fachkräfte errichtet und Anfang der 90er Jahre, wiederum mit deutschen Krediten, umfangreich modernisiert. Unter diesen Vorzeichen lenken die Herausgeber den Blick auch auf die deutsche Verantwortung – oder zumindest Mitverantwortung – innerhalb der deutsch-indischen Entwicklungszusammenarbeit.
Dementsprechend gliedert sich der Sammelband als Ergebnis einer Konferenz zum selben Thema in drei Teile: erstens die "deutschen Ansichten", zweitens die "indischen Ansichten" und drittens eine reiche Materialsammlung ausgewählter Dokumente der letzten 50 Jahre, welche ca. die Hälfte des gesamten Buches ausmacht. Den Reigen deutscher Perspektiven eröffnen die eher offiziellen Sichtweisen des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) und der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW). Hierin wird das Projekt überwiegend als Erfolg gewertet; auch wenn zugestanden wird, dass man aufgrund der Arbeit die "entwicklungspolitischen Leitlinien" weiterentwickelte und zumindest im Zuge der späteren Modernisierung des Stahlwerkes einen so genannten "Peripheral Development Fund" einrichtete, um die Lebensbedingungen der Bevölkerung um das Werk herum zu verbessern. Dass die sozialen Folgen für die einheimische Bevölkerung, mehrheitlich Adivasi, durchaus Ende der 50er Jahre absehbar waren, zeigen die lesenswerten Beiträge von Jan Bodo Sperling im Band. Als Sozialwissenschaftler von 1958-62 Leiter des German Social Centre in Rourkela, kommt er u.a. zu dem Fazit, dass die indische Regierung und die entsprechenden Behörden "wenig oder fast nichts getan [haben], um die ortsansässige Bevölkerung wirkungsvoll zu unterstützen, mit den Auswirkungen von Zwangsumsiedlung und drastischer Umweltveränderung fertig zu werden" (S. 41). Kompensationszahlungen, falls sie denn überhaupt erfolgt seien (oder erfolgen werden), müssten laut Sperling, erfolglos bleiben solange flankierende mittel- und langfristige Unterstützungsmaßnahmen bezüglich der Bildung, der sozialen Netzwerke etc. fehlten.
Innerhalb der "indischen Ansichten" fehlt ein autorisierter Beitrag der Rourkela Steel Plant (RSP). Das Unternehmen sah sich offenbar außer Stande den Einladungen der Herausgeber zur Konferenz als auch zur Veröffentlichung (im vorliegenden Band) nachzukommen. Dennoch kann der Beitrag von Sanak Mishra, ehemaliger Leitender Direktor des Werkes als semi-offizielles Statement verstanden werden, da er von der RSP vervielfältigt und zirkuliert wurde. In dieser Perspektive wird Rourkela als "leuchtendes Beispiel für die deutsch-indische Freundschaft und Zusammenarbeit" gefeiert. Bei allen beachtenswerten Erfolgen dieses "Tempels des modernen Indiens" mit immer neuen Produktionsrekorden taucht in dieser Sicht, wie die Herausgeber zu Recht kritisieren, die Adivasi-Bevölkerung nicht auf; auch wenn Mishra auf Projekte zur medizinischen Versorgung, zur Bildung und auf andere soziale Maßnahmen in Zusammenarbeit mit der KfW sowie auf Maßnahmen zur Aufforstung und weiteren Verbesserung der Umweltbedingungen verweist.
Diese Darstellung steht dabei im Gegensatz zur Wahrnehmung der übrigen indischen Autoren – u.a. einem Aktivist, einem Betroffenen sowie einem Sozialwissenschaftler. So schildert der Anwalt und Menschenrechtler Celestine Xaxa detailliert und kenntnisreich die im Bezug zum Projekt nach wie vor ungelösten rechtlichen Fragen. Dazu gehört etwa die Frage des enteigneten, aber letztlich für das Stahlwerk dennoch nicht benötigten Landes: wertvolles Land, welches die Stahlbehörde für sich gewinnbringend verpachtete anstatt es zurückzugeben. Er belegt auch, welche Umsiedlungsdörfer bis heute kaum von den in den 90er Jahren aufgelegten Umlandentwicklungsprogrammen profitierten, ganz zu schweigen von angemessenen Entschädigungen.
