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08. Januar 2007. Rezensionen: Kunst & Kultur - Indien Namita Gokhale: Großmutters Tempel

Der Roman "Großmutters Tempel" handelt vom Aufstieg eines Hindu-Tempelkomplexes in einem Delhier Slum zu Zeiten der Janata Dal-Regierung (Ende 1980er/Anfang 1990er Jahre). Ungeachtet der fiktiven und teilweise an den magischen Realismus erinnernden Elemente spiegelt die beschriebene Entwicklung des Tempellebens dennoch viele Facetten der jüngeren indischen Geschichte wider, von der raschen Urbanisierung, anhaltend starken Binnenmigration aus den ärmeren Regionen Indiens bis hin zum religiösen Eklektizismus, der beispielhaft für die Entwurzelung und Neuerschaffung sozialer Identitäten in der Großstadt steht - nicht selten unter dem Einfluss medialer Glücksverheißungen sowie der allgegenwärtigen Hindi-Filme.

Man muss sicher nicht so weit gehen wie einige Wirtschaftsexperten, die in den Slums inzwischen sogar "Zukunftsmärkte" und in ihren Bewohnern "Konsumenten" entdeckt haben, um zu erkennen, dass sich die Träume und Hoffnungen der Menschen dort auch auf ein besseres Leben, eine gute Ausbildung für ihre Kinder, Gesundheit, Mobilität und sogar auf so etwas wie "Lifestyle" richten können. Insofern unterstreicht die neu erschienene Übersetzung dieses bereits 1994 im Original erschienenen Romans die aktuelle Diskussion über eine neue Sicht auf Slums als Bestandteil der globalen Urbanisierung. Gefordert wird diese für Südasien beispielsweise von dem pakistanischen Architekten Arif Hasan sowie der indischen NGO-Aktivistin Sheela Patel. Sie betrachtet Slums in erster Linie als zweckgerichtete Selbsthilfemaßnahmen der Menschen, die (noch) keine Chance auf einen bezahlbaren privaten oder staatlich subventionierten Wohnraum haben. 1

Mit feinem Humor und großer Wärme für sein Personal schildert "Großmutters Tempel" die zentrale Rolle der Frauen in diesem Prozess, denn sie sind diejenigen, die die Um- und Ansiedlung organisieren, wirtschaftliche Nischen ausmachen, wo sie kaum zu vermuten wären, ihren mühsam errichteten Wohnraum gegen die Übergriffe der Stadtverwaltung und illegale Geldforderungen der Slumlords verteidigen - vor allem aber geben sie niemals ihren Lebenswillen auf. Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive der heranwachsenden Enkelin Gudiya (was eigentlich nicht einmal ein Vorname ist, sondern "Puppe, Marionette" bedeutet) deren Großmutter, "Ammi" genannt, die zentrale Figur des neu entstehenden Heiligenkultes ist.
Eigentlich stammen Ammi, Gudiya und ihre herumstreunende Mutter aus den Überbleibseln einer anderen Epoche und Welt, die Nordindien dem Einfluss der Mogul-Kultur zu verdanken hat. Bevor widrige Umstände sie zur plötzlichen Flucht zwangen, lebten die drei Frauen in einem tatsächlich oder durch die Erinnerung überhöhten, prächtigen Haveli. In der Tradition der kultivierten Kurtisanen stehend, wurde Ammi seinerzeit nicht nur für ihre Schönheit, sondern auch für ihre glasklare Stimme und musikalischen Darbietungen gerühmt, mit denen sie ihre männlichen Gäste unterhielt. Ob daraus auch zu schließen ist, dass sie einer "wohlhabenden muslimischen Familie" entstammt, mag zutreffen, kann aber ebenso Teil einer erfundenen Genealogie sein wie die spätere Behauptung der Großmutter, eine brahmanische Witwe zu sein. Schließlich gibt sie ihrer strikt areligiösen Enkelin gegenüber einmal ihre ganz eigene Interpretation der "religiösen Moden" zum Besten:

