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"Wir können in den kommenden Wochen mehr Kämpfe erwarten", kündigte Generalleutnant Karl Eikenberry an. "Unser wichtigstes Ziel ist es, die Taliban und die terroristischen Netzwerke zu besiegen", sagte der Kommandant der US-Truppen in Afghanistan am 20. September auf einer Pressekonferenz in Kabul.
Am gleichen Tag vertrat Präsident Hamid Karzai auf seiner Pressekonferenz in Kabul eine etwas andere Einschätzung. "Ich glaube nicht, dass es noch großen Bedarf an militärischen Aktionen in Afghanistan gibt." Die Bombenangriffe der US-Luftwaffe seien "nicht sehr effektiv", urteilte er, der auch einen Alternativvorschlag parat hatte: "Wir sollten uns darauf konzentrieren, wo die Terroristen ausgebildet werden, auf ihre Basen, ihre Versorgung, auf das Geld, das sie erhalten." Obwohl er das Wort "Pakistan" vermied, war allen klar, auf wen Karzais Bemerkungen zielten.
Die US-Regierung schont Pakistan, um eine Destabilisierung des Landes zu vermeiden. Da die Kämpfer der Taliban und der al-Qaida dort ihre Rückzugsgebiete haben und praktisch ungehindert die Grenze zu Afghanistan überqueren können, schleppt sich der Krieg seit fast vier Jahren ergebnislos dahin. Die Guerillaaktivitäten haben in diesem Jahr sogar zugenommen. Die halboffizielle US-Armeezeitung Stars and Stripes zitierte jedoch Ende Juni die Einschätzung des Brigadegenerals James Champion: "Die jüngste Welle von Kämpfen könnte eher der amerikanischen Aggressivität zugeschrieben werden als irgendetwas, das al-Qaida tut." Um wenigstens das afghanische Territorium möglichst vollständig zu kontrollieren, dringen US-Truppen in Gebiete vor, in denen sie zuvor nicht präsent waren. Wenn auf sie geschossen wird, erwidern sie das Feuer, "rufen Luftunterstützung und suchen dann nach Überlebenden."
Eine 500-Kilogramm-Bombe unterscheidet nicht zwischen Hirten und Terroristen, und Karzai, der als Günstling seines Amtskollegen George W. Bush gilt, will sich nun wenigstens verbal von der US-Politik distanzieren. Denn er muss befürchten, im Parlament bald einer starken islamistischen Opposition gegenüberzustehen. Eine Hochburg dieser Opposition sind die überwiegend paschtunischen Grenzgebiete zu Pakistan, in denen auch Karzai seine Machtbasis hat und die das Operationsgebiet der US-Truppen sind.
"Die Mujahedin werden bei den Parlamentswahlen 90 Prozent gewinnen", prophezeite Ahmed Shah Ahmed Zai, der seit den sechziger Jahren zu den Führern der afghanischen Islamisten gehört. "Das nächste Ziel ist es jetzt, alle islamischen Fraktionen zusammenzuschließen, um eine islamische Revolution in der Gesellschaft zu bewirken." Zu seinen Wunschverbündeten zählt auch der Taliban-Führer Mullah Omar. Gemeinsam mit ihm will Ahmed Shah, der Ussama bin Laden noch immer für "einen guten Muslim" hält, die "Besatzung" beenden.
Die Ergebnisse der Parlamentswahl vom 18. September sollen erst am 22. Oktober bekannt gegeben werden. Ein überwältigender Sieg der Islamisten ist unwahrscheinlich, denn die Mujahedin-Kommandanten sind nicht sehr beliebt. In den neunziger Jahren lieferten sich die islamistischen Organisationen blutige Machtkämpfe, das Chaos ebnete der Terrorherrschaft der Taliban den Weg. In vielen Gebieten waren jedoch Einschüchterung und Bestechung wichtige Instrumente des Wahlkampfes, und die Islamisten verfügen über genügend Geld und Waffen, um sich die Stimmen von Unwilligen und Zweiflern zu verschaffen. Auch nichtislamistische Warlords wie Rashid Dostum konnten von diesen Verhältnissen profitieren.
