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Die Stimmung kippte mit dem Tod von Shushen Shatra. Seit einigen Tagen saßen die beiden Söhne des Kleinbauern zuhause, abgeschnitten von ihrer neuen Arbeitsstelle im Tata-Werk in Singur. Zuvor hatte Shushen Shatra dem Großkonzern Tata sein Land verkauft - gegen die Zusage, dass seine Söhne in der Fabrik als Arbeiter eingestellt würden. Doch überraschend schloss die von einer Protestbewegung bedrängte Konzernführung Anfang September die gesamte Fabrik. Am 3. September brachte sich Shushen Shatra um.
Eigentlich sollten bereits Anfang Oktober die ersten Autos vom Band rollen. Anfang Januar diesen Jahres hatte Tata in Neu-Delhi den Nano präsentiert, einen Kleinwagen, der nur 2.500 US-Dollar kosten soll. Zwar sind Straßen und Infrastruktur der indischen Städte bereits völlig überlastet, doch die Produktion eines Kleinwagens zum Preis eines Mopeds versprach gute Geschäfte.
Bereits im Mai 2006 bewarb sich Tata in Singur im Bundesstaat Westbengalen im Nordosten Indiens um die Einrichtung einer Sonderwirtschaftszone (Special Economic Zone - SEZ) bei der kommunistisch geführten Landesregierung. Die Communist Party of India (Marxist) genehmigte den Antrag, bot staatliches Land an und akquirierte zusätzlich Ländereien in Privatbesitz von Bauern. Gegen Entschädigungszahlungen sollten die Farmer auf ihr Land verzichten.
Dieses Vorgehen ist bei der Einrichtung von SEZ üblich, den Bauern wird eine finanzielle Entschädigung angeboten die von der Staatsregierung festgelegt wird. Die meisten Farmer willigen ein, denn sie hoffen, dass sie oder ihre Familienangehörigen durch die Ansiedlung größerer Betriebe eine Beschäftigung finden. Es gibt jedoch auch immer Bauern, die sich der Enteignung widersetzen. So auch in diesem Fall.
Etwa 160 Hektar Land enteignete die Regierung und zahlte pauschale Entschädigungen, egal, ob die Farmer der Maßnahme zustimmten oder nicht. Einige Bauern erhielten jedoch überhaupt keine Entschädigung. Damit hat die CPI (Marxist) abermals ihren Ruf als Investoren-freundliche Landesregierung gefestigt, die Neuinvestitionen aus der Privatwirtschaft in Westbengalen sind die höchsten in ganz Indien.
Doch als Reaktion auf die Akquirierung des Landes formierte sich diesmal breiter Protest. Enteignete Bauern, kritische NGOs und vor allem die Oppositionspartei Trinamool Congress forderten "Land für Land" von der Regierung. Gewerkschaften, in Indien meist an bestimmte Parteien gebunden und von Partikularinteressen geleitet, spielten eine geringe Rolle. Auch die maoistische Guerilla schaltete sich ein, konnte aber in der Protestbewegung kaum Fuß fassen.
Die Bewegung gewann im August 2008 immer mehr an Dynamik. Die Vorsitzende des Trinamool Congress, Mamata Banerjee, eine charismatische Politikerin, die ihre Karriere bei der Congress-Partei begann und 1997 die Abspaltung Trinamool Congress in West-Bengalen gründete, wurde zum Symbol des Widerstands. Schon kurz nach dem Beschluss im Mai 2006, eine SEZ in Singur einzurichten trat die resolute Politikerin in einen 25-tägigen Hungerstreik. Das intensive Medienecho der Proteste ist vor allem ihrer Popularität, aber auch ihrer Professionalität im Umgang mit den Medien geschuldet. Anfang September verlor Banerjee aber zusehends die Kontrolle über die Proteste. Bei der Blockade des Werks wurden Busse angegriffen, Arbeiter und Angestellte verletzt.
Daraufhin schloss der Tata-Konzern kurzerhand das Werk und verkündete, auch an anderen Standorten den Nano produzieren zu können. Bis Montag dieser Woche blieben die Tore der Fabrik geschlossen. Zunächst erschien die Ankündigung Tatas, den Standort aufzugeben, als strategische Drohung, um die Regierung und die Protestbewegung unter Druck zu setzen. Laut Informationen der Tageszeitung The Hindu scheinen aber inzwischen tatsächlich Pläne für eine Verlegung zu existieren. Der Bundesstaat Karnataka bot Tata in der vergangenen Woche 400 Hektar Land an, auch andere Landesregierungen ließen mit lukrativen Angeboten nicht lange auf sich warten. Die CPI (Marxist) hingegen wollte weder den Investor noch das investitionsfreundliche Image verlieren und schaltete sich ein. Die Protestbewegung, durch die Eskalation und den Suizid Shushen Shatras diskreditiert, baute die Barrikaden ab und sah sich zu Verhandlungen gezwungen, ohne realistische Hoffnung, die zentrale Forderung "Land gegen Land" durchsetzen zu können.
"Es gibt nichts, was ich lieber sehen würde als eine harmonische Koexistenz von Landwirtschaft und Industrie; und wir sind bereit, alles dafür zu tun, um dies möglich zu machen", sagte Mamata Banerjee Anfang September bei ihrem Versuch, die aussichtslosen Gespräche zu rechtfertigen. Bei den anschließenden Verhandlungen lehnte die Regierung Entschädigungen in Form von Landzuteilungen erwartungsgemäß ab. Das Einlenken von Mamata Banerjee und die Deeskalation durch den Abbau der Barrikaden wurden von den großen indischen Tageszeitungen und Nachrichtenkanälen als ein Zeichen politischer Reife gewürdigt.
