Inhalt

31. Juli 2004. Nachrichten: Natur & Umwelt - Südasien Leben wie im Abwasserkanal

Nach den Fluten von Ganges, Brahmaputra und Meghna

In Südasien, vor allem in Bangladesch und in Indien, läuten die Alarmglocken: Ausgedehnte Überschwemmungen haben seit Anfang des Monats weit über 1000 Menschenleben gefordert und riesige Schäden angerichtet.

Die 25 Jahre alte Jyotsna Bibi steht mit ihrem anderthalbjährigen Sohn Javed auf dem Arm bis zum Knie im Wasser vor ihrer Hütte am Stadtrand von Dhaka. Immer wieder hat sie in den letzten Tagen Ziegelsteine unter das Bettgestell gestapelt, um eine Handbreit Raum zwischen sich und das Wasser zu bringen. "Mehr geht nicht", sagt sie verzweifelt, "denn dann kippt das Bett um. Und wenn mein Kleiner ins Wasser fällt, trägt ihn die reißende Flut fort."

Ihr Mann ist auf einem Bambusfloß in die Stadt gepaddelt, um vielleicht etwas Essbares zu ergattern. Jyotsna Bibi und ihre Familie teilen in diesen Tagen ihr Schicksal mit rund 30 Millionen Bangladeschis, die von einer Flutkatastrophe heimgesucht werden. Gegenwärtig sind zwei Drittel des Landes von den über die Ufer getretenen mächtigen Strömen Brahmaputra, Ganges und Meghna überflutet, die eines der größten Deltasysteme in der Welt bilden. Mindestens 500 Menschen ertranken, wurden unter einstürzenden Häusern begraben, starben an Schlangenbissen, an Durchfall- und anderen Erkrankungen oder kamen durch Blitzschläge ums Leben. Zwölf Millionen Behausungen wurden fortgespült oder schwer beschädigt. 1,4 Millionen Bürger suchten in Notunterkünften Zuflucht. "Die Bedingungen werden von Tag zu Tag schlimmer. Wir leben wie in einem offenen Abwasserkanal", beschreibt ein Beamter in Dhaka die Lage, denn es regnet weiter. Der Monsun dauert gewöhnlich bis in den September.

Die Hälfte der Fünfzehn-Millionen-Metropole steht unter Wasser. Durch die stinkenden trüben Fluten bahnen sich Rikschas ihren Weg. Auf den einstigen Straßen verkehren jetzt Boote und Flöße. Alle Schulen, Colleges und Universitäten sowie viele Geschäfte, Büros und Betriebe sind geschlossen. Der Transport auf der Straße, der Bus- und der Eisenbahnverkehr kamen teilweise zum Erliegen. In Industrie und Landwirtschaft muss man mit schweren Einbußen rechnen. Nach Einschätzung der UNO steht eine "humanitäre Krise" unmittelbar bevor.

Am Mittwoch (28.7.) konferierte ein UNO-Team mit Bangladeschs Minister für Nahrungsmittel und Katastrophenmanagement, Chowdhury Kamal Ibn Jusuf. Während Dhaka noch immer glaubt, die Situation allein zu bewältigen, bereitet die Weltorganisation einen Appell an die internationale Gemeinschaft vor, umfassende Hilfe zu leisten. Die Weltgesundheitsorganisation WHO und die Welternährungsorganisation FAO liefern bereits Medikamente, Reis und eiweißhaltige Kekse. Nach Ansicht des bangladeschischen Hochkommissars in London werden Nahrungs- und Arzneimittel, Tabletten zur Wasserentkeimung, Kleidung, Baumaterial zur Rekonstruktion von Infrastruktur, Häusern und Schulen gebraucht. Staatliche und Nichtregierungsorganisationen versorgen Obdachlose in Suppenküchen wenigstens mit einer Mahlzeit pro Tag. Weithin besteht Mangel an sauberem Trinkwasser. 80.000 Bürger wurden bereits wegen Erkältungen und Magen-Darm-Erkrankungen behandelt. Im Land sind 3500 medizinische Teams unterwegs, um Epidemien zu verhindern.

Shashanka Saadi von Action Aid Bangladesch verweist auf ein weiteres Problem: Die Zeit wird knapp für eine zweite Bestellung der Felder. Die erste Ernte wurde durch die Wassermassen zunichte gemacht. Verzögern die anhaltenden Regenfälle die erneute Aussaat, droht zum Jahresende eine Nahrungsmittelkatastrophe. Eine Besserung der Situation ist vorerst nicht abzusehen, zumal am Monatsende der Vollmond den Meeresspiegel hebt und damit der Abfluss der Wassermassen in die Bengalische Bucht noch erschwert wird. Dramatisch ist die Situation auch in den indischen Unionsstaaten Assam und Bihar, wo insgesamt schon über 640 Menschen durch Überschwemmungen umkamen. Premier Manmohan Singh verschaffte sich am Dienstag einen Überblick über die Lage in Bihar und sagte nach einer schockierenden Hubschraubertour Chefministerin Rabri Devi alle erdenkliche Hilfe bei Rehabilitation und Rekonstruktion, der Versorgung mit Lebensmitteln, Verhinderung von Epidemien und der Wiederaufnahme der Arbeiten in der Landwirtschaft zu. Beiden Unionsstaaten wird umfassende Assistenz aus dem nationalen Katastrophenfonds zuteil. Zur gleichen Zeit aber muss sich die Regierung in Delhi auch mit den Folgen eines anderen Wetterextrems befassen: In neun westlichen Unionsstaaten blieb bislang der Monsun aus. Hier wird es enorme Ausfälle in der Agrarproduktion geben.

Quelle: Der Beitrag erschien am 30. Juli 2004 in der Tageszeitung "Neues Deutschland".

Kommentare

Als registriertes Mitglied können Sie einen Kommentar zu diesem Beitrag verfassen.