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12. April 2004. Nachrichten: Politik & Recht - Indien Grundprinzip Hoffnung

Eine Umfrage vor der Lok-Sabha-Wahl im südindischen Sivakasi

Die Bürger der "größten Demokratie der Welt" haben ein neues Parlament gewählt. Die Kongresspartei hat einen überraschenden Sieg errungen, und Manmohan Singh wird neuer Premierminister Indiens. Im Vorfeld der Lok-Sabha-Wahl, im April 2004, haben Ginny Haythornthwaite und Claudio Altenhain Menschen im südindischen Sivakasi nach ihrer Meinung zur nationalen Politik befragt. Trotz verbreiteter Unzufriedenheit, so schien es, hatten viele Wählerinnen und Wähler noch nicht resigniert.

675 Millionen Inder waren in diesem Jahr wahlberechtigt. Von den Menschen, die wir befragten, gab lediglich einer an, nicht an den Wahlen teilzunehmen: S. Sirdar, Inhaber einer Schneiderei, ist in einem Wahlbezirk registriert, der zwei Stunden von Sivakasi entfernt liegt. Sirdar ist der Meinung, dass sich der Aufwand für einen alten Mann wie ihn nicht mehr lohne.

Bei den Wahlen zur 13. Lok Sabha im Jahre 1999 war die Wahlbeteiligung mit rund 50 Prozent recht gering. Die Hälfte der Befragten gab zu Protokoll, dass dies mit einer generellen Desillusionierung der Menschen zu tun habe: Die flächendeckende Versorgung mit Wasser, Strom und anderen Grundbedürfnissen lasse weiter auf sich warten, wenig würde sich ändern. "Die Menschen haben den Glauben an das System verloren, weil die Politiker ihre Versprechen nicht halten", so Bansha, eine muslimische Verkäuferin. Der Fotograf S. Palani Rajan sieht es ähnlich: "Die Leute denken, ihre Stimme ist nicht wichtig, sie glauben, dass sie in den Wahlen nichts gewinnen können. Wenn sie ihre Stimme abgeben, sehen sie, wie hinterher immer nur andere davon profitieren." Bansha fügte hinzu, dass diese Einstellung vor allen Dingen in der Mittelklasse vorherrsche.

Giri Cumaran, der Eigentümer eines Internet-Cafés, erläuterte ein weiteres Problem: "Die Menschen treffen die Politiker höchstens zu Wahlkampfzeiten persönlich. Es herrscht ein zu großer Abstand zwischen dem Volk und den Politikern." Sirdar sagte, die Politiker sollten nicht nur Reden an öffentlichen Orten halten, sondern dahin gehen, wo die Menschen leben, die Familien besuchen und so für näheren Kontakt sorgen. Rajan apellierte an die Indische Wahlkommission und ihre Verantwortlichkeit, für freie und gleiche Wahlen zu sorgen. Um wirklich demokratisch zu sein, sagte er, sollten die Wahlen in den Union States und auf nationaler Ebene zur gleichen Zeit stattfinden, unter einer befristeten Regierung durch den Präsidenten. Dies würde dafür sorgen, dass die Menschen am Wahltag keine Repressalien zu fürchten hätten und sich daher sicher fühlen könnten. Auch Ganesan, ein junger Schneider, unterstützte diese Idee.

Mehrere Einwohner betonten auch die verbreitete Korruption als eine Ursache für die geringe Wahlbeteiligung. Wir sprachen über dieses Thema mit Marodhu Pandi, einem jungen Rikschafahrer, als sich ein anderer Mann einmischte und erzählte, dass er gerade 50 Rupien bezahlen musste, um eine Unterschrift von einem Beamten zu bekommen. "Staatsdiener und Politiker sind gierig und nur auf Geld aus", beschwerte sich Sanka Narayan, ein Motorradmechaniker, während der Arzt Dr. N. Gunalan aus dem Stadtteil Satchiapuram eine "ehrliche Regierung, die sich um die Menschen kümmert" verlangte.

Obwohl die Meisten Bestechung und Vetternwirtschaft als Hauptprobleme anerkannten, gab es auch Stimmen, die Zweifel an der Unvermeidlichkeit von Korruption äußerten: "Es ist genau so sehr der Fehler der Menschen, die die Offizellen bereitwillig bezahlen", behauptete Giri Cumaran und sagte, dass man sich diesem System verweigern sollte. "Korruption hat zwei Seiten", bestätigte Ganesan.

