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30. November 2002. Nachrichten: Politik & Recht - Pakistan Neuer Regierungschef - alte Politik?

Mit der Wahl Mir Zafrullah Khan Jamalis zum Premierminister durch das pakistanische Parlament am 21. November 2002 ist trotz hauchdünner Mehrheitsverhältnisse das wochenlange Feilschen um die Macht vorläufig beendet. Damit steht nach drei Jahren und vierzig Tagen erstmals wieder ein demokratisch gewählter Regierungschef des 140-Millionen-Volkes fest. Seine zukünftigen Aufgaben scheinen enorm. Das Militär behält allerdings weiterhin einen entscheidenden Einfluss. Eine Woche nach seiner Wahl hatte Jamali seine parlamentarische Mehrheit bereits schon wieder eingebüsst.

Die Wahl des 58-jährigen Mir Zafrullah Khan Jamali ist aus mehreren Gründen historisch. Zum einen ist er der erste pakistanische Premier aus Baluchistan, jener kargen südwestlichen Region mit der geringsten Bevölkerung aller Provinzen. Zum anderen musste sich in der Geschichte des pakistanischen Parlaments noch kein Regierungschef mit einer so knappen Mehrheit – nur eine Stimme über der notwendigen 50-Prozent-Hürde - begnügen. Jamali als Kandidat der regimefreundlichen Pakistan Muslim League Quaid-i-Azam (PML-Q) erhielt die Stimmen von 172 der 329 anwesenden Parlamentarier; dreizehn Mandatsträger fehlten.

General Musharraf verfügt über genügend Macht, um gegebenenfalls Regierung und Parlament entlassen zu können. In einer Fernsehansprache am Vortag der Wahl des Premiers hatte er noch einmal seine dreijährige Militärherrschaft Revue passieren lassen, sich selbst gut benotet und das Volk von der bevorstehenden "Machtübergabe" unterrichtet. Erst am 16. November war der General für weitere fünf Jahre in seinem Amt als Präsident vereidigt worden. Anschließend trat das Parlament zu seiner konstituierenden Sitzung zusammen, dem formalen Ende der Militärherrschaft. Musharraf empfahl der zukünftigen Regierung, seine "guten Maßnahmen" fortzuführen. Zweifellos wird Musharraf, der noch fünf Jahre als Präsident amtiert, nicht nur repräsentative Funktionen ausüben, wie es der ursprünglichen Verfassung entspräche.

Allianzen

Die Parlamentswahlen im Oktober brachten keine klaren Mehrheitsverhältnisse, was in den folgenden Wochen zu einem Gerangel der politischen Kräfte um die Macht führte. Zusehends waren sie darum bemüht, ihren jeweiligen Kandidaten zu begünstigen. Jede der drei etwa gleichstarken Parteien spekulierte darauf, durch die Koalition mit einer zweiten Partei an die Macht zu gelangen. Es deutete sich zwischenzeitlich sogar die Wahl Maulana Fazlur Rehman zum Premierminister an. Er war als Kandidat des islamistischen Parteienbündnisses Muttahida Majlis-e-Amal (MMA - Vereinigte Aktionsfront) in verschiedenen Bündnisgesprächen tonangebend und trat recht siegessicher auf. Trotz eines Zuwachses an Befürwortern in Islamabad erhielt der Islamist Rahman 86 Stimmen. Shah Mahmood Qureshi von der Pakistan People's Party (PPP) konnte gerade einmal 70 Stimmen auf sich vereinen.

Zwei Tage vor der Kür des Premierministers hatte die Nationalversammlung (Majlis-e- Shura) am 19. November den PML-Q-Politiker Chaudhry Ameer Hussain zum Parlamentspräsidenten bestimmt. Dabei war es der PML-Q gelungen, mit unabhängigen Kandidaten, Kleinparteien und abtrünnigen Abgeordneten der PPP eine Mehrheit zu bilden. Das Ergebnis der Wahl hatte zur Folge, dass die oppositionelle PPP und die MMA darauf verzichteten, einen gemeinsamen Kandidaten zu finden.

In den wochenlangen Verhandlungen gelang es der PML-Q, die von ihr kontrollierten Sitze in der Nationalversammlung von 118 auf 172 zu erhöhen. Beihilfe erhielt die PML-Q, die wegen der Unterstützung für Musharraf in Pakistan als Königspartei (King’s Party) bezeichnet wird, aus verschiedenen Lagern. Es waren Unabhängige, Angehörige der Regionalpartei Muttahida Qaumi Movement (MQM), die für Interessen der muslimischen Flüchtlinge aus Indien im Sindh eintritt, und abtrünnigen PPP-Abgeordneten die Jamali letztendlich ins Amt halfen.

