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Die Diskussion über die Frage, was der Hinduismus sei, ob er angesichts seiner vielfältigen Erscheinungs- und Organisationsformen überhaupt als eine Religion bezeichnet werden könne, beschäftigt viele engagierte Wissenschaftler auf den unterschiedlichsten Untersuchungsebenen. Selten genug kommen sie jedoch zusammen, um mittels ihrer spezifischen philologischen, ethnologischen oder historisch-politologischen Herangehensweise zur Beantwortung einer übergreifenden Fragestellung beizutragen und so die Ergebnisse ihrer Textanalysen oder Feldforschungen miteinander in Beziehung zu setzen. Insofern stellt der von Katja Eichner und Michael Schied herausgegebene Band "Hinduismus - eine nicht organisierte Religion?" eine Besonderheit mit Vorbildcharakter dar. Drei für die Diskussion dieser Titelfrage relevante Themenbereiche wurden für diesen Band ausgewählt, nämlich der des Tempelkultes, der Askese sowie der Politik. Sie abschließend zu beantworten, ist jedoch nicht das Ziel der Herausgeber, vielmehr lädt dieses Buch dazu ein, weitere Fragen an den Hinduismus zu stellen und sie in der Diskussion zu vertiefen.
Zunächst liefert Lidia Guzy in ihrem einführenden Beitrag eine kompakte Darstellung der religionsgeschichtlich relevanten Epochen, vom Zeitalter des sog. orthodoxen Hinduismus bzw. Brahmanismus (ca. 750-500 v.u.Z.) bis in die Gegenwart, und gibt darin zugleich einen sehr guten Überblick über die weiterführende Literatur. Die drei daran anschließenden Beiträge widmen sich dem ersten Themenbereich des Tempelkultes bzw. der rituellen Orte im Hinduismus. Um auf der Ebene der religiösen Praxis zu Aussagen über die Organisationsstrukturen des Hinduismus zu gelangen, untersucht Katja Eichner verschiedene Phänomene rund um das Thema Tempel, von der Funktion seines Besuchs bis hin zu Fragen der Verwaltung. Ein grundlegendes Unterscheidungsmerkmal im Vergleich zum Christentum sieht die Autorin darin, dass der Tempelbesuch im Hinduismus in der Regel nicht der Gemeinschaftserfahrung diene. Es ist jedoch fraglich, ob dies so auch auf die rituellen Orte außerhalb Indiens zutrifft. Denn durch die Migration ist der Hinduismus auch zu einer "globalen" Religion geworden und gerade in der Situation der "Diaspora" kommt den Tempeln häufig eine neue Schlüsselfunktion im Sinne der Gemeinschaftserfahrung zu, wie etwa Yetgin und Amend am Beispiel eines tamilischen Hindu-Tempels in Frankfurt am Main gezeigt haben.[2]
Auf die häufigsten, vielfach sogar einzigen Ritualhandlungen, die die sog. religiösen Laien während ihres Tempelbesuchs ausführen, darshana und puja, geht Xenia Zeiler in ihrem Beitrag ein. Während das "Schauen der Gottheit" (darshan) nur im Tempel möglich ist, kann die hinduistische puja (Ehrerbietung) in jeder "rituell gereinigten" Umgebung, also auch im Wohnhaus durchgeführt werden.
Die vier heiligen Orte im Himalaya, Badrinath, Kedarnath, Gangotri und Yamunotri stehen im Zentrum des Beitrags von Hiltrud Rüstau. Auf sehr anschauliche Weise behandelt sie darin Aspekte der Wallfahrt im Zeitalter des marketinggestützten religiösen Tourismus. Darüber hinaus beschreibt Rüstau die Rekrutierung, soziale Zusammensetzung und Aufgaben des sakralen Personals der Pilgerzentren (besonders Badrinath). Während sie bei der Struktur der priesterlichen Organisation wie auch der rituellen Handlungen keine gravierenden Unterschiede ausmachen kann, stellt sie diese durchaus im Hinblick auf Verwaltung der Tempel fest. So sind Badrinath und Kedarnath direkt mit den politischen Strukturen des Bundesstaates Uttaranchal verbunden, während sich die Verwaltung Gangotris in "privater Hand" zu befinden scheint (über Yamunotri scheint wenig bekannt zu sein scheint).