"Die Zerstörung der Adivasi-Kultur im industriellen Zeitalter" ist das Thema des Beitrages von Nabor Soreng, der den Verlust der Gemeinschaftsorientierung und des egalitären Charakters der Stammesgesellschaft beklagt. Seine Darstellung der "traditionellen Besonderheiten der Adivasi" (S. 77) im vorindustriellen Zeitalter, wozu er unter anderem "Einfachheit" und "Aufrichtigkeit" zählt, läuft Gefahr in einer zwar nachvollziehbaren, nichtsdestotrotz irreführenden Idealisierung der Adivasi zu münden. Ein goldenes, vorindustrielles Zeitalter mit geradezu "edlen Wilden" wird einem Szenario gegenübergestellt, in dem Adivasi am Rande der Industriesiedlungen "...einige Charakterzüge annehmen, die sie traditionell nicht besaßen. Sie sind zunehmend individualistisch orientiert, sie sind auf ihren Vorteil bedacht und gebrauchen dafür unfaire Methoden. Viele haben die Einfachheit, Wahrhaftigkeit, Direktheit und Friedfertigkeit verloren, und sie haben ihr ursprüngliches, moralisches Bewusstsein verkümmern lassen." (S. 86), argumentiert Soreng.
Zusätzlich berichtet Suchita Bilung von der plötzlichen Zwangsumsiedlung auch ihrer Familie; von den Schwierigkeiten der Kompensation, da vielfach Waldland zwar bewirtschaftet wurde, aber nicht als Eigentumsland galt; von den Problemen der Heiraten, da soziale Netzwerke auseinander gerissen wurden und von der zerstörten Beziehung zu den Ahnen. "[K]ein Fremder wird jemals verstehen, wie schmerzvoll das war" (S. 93), schreibt Bilung. Shanti Sawaiyan verweist in ihrem Artikel insbesondere auf die Auswirkungen auf Frauen, die im Gegensatz zu Männern keine Entschädigungsleistungen erhielten – weder Geld noch Jobs – was einen Verlust an Ansehen als auch an Kontrolle über Ressourcen in den Familien bedeute.
Abgerundet durch die umfangreiche Dokumentensammlung, durch Karten- und Bildmaterial sowie eine Auswahlbibliographie stellt der Sammelband damit einen wichtigen Schritt hin zu einer Langzeitperspektive auf Industrieprojekte in Indien dar. Trotz gelegentlicher Romantisierungen der Adivasi, die zudem oft als eher homogene Gruppe in Bezug auf das Stahlwerk präsentiert werden – detailliertere ethnographische Studien wären hier wünschenswert – hilft das Buch auch zum Verständnis der Beziehungen zwischen Adivasi und Staat. Letzterer, auch wenn er im Namen des Fortschritts und der Entwicklung der unabhängigen Nation agiert, setzt dennoch in gewisser Weise koloniale und vorkoloniale Muster des Staates als von außen kommende potentielle Bedrohung fort. Gleichzeitig trägt er durch Entwicklungsprojekte und damit verbundene Landenteignungen bzw. Prozesse der Marginalisierung zu einer Ausprägung und Verstärkung einer gemeinsamen Identität als Adivasi bei. Es ist eines der großen Verdienste des Bandes, dass am Beispiel Rourkelas zudem gezeigt wird, inwiefern auch die eigenen, spezifisch deutschen Beiträge und Interessen in diese Prozesse verwoben sind.
Adivasi-Koordination in Deutschland e.V. (2007): Rourkela und die Folgen. 50 Jahre industrieller Aufbau und soziale Verantwortung in der deutsch-indischen Zusammenarbeit, Heidelberg: Draupadi Verlag, 199 Seiten, ISBN: 978-3-937603-22-3.
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