Die etwa zehn Parlamentarier der PPP, die aus "persönlichen Gründen" - wie man gute Beziehungen in Südasien bezeichnet - nicht für den Kandidaten ihrer Partei stimmten, dürften zum Teil mit der Aussicht auf Ministerposten oder lukrative Aufträge für ihre Unternehmen geködert worden sein. Andere wurden wohl durch eine drohende Untersuchung des allmächtigen "Rechenschaftsbüros" gefügig gemacht, dass Steuersünder verfolgt. Die Militärregierung setzte es schon als wirkungsvolles Repressionsinstrument während des Wahlkampfes ein.

Mann ohne Charisma?

Mit Mir Zafrullah Khan Jamali kommt jemand in Islamabad an die Macht, der Musharraf einiges zu verdanken hat. Jamali, der in den sechziger Jahren Sicherheitsbeamter Fatima Jinnahs (Mather-e-Millat), der Schwester des Staatsgründers, war, ist ein selbst auf nationaler Ebene weithin unbekannter Politiker. Der siebenfache Vater und ehemalige Hockeyspieler amtierte zweimal zuvor als Chefminister in Baluchistan. Dennoch war er selbst auf nationaler Ebene weithin unbekannt. Er gilt politisch als Leichtgewicht, da er keine Ambitionen hat, als Volktribun oder als Visionär anzutreten. Jamali übernahm Bildungsministerin Zubeida Jalal aus dem Kabinett Musharrafs, dessen Position auch durch die labilen Mehrheitsverhältnisse gestärkt wird.

Doch vielleicht ist der als gemäßigt und nur mittelmäßig bezeichnete Politiker der richtige Mann, um das Dickicht - bestehend aus den fragilen Mehrheitsverhältnissen im Parlament und dem allmächtigen Präsidenten und Armeechef - zu lichten. Im Parlament wird er eine politische Linie verfolgen müssen, bei der auch die Opposition miteinbezogen wird. Andererseits hat sein Parteikollege, der frisch gewählte Parlamentspräsident Hussain, durchblicken lassen, dass die zahlreichen von Musharraf eigenmächtig erlassenen Dekrete einen integralen Bestandteil der Verfassung bilden. Diese Verfügungen sichern unter anderem auch die Doppelrolle Musharrafs als Präsident und Chef des Militärs ab. Die oppositionelle PPP und die MMA lehnen die Kontrolle des Präsidenten und des vom Militär dominierten Nationalen Sicherheitsrats ab.

Der neue Regierungschef versprach auch außenpolitische Kontinuität. Die pro-amerikanische Linie soll aufrechterhalten werden, ebenso wie die traditionell engen Beziehungen zum Nachbarland China. So nannte Jamali die Freundschaft mit Peking "größer als den Himalaya". In Bezug auf Indien meinte er: "Wir werden entsprechend antworten, falls uns jemand feindlich gesonnen ist".

Erste Navigationsprobleme

Kontinuität dürfte hier bedeuten, dass die Regierung auch in Zukunft die Aktivitäten im indischen Teil Kaschmirs operierender bewaffneter Separatisten weiterhin zumindest dulden wird. Ein Überfall auf einen Hindu-Tempel und einer Reihe weiterer Angriffe in den Tagen nach der Regierungsbildung kosteten innerhalb von drei Tagen insgesamt über 40 Menschenleben.

Indien machte die in Pakistan ansässige extremistische Organisation Lashkar-e-Toiba für das Attentat im Raghunath-Tempel am 24. November in Jammu verantwortlich. Ihr ehemaliger Führer war nur wenige Tage zuvor aus seiner mehrmonatigen Inhaftierung entlassen worden. Für Indiens hindunationalistischen Innenminister Lal Krishna Advani gab der Angriff Grund zu Spekulationen, die Regierungsbildung im Nachbarland in zeitlichen Zusammenhang mit dem Terrorakt zu stellen. Jamalis Regierung bot Indien Friedensgespräche an. Der neue Außenminister Khurshid Mahmood Kasuri sagte, er sei bereit, Indien in der Kaschmir-Frage entgegenzukommen, wolle aber einen "Frieden mit Ehre und Gerechtigkeit".

Von Ehre sprachen auch die Vertreter der MMA, die mit ihren antiamerikanischen Parolen überraschend stark aus den Wahlen hervorgegangen waren. Sie verlangen ausdrücklich den Rückzug der Amerikaner aus Pakistan. Akram Khan Durrani, MMA-Chefminister der nordwestlichen Grenzprovinz, erklärte die Jagd der US-Truppen in den an Afghanistan angrenzenden Gebieten nach geflüchteten Taliban- und Al-Qaida-Kämpfern für beendet. Die islamistische Provinzregierung kündigte unterdessen die Implementierung der Scharia in den NWFP an. Zudem sorgte Durrani für erste Schlagzeilen mit dem Verbot von Glücksspiel, Kneipen und Musik in Bussen, die nicht nur für Verkehrsunfälle verantwortlich sei, sondern auch nicht den "islamischen Gewohnheiten" entspräche.

