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In einer einzigen Woche wurden für die Opfer der Tsunami-Katastrophe weltweit zwei Milliarden Dollar staatlicher Geldmittel bereitgestellt. Hinzu kommen mehrere hundert Millionen Dollar in Form von Spendengeldern. Die Einzigen, die nicht davon profitieren werden, sind knapp eine Million Fischerfamilien entlang der Südküste Indiens und auf dem Inselarchipel der Andamanen und Nikobaren. Auch sie haben neben Angehörigen ihr ganzes Hab und Gut verloren und sind bedroht von Hunger und Epidemien. Doch in einer außerordentlichen Geste, die gerade von den vielen ausländischen Freunden des Landes als bizarr bezeichnet wurde, hatte die indische Regierung erklärt, das Land sei auf Hilfe von außen nicht angewiesen. Es verfüge über genügend Mittel, nicht nur um seiner eigenen Bevölkerung Not- und Wiederaufbauhilfe zu gewähren, sondern auch um anderen Ländern solche zukommen zu lassen. Der US-amerikanische Präsident George W. Bush bestärkte die Regierung in dieser Haltung, als er Indien in eine Kerngruppe von vier Ländern (mit Australien, Japan und den USA) einschloss, welche die Hilfe in der Region seiner Ansicht nach koordinieren soll.
Innerhalb von Stunden nach der ersten Flutwelle trat in Delhi der Krisenstab unter Premierminister Manmohan Singh zusammen. Am Nachmittag flogen Armeehelikopter erste Erkundungsmissionen entlang der Küste von Tamil Nadu, und am gleichen Tag wurden vier Schiffe der indischen Kriegsmarine ins Katastrophengebiet von Sri Lanka entsandt. Diesen vier folgte einige Tage später ein Spitalschiff, ein zweites wurde nach Aceh entsandt, und erst dann wurde ein drittes in den eigenen Gewässern des Nikobaren-Archipels stationiert. Für viele Beobachter sollte diese Aktion ebenso wie die Ablehnung von Hilfsangeboten aus der ganzen Welt in Erinnerung rufen, dass Indien ein Land ist, das nicht nur für sich selbst sorgen kann, sondern auch seine Rolle als regionale Großmacht erfüllt. Das Meer, in dem das Beben vom 26. Dezember stattgefunden habe, so formulierte es ein indischer Diplomat, heiße schließlich Indischer Ozean. Und er wies darauf hin, dass die Südspitze der Nikobaren-Inseln Indira Point heiße und nur sechzig Seemeilen vom Epizentrum, aber tausend Meilen vom indischen Festland entfernt liege. Indien verfüge nicht nur über die weitaus größte Kriegsmarine in der Region. Seine Streitkräfte, bestehend aus über 1,2 Millionen Mann, hätten zudem wegen der chronischen Krisenanfälligkeit des Landes Erfahrung in Katastrophenhilfe.
Die Armee hat diese Erfahrung bereits öfters unter Beweis gestellt. Ausländische Hilfswerke anerkennen dies und wissen, dass Delhi schon bei früheren Gelegenheiten den Einsatz internationaler Teams, und erst recht von militärischen Einheiten, abgelehnt hatte. Neben der Armee verfügen auch die indischen Unionsstaaten über eingespielte Mechanismen der Katastrophenhilfe. Diese konzentrieren sich auf die zweite Einsatzphase, nach jener der Rettung von Menschenleben, nämlich auf die Versorgung mit Medikamenten und Nahrungsmitteln. Auch beim jüngsten Tsunami bewährten sich diese Mechanismen, trotz den üblichen Engpässen und den logistischen Knoten. Die Staaten Tamil Nadu und Andhra Pradesh - häufig Opfer von Wirbelstürmen - konnten ihre Ärzteteams und Nahrungsmittelkonvois rasch in die zerstörten Küstenregionen bringen. Nur in Kerala, das bisher von solchen Naturkatastrophen verschont geblieben war, vergingen Tage, bis die Regionalregierung den Ernst der Lage erkannt hatte. Auf den Nikobaren wiederum sind selbst die Militärs trotz ihren Marine- und Luftwaffenbasen überfordert.