"Arre Gudiya, diese Religionen, wie soll ich es dir erklären, sie sind eine Art Mode. Es gibt den Bombay-Schnitt, den Kalkutta-Stil, die London-Richtung. Und in den alten havelis waren die Mogul-Schönheiten aus Persien, aus Samarkand, Mode. Und weil meine Mutter eine modebewusste Dame war, stellte sie sich auf Burkas um. Hier, jetzt, unter diesem Pipal-Baum, ist das vielleicht besser. Im Ausland, in England und Amerika, ist Christus Mode, deshalb tragen die phirangi Frauen Röcke und sogar Hosen. Mach dir um all das keine Sorgen, sonst fällt dein Haar aus wie bei deiner Mutter (S. 20)."

Daran, dass permanente Veränderungen und Widersprüche die Hauptkonstante in ihrem Leben darstellen, gewöhnt sich Gudiya schnell und wird zu einer wachen, klugen Beobachterin der Entwicklungen um sie herum, allen voran der Verehrung ihrer Großmutter als weise Brahmanin und bald auch als Heilige, der wundertätige Fähigkeiten zugeschrieben werden, sowie dem regen Geschäftstreiben rund um den Tempelkomplex, an dessen wachsenden Einkünften immer mehr Menschen partizipieren möchten. Die Anziehungskraft des Tempels wie auch der Ruf von Ammis Fähigkeiten reichen bald über die geografischen und sozialen Grenzen des Slums hinaus, gelegentlich wird er sogar von wohlhabenden Personen aus den besseren Gegenden Delhis aufgesucht. Trotz ihrer erfundenen Herkunft und unvermeidlichen Improvisationen über religiöse Fragen, erscheint die geschäftstüchtige Großmutter niemals als Betrügerin und sie erfüllt auch bei Weitem nicht nur das, was ihre Anhänger in ihr sehen wollen. Vielmehr entwickelt sie eine echte, wenngleich nicht dem orthodoxen brahmanischen Wissen entsprechende Spiritualität und zieht sich immer häufiger, irgendwann sogar über den Großteil der Woche in ihre Meditationen zurück. Anders als für die Schar der Anhänger, ist diese Wandlung der Großmutter für Gudiya eine äußerst schmerzhafte Erfahrung, denn nachdem die Mutter sie schon verlassen hatte, fühlt sie sich nun auch von ihrer Ammi vernachlässigt. Als die Großmutter eines Tages stirbt, nimmt diese Einsamkeit und Desorientierung noch weiter zu. Erneut wird sie ihrer vertrauten Umgebung, dem Tempelgelände, entrissen, da dort nun eine nachgeholte, partielle "Brahmanisierung" in Gestalt eines Brahmanen erfolgt, der sich anschickt, die Leitung des Tempels und die systematische "Verwaltung" des spirituellen Erbes seiner Gründerin auszuführen.

Auch wenn Gudiya eines Tages beschließt, sich eine neue Herkunftsgeschichte zu erfinden, mit der sie die engen Grenzen ihrer Biografie und gegenwärtigen Situation zu überwinden hofft, und sich sogar einen neuen Namen zulegt, weiß sie nicht, wo ihr Platz ist und was ihre individuelle Identität ausmacht. Zu wenige Identifikationsmöglichkeiten bieten die Religiosität der Großmutter oder die Vorstellungen anderer Frauen, die um ihre Gunst wetteifern und sie in ihrer Entwicklung zu beeinflussen versuchen. An die konstante Abwesenheit des "männlichen Prinzips" hat sie sich bereits früh gewöhnt, so dass sie auch in Bezug auf ihre leidenschaftliche und dennoch glücklose Liebe zu einem jungen Musiker bald jede Hoffnung aufgibt. Die Passivität Gudiyas und Unfähigkeit, ihre klugen Reflexionen in eigenverantwortliche Handlungen zu übersetzen, stellen den einzigen Wermutstropfen in diesem ansonsten so lesenswerten Roman dar. Denn am Ende stellt sich die Frage, wie es sein kann, dass sie trotz ihrer vielfältigen Erfahrungen, regen Vorstellungskraft und gewonnenen Erkenntnisse über die Menschen keine Vision für ihr eigenes Leben, keine Selbständigkeit entwickeln kann. Bleibt einzig der tröstliche Ausblick, dass sie ihre schmerzhaften Erfahrungen eines Tages mit "einem Schleier von fantasievoller Dichtung und Geheimnis zu schmücken" fähig sein wird.