Auf die Frage nach den wichtigsten politischen Angelegenheiten herrschte Übereinstimmung vor allen Dingen in einem Punkt: Die Versorgung der Menschen mit den Grundbedürfnissen, insbesondere Wasser, sei eine dringende Aufgabe. Sankar Narayan warnte vor den ernsten Konsequenzen einer Trockenheit für Sivakasi und ganz Südindien. Das Ganges-Cauvery-Projekt wurde mehrere Male erwähnt, Dr. Gunalan betonte die "Notwendigkeit, alle Indischen Flüsse von Norden bis Süden so bald wie möglich miteinander zu verbinden". Muthu Krishnan, ein junger Produzent und Händler für traditionelle Sidda-Medizin, hatte einen anderen Ansatz: "Umweltpolitik muss einen höheren Stellenwert erhalten", verlangte er. Krishnan hob hervor, dass intakte Ökosysteme, insbesondere in Waldgebieten, von essentieller Bedeutung für den Klimaschutz sind. Er kritisierte außerdem die lokalen Politiker für ihre Überlegungen, einen Regenwasserkanal in Sivakasi zu schließen.

"Die Regierung sollte sich intensiver um ländliche Gegenden kümmern", sagte Pandi und forderte mehr Schulen, Krankenhäuser und die verstärkte Ansiedlung von Industrieanlagen. Mehrere Menschen beschuldigten die Politiker, kleine Städte wie Sivakasi zu vernachlässigen. Rajan zufolge ist Sivakasis wirtschaftliche Situation unbefriedigend: "Die Menschen müssen hier unverhältnismäßig lang arbeiten, um einen bescheidenen Wohlstand zu erreichen. Sie verlieren die Hoffnung."

Des Weiteren zeigte sich, dass Arbeitslosigkeit als ein zentrales Problem wahrgenommen wird. Narayan schlug der Regierung vor, in Selbsthilfegruppen zu investieren, so dass die Menschen sich eigene Arbeitsmöglichkeiten schaffen könnten. "Die Regierung sollte mehr Mittel bereitstellen, um die kleinen Geschäfte zu unterstützen", kommentierte er. Koishna Veni, die einen kleinen Gemischtwarenladen betreibt, befürwortete bestimmte Einschränkungen zugunsten der Wirtschaft zu beseitigen und erwähnte ein Problem, dass der Feuerwerksindustrie in Sivakasi zu schaffen macht: bestimmte Feuerwerkskörper dürfen nicht mehr abgefeuert werden, da diese aufgrund einer neuen Bestimmung zu laut sind. "Die Regierung sollte in solchen Punkten liberaler sein, anstatt die Industrie zu behindern", merkte sie an. Außerdem verlangte sie von der Regierung, die Steigerung der Preise auf einer monatlichen oder jährlichen Basis zu regeln, anstatt sie der Laune eines einzelnen Offiziellen zu überlassen.

"India Shining – Indien glänzt", so lautete der umstrittene Wahlslogan der abgewählten BJP-Regierung. Die Meinungen zu diesem Statement waren sehr unterschiedlich: Ganesan betrachtet Indien als eine florierende Nation und sieht dies vor Allem in Indiens militärischer Stärke begründet: "Dank des Atomprogramms haben die anderen Nationen nun Respekt vor Indien". Giri Cumaran glaubt an den wirtschaftlichen Fortschritt und erzählt von der Entwicklung seines Geschäfts: "Vor fünf Jahren hatten wir in Sivakasi noch keinen Internetanschluss, mittlerweile kann ich eine Stunde für 30 Rupien anbieten – früher waren es 80!"

Dr. N. Gunalan hingegen hatte eine andere Sicht der Dinge: "Indien scheint ganz bestimmt nicht. Wie können wir behaupten, dass Indien scheint, wenn 40 Prozent der Menschen unter der Armutsgrenze leben? Die Politiker kümmern sich nur um ihr Image und Wählerstimmen, nie um die Menschen!" S. Sirdar betrachtete die Situation ähnlich: "Wo sind die Grundbedürfnisse, wo sind Wasser, Strom, Arbeit? Solange sich hieran nichts ändert, kann man nicht behaupten, Indien würde scheinen."

Eine versöhnlichere Meinung kam von Krishnan, der Indien zwar gegenwärtig nicht als eine prosperierende Nation betrachtet, jedoch an die Zukunft glaubt. Im Jahre 2020 werde Indien entwickelt sein, nicht zuletzt dank der Zukunftsindustrien wie zum Beipiel der IT-Branche. "Hoffnung ist das Grundprinzip des Lebens", hob er hervor.

Quelle: Der Beitrag erschien in der Mai-Ausgabe der "Sivakasi Times".

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