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Der frühere Vorsitzende der britischen Sektion von Amnesty International, Andy McEntee, verlangte vor der Presse in Berlin eine möglichst schnelle Untersuchung der Massengräber in der nordafghanischen Wüste bei Dasht-i Leili, weil die Gefahr einer Beseitigung der Beweise bestünde. Der PDS-Europaabgeordnete André Brie und der PDS-Fraktionsvorsitzende Roland Claus forderten gleichfalls die Einsetzung einer unabhängigen Untersuchungskommission zu den Mazar-Massakern. Laut Brie zeigten die Zeugenbefragungen, "dass sich die USA in Afghanistan schwerster Menschenrechtsverletzungen schuldig machten". Für die Bundesregierung sei es an der Zeit, ihre Politik der "uneingeschränkten Solidarität" mit den USA aufzugeben.
Dieser Dokumentarfilm von Jamie Doran wird Schlagzeilen machen. Mehrere Afghanen bezeugen vor der Kamera, dass USA-Spezialeinheiten nach der Einnahme von Kunduz an der Folterung und Ermordung von über 3000 Gefangenen beteiligt waren. Alle Zeugen, so Doran, seien bereit, vor einem internationalen Gericht darüber auszusagen.
Die Geschehnisse, über die der gestern in Berlin uraufgeführte 19-Minuten-Film "Massaker in Mazar" berichtet, begannen am 25. November vorigen Jahres in der umkämpften nordafghanischen Stadt Kunduz. Nachdem sich dort etwa 8000 der mehrere Tage lang eingeschlossenen Bewaffneten der Taleban und Al-Qaida-Trupps verschiedener Nationalität ergeben hatten, wurden über 400 von ihnen als besonders Verdächtige in die Festung Qaala-i Janghi am Rande der nordafghanischen Metropole Mazar-i Sharif gebracht. Die anderen sind in das Gefängnis von Sheberghan verfrachtet worden. Die 400 Al-Qaida-Leute wurden bei einem Aufstandsversuch in der Festung durch massive Bombenangriffe der USA-Luftwaffe getötet oder von Nordallianz-Kämpfern erschossen. Nur einige von ihnen wie der USA-Taleban John Walker blieben unversehrt. Bereits unmittelbar nach dem Massaker hatte Amnesty International eine Untersuchung gefordert – bis heute vergeblich.
Während die Vorgänge in der Festung Qaala-i Jhangi vom Internationalen Roten Kreuz beobachtet und von der Öffentlichkeit wahrgenommen wurden, war das bei der Verfrachtung der 7500 anderen Kunduz-Gefangenen nicht der Fall. Bis zu 150 von ihnen wurden, so die im Film wiedergegebenen Aussagen mehrerer Fahrer, jeweils in geschlossene Stahlcontainer gepfercht. Mehrere Gefangene seien bereits auf dem Transport gestorben, andere nach Folterungen im Verlies von Sheberghan, laut Filmemacher Jamie Doran höchstens für 1000 Insassen ausgelegt.
Über die Vorgänge in Sheberghan dokumentiert der Film zahlreiche erschütternde Aussagen, darunter diese: "Ich habe gesehen, wie ein amerikanischer Soldat einem Gefangenen das Genick gebrochen und einen anderen mit Säure übergossen hat", so einer der Augenzeugen. Ein anderer beschreibt, wie Inhaftierten Finger und Zunge abgeschnitten wurden. Im Laufe von etwa 10 bis 14 Tagen, so der irische Dokumentarist, wurden über 3000 jener rund 7500 Gefangenen in der Wüste von Dasht-i Leili verscharrt – viele von ihnen seien laut Zeugenaussagen dort erschossen worden. Einer der Augenzeugen gibt an, bei einer der Exekutionen seien 30 bis 40 USA-Soldaten dabei gewesen.
Nach Ansicht von Jamie Doran – er hat sieben Jahre für BBC-Television gearbeitet und danach als unabhängiger Filmproduzent Filme in fast allen großen TV-Stationen der Welt platziert – tragen die USA-Einheiten, die rund um Mazar-i Sharif im Einsatz waren, eine gehörige Portion Verantwortung für die Geschehnisse. Er selbst habe während der drei Drehperioden ab Ende November mehrere Verbände von USA-Soldaten in der Mazar-Region beobachtet. Gewiss hatte das Gefängnis Sheberghan einen afghanischen Kommandanten, aber gewöhnlich hätten die US-Special Forces dort, wo sie im Einsatz waren, das Kommando übernommen. Weithin unklar bleibt allerdings die Rolle des regionalen usbekischen Warlords Dostum in dem Geschehen.
Für den britischen Menschenrechtsanwalt Andrew McEntee, der den Film mit einem Kommentar begleitet, handelt es sich hier um schwere Kriegsverbrechen, die sowohl gegen das Völkerrecht als auch gegen USA-Recht verstoßen. Ehe die Beweise in der Wüste von Dasht-i Leili beseitigt würden, sollten die Vorgänge möglichst schnell von einer unabhängigen Expertengruppe untersucht werden.
Diese Forderung unterstützte auch der PDS-Europaabgeordnete André Brie, der seit längerer Zeit mit Doran in Kontakt steht und sich ursprünglich dem Filmteam anschließen wollte. Auf die ND-Frage, inwieweit derartige Geschehnisse vor den eben errichteten Internationalen Strafgerichtshof gehörten, sagte Brie, gerade die USA verweigerten diesem Gerichtshof ihre Anerkennung, ja der USA-Senat hätte soeben beschlossen, USA-Bürger – sollten sie vor ein internationales Gericht gestellt werden – auch mit militärischer Gewalt zu befreien. McEntee glaubt, dass die Vorgänge von Mazar, zumal der Internationale Gerichtshof nur solche Verbrechen ahnden kann, die nach dem 1. Juli dieses Jahres stattfinden, in erster Linie vor ein USA-Gericht gehörten. Nachdem Doran den Film gestern Abend auch im Europaparlament vorstellte, soll er auch in den USA gezeigt werden.
Eine Beteiligung von Spezialkriegern aus Großbritannien, Frankreich oder Deutschland an den Kriegsverbrechen rund um Mazar schloss Doran aus – was allerdings den außenpolitischen Sprecher der PDS-Fraktion Wolfgang Gehrcke wenig beruhigte. Ihn trieb die Frage um, warum die deutsche Öffentlichkeit über den Einsatz der KSK-Soldaten in Afghanistan – ihr Mandat beinhaltet die Unterbrechung von Flucht- und Versorgungswegen der Al Qaida sowie "Zugriff", also Gefangenenahme – nichts erfahre.
Quelle: Dieser Artikel erschien am 13. Juni 2002 in der Tageszeitung "Neues Deutschland".
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