Erleichtert wurde ihnen ihr Geschäft durch Karzais Politik. Er war mit dem Versprechen angetreten, die Herrschaft der Warlords zu beenden, deren Milizen er als "die größte Gefahr für das Land" bezeichnete. Nach seiner Wahl zum Präsidenten im Oktober 2004 lieferte er sich einige Schaukämpfe mit einflussreichen Warlords, ohne sie jedoch zu entmachten. So verlor Rashid Dostum sein Ministeramt, wurde einige Monate später aber zum Generalstabschef ernannt.
Karzais Sinneswandel, der von der US-Regierung ausdrücklich gutgeheißen wurde, führte dazu, dass Warlords ebenso an den Wahlen teilnehmen durften wie ehemalige hohe Funktionäre des Taliban-Regimes, obwohl ein Gesetz den Ausschluss von Kriegsverbrechern vorschreibt. Das dürfte ein Grund dafür gewesen sein, dass nur etwa die Hälfte der registrierten Wahlberechtigten die Stimme abgab. An den Präsidentschaftswahlen hatten noch 70 Prozent teilgenommen, obwohl die Bedrohung durch terroristische Anschläge damals eher größer war.
Zudem fiel es den Wählern schwer, den Überblick zu behalten. 5.800 Kandidaten bewarben sich für die Sitze im Parlament und den Provinzräten. Alle mussten als "Unabhängige" antreten, denn die Wahlordnung verbot die Nennung der Partei eines Kandidaten auf dem Stimmzettel. Diese Regelung war wohl vor allem dem Bestreben Karzais zu verdanken, das Entstehen starker Parteien zu verhindern. Das Präsidialsystem sichert ihm umfangreiche Vollmachten, unter anderem ernennt er alle Minister und Richter. Bei vielen Maßnahmen ist er jedoch auf die Zustimmung des Parlaments angewiesen. Wenn dieses Parlament "schwach und zersplittert, möglicherweise sogar paralysiert" sein wird, wie Joanna Nathan von der International Crisis Group vermutet, kann Karzai es leichter lenken.
Allerdings könnte sich jede oppositionelle Koalition auf eine weit verbreitete Unzufriedenheit stützen, denn Karzai hat an Popularität verloren. Die Sicherheitslage hat sich nicht verbessert, und er kann kaum Erfolge beim Wiederaufbau vorweisen. Noch immer ist Opium das wichtigste Exportprodukt, ein zwei Tage nach der Wahl veröffentlichter UN-Bericht schätzt den Anteil des Opiumhandels am Bruttosozialprodukt auf 52 Prozent. Den Profit schöpfen vor allem die Warlords ab, und wie überall auf der Welt bestimmen auch in Afghanistan die ökonomisch Mächtigen die Politik.
Viele der vermeintlich Unabhängigen waren Strohmänner und in einigen Fällen auch Strohfrauen der Warlords. Den demokratischen Kandidaten mangelte es an Ressourcen, und insbesondere der Wahlkampf der Frauen wurde durch den allgegenwärtigen Konservatismus und Morddrohungen behindert. Malalai Joya, die bei der Verfassungsgebenden Versammlung im Jahr 2003 mit einer Rede gegen die Warlords Aufsehen erregt hatte, sah sich gezwungen, auf Reisen eine Burka zu tragen. Das Wahlgesetz schreibt eine Frauenquote von 25 Prozent im Parlament vor, doch an der Unterdrückung und Diskriminierung im Alltag hat sich wenig geändert.
Die Politik der Interventionsstaaten trägt zur Stabilisierung von Verhältnissen bei, die sogar eine Rückkehr der islamistischen Warlords an die Macht möglich erscheinen lassen. Das unkontrollierte Handeln der US-Truppen, die weiterhin geheime Folterzentren in Afghanistan betreiben, ist kein gutes Vorbild für den Aufbau von rechtsstaatlichen Institutionen. Die von der Nato geführte International Security Assistance Force (Isaf) stützt faktisch die Herrschaft der Warlords, die unter ihrer Obhut die Opiumproduktion in einigen Provinzen um mehr als 300 Prozent steigerten. "Den stärksten Anstieg gab es im Norden und Westen, wo die Nato operiert", stellte Antonio Mario Costa, der Direktor der UN-Drogenbekämpfungsbehörde, fest.
Quelle: Der Beitrag erschien am 28. September 2005 in der Wochenzeitung Jungle World.
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