Die Berichterstattung über den Fall Tata ist ambivalent. Einerseits sprechen sich die meisten Medien für die Schaffung von Sonderwirtschaftszonen aus. Andererseits existiert in Indien durchaus ein kritisches Bewusstsein für die Kehrseiten des Wachstums und die zahlreichen Verlierer der gegenwärtigen Entwicklung. So wagten auch Mamata Banerjee und die Protestierenden am Dienstag voriger Woche abermals den Gang auf die Straße. "Die Menschen wurden verraten. Wir werden das Entschädigungspaket der Regierung in die Mülltonne werfen", verkündete Banerjee bei einer Kundgebung vor mehreren tausend Unterstützern in Sichtweite des Tata-Werks. Ruhig und entschlossen erklärte die Sprecherin, dass es nicht um die Schließung des Werkes ginge. Rund 120 Hektar Land fordert Banerjee aber "um jeden Preis" zurück. Andernfalls werden die Blockaden wieder aufgebaut, drohte sie mit erhobener Faust. Bei Gesprächen zwischen Banerjee und dem Gouverneur Westbengalens Gopalkrishna Gandhi am 21. September konnte noch kein Kompromiss erzielt werden. Die Regierung bietet zwar höhere Entschädigungssummen und einige Hektar Land, Banerjee aber bleibt bei der Forderung nach 120 Hektar.
Die Auseinandersetzungen um das Tata-Werk in Singur sind vor allem Resultat einer verfehlten Politik der indischen Regierung. Auf nationaler Ebene existieren keine kohärenten Richtlinien für Landaneignungen und Entschädigungen. Die Regelungen für die Errichtung der SEZ sind weitestgehend Sache der Bundesstaaten, die vor allem möglichst günstige Rahmenbedingungen für Investoren schaffen wollen. Verschärft hat sich die Konkurrenz um die Ansiedlung von Konzernen und Industriebetrieben unter den indischen Bundesstaaten durch die Verlangsamung des Wirtschaftswachstums. In den letzten vier Jahren wuchs die indische Wirtschaft um durchschnittlich rund neun Prozent. In diesem Jahr wird nur ein Wachstum von sieben bis 7,5 Prozent erwartet, während die Inflationsrate seit Ende vorigen Jahres von 3,5 auf 12 Prozent stieg.
Für landesweite Reformen hat die regierende Kongresspartei keine Mehrheit, dementsprechend wird es bis zur Parlamentswahl Anfang nächsten Jahres keine grundlegenden Veränderungen in Fragen der Landvergabe und Entschädigungen geben. Die Regierung versucht zwar, die Situation der Landbevölkerung durch einzelne Maßnahmen zu verbessern. So wurde im Februar 2008 ein Schuldenerlass beschlossen, der allen Bauern, die ein staatliches Darlehen erhalten haben, die Rückzahlung erspart. Dies betrifft etwa ein Viertel aller Bauernhaushalte. Derartige Regelungen kommen aber tendenziell der unteren Mittelschicht der Bauern zugute, ebenso wie die geforderten Entschädigungen in Westbengalen. Landlose, Arbeiter und Kleinbauern profitieren gar nicht oder in weitaus geringerem Maß.
Landkonflikte sind in Indien häufig, besonders bei der Errichtung von SEZ, doch nur selten gibt es organisierte Massenproteste von nationaler Bedeutung. Im Falle des Tata-Werkes in Singur hat die parteipolitische Konstellation in Westbengalen maßgeblich zu einer größeren Ausbreitung der Proteste beigetragen. Der oppositionelle Trinamool Congress will die Stimmen der Bauern gewinnen. Die CPI (Marxist) hingegen hofft, mit den umworbenen Investoren kämen Arbeitsplätze und Wählerstimmen. Andererseits muss die Partei vermehrt auf die Stimmung unter der bäuerlichen Bevölkerung achten und Landkonflikte entschärfen, um die nächste Landtagswahl nicht zu verlieren. Bei den Kommunalwahlen kassierte die CPI (Marxist) bereits flächendeckende Niederlagen.
Als Verteidiger der Arbeiter und Bauern hat sich die CPI (Marxist) in Westbengalen auch nicht wirklich profiliert. Im Januar 2007 richtete die Regierung eine SEZ für die indonesische Chemiefirma Salim ein. Die stetig wachsenden Proteste der Bauern und zahlreicher oppositioneller Gruppen wurden im März vorigen Jahres mit Repression und Gewalt beantwortet. Polizisten und bewaffnete Angehörige der CPI (Marxist) töteten alleine am 14. März 2007 bei der Räumung einer Blockade mindestens 50 Menschen. Daraufhin kam es zu wechselseitigen Angriffen, Vertreibungen und Morden.
Die staatliche Repression, aber auch die Angriffe auf Anhänger der CPI (Marxist) sorgten in ganz Indien für Aufsehen. Menschenrechtsorganisationen dokumentierten die Verbrechen und kritisierten die kommunistische Regierung. Zuletzt kam es im August zu neuen Auseinandersetzungen, nachdem ein Kader der CPI (Marxist) bei einer Schießerei mit Anhängern des Trinamool Congress getötet worden war. Es dürfte nicht der letzte Konflikt dieser Art gewesen sein, denn weitere Special Economic Zones sind in Planung.
Quelle: Der Artikel erschien im Original in einer etwas kürzeren Fassung in der Wochenzeitung Jungle-World (39/2008).
Wochenzeitung Jungle World
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