Sehr erfreulich ist die Qualität der Übersetzung von Annemarie Hafner. Scheinbar mühelos ist es ihr gelungen, den Sprachwitz und Rhythmus, aber auch die melancholischen Töne des Originals ins Deutsche zu übertragen. Dabei vermittelt sie zugleich ein Gespür für die Eigenart und Eigenständigkeit des indischen Englisch als Literatursprache. Ein sorgfältig zusammengestelltes Glossar hilft beim Verständnis der im Text beibehaltenen Hindi-Redewendungen und unterstützt seine Lebendigkeit.

"Großmutters Tempel" empfiehlt sich sowohl für "Neueinsteiger" als auch all jene, die ihre Begeisterung für die zeitgenössische indische Literatur noch weit über die zurückliegende Frankfurter Buchmesse hinaus am Leben erhalten möchten.


Zur Autorin

Namita Gokhale wurde 1956 in Lucknow geboren und wuchs in Nainital und Delhi auf. Ihre Identität und Sicht auf das Leben sieht sie maßgeblich durch ihre Herkunft aus der Himalaya-Region Kumaon geprägt. Unter anderem arbeitete sie als Filmjournalistin und gab Ende der 1970er Jahre zusammen mit ihrem verstorbenen Mann, Rajiv Gokhale, das Filmmagazin Super heraus. Ihr erster Roman Paro: Dreams of passion (1984 veröffentlicht) verursachte durch seine expliziten sexuellen Darstellungen einen Skandal in Indien. Die weibliche Sexualität aus der Sicht einer Heranwachsenden spielt auch in ihrem 1994 veröffentlichten Roman Gods, Graves and Grandmother eine, wenngleich untergeordnete Rolle. Eine Bühnenadaption des Romans wurde 2005 mit großem Erfolg in Delhi aufgeführt. Gokhales breit gefächertes literarisches Werk umfasst daneben auch einen Band mit essayistischen Studien zum Hindu-Gott Shiva (The Book of Shiva, 2001) sowie eine Sammlung mündlich überlieferter Porträts von älteren Frauen aus Kumaon (Mountain Echoes, 1998). 2007 wird in englischer Sprache ihre Neuerzählung des altindischen Epos Mahabharata für junge Leser erscheinen. Publizistisch ist Gokhale 2000 im Rahmen der Kontroverse über eine Anti-AIDS-Kampagne im Bundesstaat Uttaranchal (umfasst die Bergregionen Kumaon und Garhwal) in Erscheinung getreten.

Namita Gokhale: Großmutters Tempel
Aus dem Englischen übertragen und mit einem Glossar versehen von Annemarie Hafner
Lotos-Verlag Roland Beer, Berlin 2006
Reihe: Bibliothek indischer Erzähler, Band 3
ISBN 3-86176-014-2
17,80 EURO

[ 1 ] "Slums haben einen Zweck", Interview mit Sheela Patel, Gründerin der NGO Society for the Promotion of Area Resource Centers (SPARC) in Mumbai, in: Kulturaustausch. Zeitschrift für internationale Perspektiven. Themenausgabe zur "Zukunft der Stadt", hg. vom Institut für Auslandsbeziehungen, Nr. 3, 2006, S. 60-61.

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