Die indischen Medien haben die "überlegte Reaktion" der Regierung begrüßt und bisher auch gegen deren Großmacht-Gebärden wenig einzuwenden gehabt. Diese finden nicht zuletzt deshalb Anklang, weil sich gerade in der wirtschaftlichen Elite immer mehr die Meinung breit macht, dass Indien wirtschaftliches Großmacht- Potenzial habe und dieses (in Anlehnung an China) kompromissloser als bisher nach außen projizieren müsse. Die anhaltenden Schwierigkeiten auf den Andamanen und Nikobaren, wo viele mutmaßliche Flutopfer immer noch nicht versorgt werden konnten, zeigen aber die Grenzen dieses Anspruchs. Die Kritik großer internationaler Hilfsorganisationen wegen des mangelnden Einbezugs ihrer Dienste in dieser Region findet ihr Echo in den großen Tageszeitungen, die auf die kritische Lage auf den Inseln hinweisen. Auch Großmacht-Ideologen wie der ehemalige Sicherheitsberater K. Subrahmaniam meinen, dass es richtig war, Nothilfe abzulehnen, dass es aber ein Fehler war, langfristige Wiederaufbauhilfe zurückzuweisen.
Regierungssprecher in Delhi weisen diese Kritik zurück. Zum einen sei ausländische Hilfe über Nichtregierungsorganisationen weiterhin höchst willkommen. Zum andern stehe mit dem "Prime Minister's National Relief Fund" ein Gefäß zur Verfügung, das auch finanzieller Hilfe von außen offen stehe und dessen Inhalt direkt den Opfern zugute komme. Der Fonds - dessen Beiträge von der Steuer voll absetzbar sind - ist ein Beispiel, dass Indien über ein liquides Finanzinstrument für rasche Notmaßnahmen verfügt. Das indische Publikum hat diesen Fonds in den letzten zehn Tagen massiv geäufnet. Ähnlich wie in der Zivilgesellschaft rund um die Welt sind auch hier Spenden von überall eingetroffen von Hunderten von Schulkollekten über Zuwendungen von Bettlern bis hin zu einem persönlichen Check des amerikanischen Botschafters. Und die Gesamtsumme von umgerechnet 140 Millionen Dollar zeigt, dass das Land mit der internationalen Hilfsbereitschaft durchaus Schritt halten kann.
Diese Solidarität zeigt sich übrigens auch bei der Wirtschaft. Schon nach dem Erdbeben von 2001 in Gujarat hatte im Land eine große Solidaritätswelle eingesetzt. Sie endete dann allerdings in einem Chaos, als Unternehmen Hunderte von Hilfskonvois in die Region entsandten und diese dann im Verkehrs- und Zerstörungs-Chaos stecken blieben. Diesmal hat der indische Industrieverband CII sofort nach Bekanntwerden des Unglücks zwei Zentren in Delhi und Madras eingerichtet und mit 500 von Mitgliedfirmen freigestellten Logistik-Experten bestückt. So konnte die Industrie auf Notrufe der Behörden rasch und effizient reagieren. Als die Regierung von Tamil Nadu 3000 Decken für die Opfer von Nagapattinam benötigte, hatte CII unter ihren Mitgliedern rasch einen Spender im Punjab ausgemacht, dann eine Transportfirma, welche die Ware gratis in den Süden brachte, und schließlich eine lokale Kurierfirma, welche die Decken in den Dörfern abgab. Die Zentrale des CII nimmt Angebote aus Unternehmen entgegen - von Wasseraufbereitungsanlagen, Betriebsärzten, Medikamenten, Wasser, Mobiltelefonen für Helfer bis zur Einrichtung von Internetcafés. Danach lenkt sie die Spenden in Absprache mit den Behörden dorthin, wo der Bedarf am größten ist. Die große Solidarität stützt das Argument der Regierung, dass das Land die Tsunami-Krise mit eigener Kraft lösen könne. Ob die eigenwillige Geste allerdings im Ausland so gedeutet wird, ist eine andere Frage.
Quelle: Der Text erschien am 7. Januar 2005 in der "Neuen Zürcher Zeitung".
Dieser Beitrag gehört zum Schwerpunkt: Der Tsunami im Indischen Ozean .
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