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Delhi. Sonia Gandhi, die unumstrittene Führerin der Kongress-Partei, hatte die Zustimmung aller Parteimitglieder und aller Koalitionspartner, das Amt der Premierministerin zu übernehmen. Am Montagabend fuhr sie mit eben dieser Absicht beim Staatspräsidenten vor. Doch zwei Stunden später erklärte sie der überraschten Öffentlichkeit und den schockierten Mitgliedern ihrer Partei, sie komme für das Amt nicht in Frage. Ihre innere Stimme und ihr Gewissen rieten ihr ab. Man möge den Verzicht akzeptieren.
In der Kongress-Zentrale brach die Hölle los. Parteiaktivisten drohten mit Rücktritt und Selbstmord. Auf der Straße schrien tausende fanatische Anhänger: "Wir wollen nur Sonia." Ihre Kinder versuchten vergeblich, den Medien die Entscheidung der Mutter zu erklären, die sie selbst schon vor Wochen in Interviews angedeutet hatte: Sie sei nicht scharf auf einen Posten, sondern wolle die Partei weiter stärken und der Nation dienen, hatte sie argumentiert. Und trotz aller Proteste und allen Drucks aus den eigenen Reihen blieb sie bei ihrem Entschluss.
Warum? Die Hindu-Nationalisten hatten bereits mit dem Boykott der Vereidigungszeremonie und einer landesweiten rassistischen Kampagne gegen die "ausländische Ministerpräsidentin" gedroht. Die Gefahr einer Spaltung der multireligiösen Gesellschaft Indiens mag die Entscheidung der in Italien geborenen Sonia Gandhi – seit über 20 Jahren indische Staatsbürgerin – beeinflusst haben. Zudem wusste sie: Als Partei- und Fraktionsvorsitzende im Parlament bliebe sie ohnehin an den Schalthebeln der Macht. Ihr Ruf als ehrliche, nicht machthungrige Politikerin und damit die Chancen ihrer Partei bei künftigen Wahlen würden enorm wachsen. Und schließlich gewinnen durch diesen Schritt auch ihre Kindern Rahul und Priyanka Zeit, um sich zu profilieren und auf künftige Aufgaben vorzubereiten. Sonia traf ihre Entscheidung mit kühlem Kopf.
Das erste günstige Resultat: Die bis dahin zögernde südindische Regionalpartei DMK trat mit ihren 16 Abgeordneten in die Vereinte Progressive Allianz (VPA) – so der offizielle Name der künftigen Regierungskoalition – ein.
Am Dienstag jedenfalls schlug Frau Gandhi den Wirtschaftsfachmann Dr. Manmohan Singh für den Posten des Premiers vor. Wiederum Revolte in der Partei: Sie solle ihren Entschluss überdenken, nur sie sei für das Amt geeignet. Doch unbeirrt fuhr sie am Mittwoch gemeinsam mit Dr. Singh zum Staatspräsidenten, legte die Liste der VPA-Partner und der "Assistenten von außen" vor – und Dr. Singh erhielt den Auftrag, das Kabinett zu bilden.
Das politische Drama endet am Sonnabend, wenn Präsident A.P.J Abdul Kalam, ein Muslim, im Rashtrapati Bhawan den Sikh Dr. Manmohan Singh als ersten Nicht-Hindu in der Geschichte des unabhängigen Indiens als Premier vereidigt.
Singh hat in seinen bisherigen Erklärungen versichert, den Dialog mit Pakistan konstruktiv fortzusetzen und eine ausgewogene Wirtschaftspolitik zu praktizieren, die stärker als je zuvor die Bedürfnisse der Armen berücksichtigt.
Während der gesamten Achterbahnfahrt haben sich Indiens Linke bemerkenswert gelassen verhalten. Sie unterstützen die neue Koalition aus unterschiedlichen Erwägungen von außen, beteiligen sich also nicht an der Regierung. Mit oder ohne Sonia Gandhi: Sie bleiben auf der Seite der säkularen Kräfte und favorisieren eine starke, stabile Regierung, die die Problem des einfachen Mannes nicht vernachlässigt. Wie alle säkular-demokratischen Formationen begrüßten sie auch den Vorschlag, Dr. Singh zum Premier zu machen, weil sie dessen Bescheidenheit, seine Kompetenz, seinen energischen Arbeitsstil, seine Ordnung und Disziplin schätzen. Die Medien staunten beispielsweise nicht schlecht, als Dr. Singh sie am Donnerstag früh um neun Uhr zu seiner ersten Pressekonferenz einlud. Für indische Verhältnisse war das zu "mitternächtlicher Stunde".
Quelle: Der Beitrag erschien am 22./23. Mai 2004 in der Tageszeitung "Neues Deutschland".
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