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In den letzten Tagen häufen sich in Indien Vandalenakte gegen Kinohäuser, die einen Film über die Liebe zwischen Frauen zeigen. Vier Tage nach dem Kinostart von "Girlfriend" rissen am Montag Vertreter der lokalen Hindu-Partei Shiv Sena in Mumbai Plakate des Films herunter und verhinderten dessen Vorführung. Am nächsten Tag wiederholten sich die Szenen in zahlreichen Städten des Landes. Wieder waren es Studenten- und Frauengruppen der früheren Regierungspartei Bharatiya Janata Party (BJP) und der radikalen Hindu-Organisation Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS), die in die Kinos eindrangen, Mobiliar zerschlugen und Vitrinen demolierten. Der Vorsitzende des RSS, Sudarshan, rechtfertigte das Vorgehen mit der Befürchtung, dass solche Filme die Gesellschaft mit "bösen Gedanken" verderben. Dieser Film versuche, homosexuelle Ideen in der indischen Gesellschaft salonfähig zu machen. Auch der Sprecher der BJP erklärte, die Darstellung lesbischer Szenen sei eine Verletzung der indischen Kultur. In westlichen Gesellschaften möge dies akzeptiert werden, nicht aber in Indien.
Die selbsternannten Hüter der indischen Kultur zeigen, wie so oft, ein verzerrtes Bild von dieser, das mehr von westlichen Moralvorstellungen des 19. Jahrhunderts als von indischen Traditionen geprägt ist. Die klassischen Epen Mahabharata und Ramayana behandeln die gleichgeschlechtliche Liebe mit grosser Selbstverständlichkeit, tantrische Traktate sprechen von der Bisexualität als einem normalen menschlichen Verhalten, und Sodomie gehört zum Katalog sexueller Gebrauchsanweisungen im Kamasutra. Dennoch gilt hier in Sachen alternativer Formen der Sexualität immer noch ein Strafrechtsparagraph, den die englische Kolonialmacht im Jahr 1883 eingeführt hatte. "Wer Geschlechtsverkehr ausübt, der gegen die Natur verstösst, mit einem Mann, einer Frau oder einem Tier", so lautet er, "wird mit lebenslänglicher Haft bestraft." Der berüchtigte Paragraph 377 wird von den Gerichten zwar nicht mehr streng angewandt, dient aber den Moralwächtern der Hindu-Kultur als wirksames Drohinstrument und der Polizei als lukratives Erpressungsmittel.
Ironischerweise ist der Film "Girlfriend" das Gegenteil eines Films, der die lesbische Liebe feiert. Diese ist vielmehr das Produkt heterosexueller Vernachlässigung. Die Billigproduktion aus der Bollywood-Filmfabrik handelt von einer jungen Frau, die als Kind sexuell missbraucht wird. Sie wächst im Hass gegen Männer auf und verliebt sich in eine andere Frau. Der Konflikt entzündet sich, als sich diese in einen Mann verliebt, worauf die Liebhaberin in einem psychotischen Anfall einen Amoklauf beginnt, der im Tod der Protagonistinnen endet. Bereits der Film "Fire" von Deepa Mehta, der 1998 ähnliche Proteste provoziert hatte, thematisierte die Liebesbeziehung von zwei Frauen als Resultat männlicher Vernachlässigung. Lesben-Organisationen verurteilten daher den Autor von "Girlfriend" ebenso scharf, wie sie sich von den Hindu-Sturmtrupps distanzierten. "Beide bedrohen uns", sagte eine Vertreterin der Organisation Lesbians and Bisexuals in Action in Mumbai. Und ein Forum gegen die Unterdrückung der Frau in Delhi qualifizierte den Film als "pornografisch, klischeehaft und allein zur Geilheit heterosexueller Männer gedreht". Die Geschichte sei voller Vorurteile und werde das Leben von homosexuellen Paaren noch schwerer machen.
Die Hauptdarstellerin des Films, Isha Koppikar, verteidigte den Film. Gleichgeschlechtliche Liebe sei nun einmal eine Realität in Indien, und es wäre falsch, davor die Augen zu verschliessen. Filmkritiker sehen im Film trotz ihren formalen Einwänden ebenfalls einen positiven Trend der Bollywood-Filmszene, die anstelle der schmalzigen Liebessongs und Tanzszenen immer mehr moderne Themen und Rollen porträtiere. Dies gilt besonders für die Frauenrollen junger Filmstars, die sich immer mehr von den traditionellen Filmklischees - züchtige Mädchen, trauernde Mütter, keifende Schwiegermütter - abwenden. Sogar Publikumslieblinge scheuen sich heute nicht, Haut zu zeigen, ebenso wenig wie sie davor zurückschrecken, in die (positive) Rolle einer Prostituierten zu schlüpfen oder ihren Film-Ehemann zu betrügen. Koppikars Filmpartnerin Amrita Arora meinte, "Girlfriend" zeige, dass das Hindi- Kino endlich erwachsen werde, und fragt: "Wie können wir uns progressiv nennen, wenn wir im 21. Jahrhundert über dieses Thema keinen Film machen dürfen?"
Quelle: Der Beitrag erschien am 17. Juni 2004 in der Neuen Zürcher Zeitung.
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