Dass auch Askesekonzeptionen Aufschluss über die Frage nach der "Organisation des Hinduismus" geben, zeigt Lidia Guzy in ihrem zweiten Beitrag. Neben der "klassischen" Vorstellung eines idealtypischen brahmanischen Lebensmodells, wonach die Askese Brahmanen vorbehalten und nur im Alter (der vierten Lebensstufe des samnyasin) zugänglich ist, zeigt sie auch ältere und neuere Formen der Askese auf, durch die sich das Ideal bzw. Monopol der Brahmanen aufzulösen begann und die festgelegte Chronologie der Lebensstufen an Bedeutung verlor.
Inwieweit der moderne Begriff des Hinduismus gerade im Bereich des Politischen konstituiert wurde, erörtert Michael Schied in seinem Beitrag zur "Strukturbildung im Hinduismus". Er stellt darin den langen Prozess von der Festlegung ausschließlich religiöser Kategorien zur Erfassung der kolonisierten indischen Bevölkerung, über die Rechtsprechung aufgrund religiös begründeter Familien- und Stiftungsrechte bis hin zur politischen Mobilisierung auf Grundlage der Religionszugehörigkeit dar. Dabei wird deutlich, wie stark die staatliche Verwaltung, Jurisdiktion und die Politik auf das Verständnis und die Strukturen des Hinduismus eingewirkt haben und weiterhin einwirken.
Konkret auf das moderne Phänomen des politischen Hinduismus bezieht sich Clemens Six in seinem Beitrag. Einem Abriss der ideologischen Grundlagen des Hinduismus folgt die Untersuchung der Frage, inwieweit in der Regierungsperiode 1998 bis 2004 infolge der Regierungsbeteiligung der Indischen Volkspartei (Bharatiya Janata Party, BJP) - und damit zugleich auch indirekt der hindu-nationalistischen Organisationen Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS, deutsch: Nationale Freiwilligenorganisation) und Vishva Hindu Parishad (VHP, deutsch: Welt-Hindu-Rat) - hindu-nationalistische Konzepte in der Verfassung und anderen gesellschaftspolitischen Bereichen wie der Bildung durchgesetzt werden konnten. Vor allem im Bildungswesen stellt Six eine nachhaltige Durchdringung mit hindu-nationalistischen Inhalten und Anschauungen fest, deren Demokratie gefährdende Tendenzen sich auch über 2004 hinaus negativ auf die politische Wirklichkeit Indiens auswirken.
Der achte und letzte Beitrag von Sophia Bech befasst sich schließlich mit dem sogenannten Welt-Hindu-Rat (VHP) und seinem Versuch, den Hinduismus nach seinen ideologischen Grundsätzen zu organisieren, und zwar sowohl inner- wie auch außerhalb Indiens. Dass die antipluralistischen und chauvinistischen Tendenzen der VHP außerhalb Indiens oftmals unterschätzt und die Organisation selbst als politisch neutral wahrgenommen wird, führt Bech auf eine Doppelstrategie zurück. Anders als in Indien kooperiert die VHP demnach im Ausland mit anderen Religionsgemeinschaften und strebt in bestimmten Bereichen eine Zusammenarbeit mit diesen an.
Die Herausgeber dieses ersten Bandes sowie der Reihe "Kulturen Asiens" wenden sich erklärtermaßen nicht nur an "Kenner und Fachleute", sondern auch an "Laien", die das erste Mal mit der Region Südasien in Berührung kommen. Während hinsichtlich der zuletzt genannten an einigen Stellen des Buches vielleicht etwas zu viel Vor- und Spezialwissen vorausgesetzt wird, erhalten erstere mit diesem Band einen lesenswerten Ein- und Überblick über sehr relevante Fragen und Probleme, die die Diskussion über den Hinduismus mit bestimmen.
[1] S.N. Balagangadhara: What can India offer?, in: Outlook (India), 16.07.2007.
[2] Michael Amend/Mercan Yetgin (2006): Heimat in der Fremde. Der tamilische Sri Nagapooshini Amman Tempel in Frankfurt/M., in: Brosius, Christiane/Goel, Urmila (Hg.): Masala.de, Menschen aus Südasien in Deutschland, Heidelberg: Draupadi. Vgl. zur Transformation der Tempelnutzung in der Diaspora auch Steven Vertovec (2000): The Hindu Diaspora. Comparative Patterns, London: Routledge.
Eichner, Katja/Schied, Michael (Hg.): Hinduismus - eine nicht organisierte Religion? Analysen und Kontroversen, Berlin: trafo, 145 S., ISBN (10) 3-89626-584-9, ISBN (13) 978-3-89626-584-5, 17,80 EUR
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