Islamistische Provokationen sind jedoch nicht das einzige Problem für Musharraf und die neue Regierung. Die pakistanische Tageszeitung "The News" erinnerte daran, dass nicht zum ersten Mal in der 55jährigen Geschichte des Landes das Militär versucht, die Institutionen nach seinen Interessen "neu" zu formen und sich erst erweisen müsse, ob Musharrafs Bemühungen Bestand haben werden. Bereits eine Woche nach der Wahl Jamalis entzog die MQM der Königspartei die weitere Unterstützung. Und binnen zwei Monaten muss sich der Premierminister im Parlament dem vorgeschriebenen Vertrauensvotum stellen.

Zwischen Populismus und strukturellen Reformen

Die schwachen Mehrheitsverhältnisse im Parlament dürften dem Geschmack Musharrafs und seiner Generäle entsprechen die die Macht nicht abgeben wollen. Einzig die islamistische MMA, die zusätzlich zu ihrer überraschend starken Parlamentsfraktion in zwei der vier Provinzen die Regierung stellen wird, gilt als Unsicherheitsfaktor. Bei den ersten Zusammenkünften des Parlaments traten MMA-Vertreter in populistischer Manier auf. Ein Abgeordneter der MMA veranlasste beispielsweise, im Parlament ein Gebet für Aimal Khan Kansi zu halten. Dieser war einen Tag zuvor in den USA wegen Mordes an zwei CIA-Mitarbeitern im Jahre 1993 hingerichtet worden. Der Fall sorgte für eine große Anteilnahme der Bevölkerung in Pakistan und verstärkte die Wut auf die USA. Während des Gebets wurde Allah aufgefordert, all jene zu zerstören, die den Mörder an die Amerikaner 1997 ausgeliefert hatten.

Der internationale Währungsfond (IMF) empfahl nach zweiwöchigen Konsultationen mit der Regierung am 20. November dem Land dringende Reformen und eine Überprüfung des Sozialsystems. Eine weitere Schlüsselrolle der Reformen nimmt der Energiesektor ein. Das Wirtschaftswachstum liegt gegenwärtig bei 4,5 Prozent, was auf dem ersten Blick sehr akzeptabel aussieht, aber angesichts der Unterstützung aus den USA und Europa, insbesondere im Devisenbereich, nicht genug ist. Der "The News" zufolge müsste das Wachstum der pakistanischen Wirtschaft wesentlich höher liegen. Sie sieht ein Potential von etwa sieben bis acht Prozent.

Ungeachtet aller Empfehlungen und Gespräche erwarten die Einwohner Pakistans wirtschaftliche Stabilität und baldige Reformen von der neuen Regierung. Wie überall auf der Welt stehen auch in Pakistan neue Arbeitsplätze, eine Verminderung der Armut und soziale Dienste im Mittelpunkt der Erwartungen der Bevölkerung.

Pakistanische Demokratie

Die Demokratie, zu der Pakistan nun nach dem Militärputsch zurückgekehrt ist, scheint fragwürdig zu sein. Das verdankt sie nicht nur den zahlreichen Dekreten Musharrafs, der die Verfassung von 1973 regelrecht aushöhlte, die Regierung kontrolliert und im Stande ist, das Parlament aufzulösen. Demokratie stößt in weiten Teilen der Gesellschaft auf Misstrauen und Ablehnung. Die Bevölkerung wirft den gewählten Politikern vor, nur eigene Interessen zu verfolgen. In den elf Jahren demokratischer Zustände von 1988-99 verdoppelten sich die Armutszahlen. Die beiden Ex-Premiers, die sich die Macht wechselseitig entrissen, leben im Exil. Aufgrund zahlreicher Gesetzesverstöße drohen ihnen in Pakistan hohe Strafen.

Bei der Wahl Jamalis im Parlament dürfte das Misstrauen der Bevölkerung gestiegen sein. Im Übrigen waren 96 Prozent der Staatsangehörigen, zurückzuführen auf das restriktive Regelwerk, selber als Kandidaten nicht wahlberechtigt. Die Kameras übertrugen landesweit, wie die privilegierten Abgeordnete sich anschrieen und der frisch gewählte Parlamentspräsident Hussain sich Gehör zu verschaffen suchte. Der Tumult entzündete sich an der Frage nach der Rechtmäßigkeit der Musharrafschen Dekrete.

Quelle: Eine gekürzte Fassung dieses Artikels erschien in der Wochenzeitung Jungle World (Nr. 50/2002 - 4. Dezember 2002) mit dem Titel Untertanen an der Macht.

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