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11. Mai 2004. Nachrichten: Politik & Recht - Indien In Bihar sind Wahlen ein Fest – und eine Farce

Am Montag schlossen nach fünf Wahlgängen die Urnen in Indiens langem Wahlprozess. Am 13. Mai werden die elektronisch registrierten Stimmen im Computer gezählt und bekanntgegeben. Ein Blick auf die Wahlen in Bihar demonstriert das Paradox der indischen Demokratie: Sie sind so wichtig, dass korrupte Politiker sie nicht dem Wähler überlassen mögen.

Kishanganj. Mit dem letzten von fünf Wahlgängen in achtzehn Bundesstaaten gingen am Montag die längsten und umfassendsten Parlamentswahlen Indiens zu Ende. Die rund eine Million elektronischen Wahlapparate, bei denen der Bürger nur einen Druckknopf neben dem Symbol seiner favorisierten Partei drücken musste, werden nun in mehreren hundert Zentren in einen zentralen Computer geladen und verarbeitet. Am Donnerstag sollen dann die ersten provisorischen Resultate bekannt gegeben werden. Im Wahlbezirk von Kishanganj im Osten des Bundesstaats Bihar waren die Stimmbürger bereits am Mittwoch an die Urnen gegangen, und wie im übrigen Indien war der Wahltag auch in den zahllosen Dörfern in der Gangesebene ein Festtag. Selbst arme Frauen hatten ihren farbigsten Sari angezogen und standen geduldig in der brennenden Sonne Schlange, viele mit ihren Kindern auf der Hüfte und der Identitätskarte in der Hand.

Doch das Gefälle zwischen der tiefen Armut dieser Wähler und der Macht, die ein politisches Mandat dem Sieger gibt, produziert immer wieder Verzerrungen, die diesem schönen Bild demokratischen Willens schwere Kratzer beifügt. Im Dorf Baharbari erschien der 23-jährige Vijay Kumar Thakur am frühen Morgen bei seinem Arbeitgeber Bullu Sharan und erwähnte beiläufig, er werde heute mit seinen Freunden die Wahlen im Dorf "fixen". Auf die Frage, wie er dies anstellen wolle, meinte er leichthin: "Die ersten zwei Stunden lassen wir die Leute normal wählen. Dann sperren wir den Eingang in den Schulhof". Einer der Kollegen werde auf der Wahlmaschine ein paar hundert Mal den Knopf für ihren Kandidaten Mohammed Taslimuddin drücken, ein anderer werde seinen Daumen auf das Unterschriftsdokument setzen, ein dritter werde die Wählerliste abhaken. Die Uebrigen würden mit dem Wahlleiter und den Polizisten währenddessen "Tee trinken gehen". Sharan, der in Baharbari eine Kooperative leitet, musste Kumar mit dem Verlust seines Jobs drohen, um ihn von seinem Plan abzubringen.

Das Vorhaben war nicht einfach der Streich einiger Jugendlicher, die ein bisschen Spass haben wollten. Es war breit geplant. Bereits zwei Tage zuvor war unser Fahrzeug nach der Abzweigung auf den holprigen Dammweg, der Baharbari mit der asphaltierten Strasse verbindet, von einem Motorrad verfolgt worden. Erst als sich zeigte, dass wir keine Vertreter des Gegenspielers von Taslimuddin waren, konnte es weiter fahren. Der Plan war, dass die sechs Dörfer, die nur von diesem Weg aus erreichbar sind, dicht gemacht werden sollten, so dass keine Wahlagenten der Gegenpartei die "Behandlung" der Wahlmaschinen stören sollten. Am Vorabend der Wahl waren die Bewacher bei der Abzweigung auf mehrere Dutzend angestiegen, einige von ihnen mit Gewehren bewaffnet.

Baharbari war nicht typisch für Wahlpraktiken in diesem ärmsten Staat des Landes, aber es war auch nicht ein Einzelfall. Die Macht, die Wahlen dem Mandatsträger bringen, sind für viele Politiker zu wichtig, um sie dem Zufall eines unberechenbaren Wahlvolks zu überlassen. Und das vollständige Fehlen eines Unrechtbewusstseins bei Kumar und seinen Komplizen zeigt, dass diese geschäftsmässige Einstellung gerade unter Jugendlichen Mitläufer gefunden hat. Wie anders ist zu erklären, dass allein in Bihar sechs Personen vom Gefängnis aus für ein Parlamentsamt kandidierten, manche von ihnen mit zwei Dutzend Anklagen von Mord bis Entführung eingedeckt? Sie organisierten von dort aus ihren Wahlkampf, sekundiert von "Besuchern", die die Gefängnisverwaltung mit Tee und Luftkühlgeräten versorgte. Im Wahlbezirk von Siwan begab sich Mohammed Shahabuddin im Triumphzug vom Gefängnisspital zum Büro des Magistraten, um seine Kandidatur zu hinterlegen. Er wurde von Laloo Prasad Yadav begleitet, dem früheren Chefminister von Bihar, der seine Gattin als Nachfolgerin eingesetzt hatte, als er im Gefängnis eine Korruptionsstrafe absitzen musste.

Für die meisten Beobachter ist dies typisch für Bihar, wo Loyalität – markiert durch Kaste und Religion – jede andere Tugend (wie etwa demokratische Spielregeln) verdrängt. Dahinter steckt ein vollständiges Versagen des Staats, der in den letzten fünfzig Jahren nicht fähig war, sein Versprechen von Entwicklung einzulösen. Baharbari ist ein typisches Beispiel dafür. Das Dorf hat immer noch keinen Strom, und die vier Kilometer bis zur Hauptstrasse sind, so meint Bullu Sharan, "eine Schande". Während drei Monaten im Monsun sind die sechs Dörfer praktisch von der Aussenwelt abgeschnitten. Und auch in der übrigen Zeit sind die Schlaglöcher und Fahrrinnen so tief, dass selbst Traktoren Mühe haben, Agrarprodukte auf den Marktflecken von Araria zu transportieren. Das Resultat ist eine Armut, die genügt, um zu überleben – aber nicht viel mehr. Sie sticht umso mehr ins Auge, als diese Dörfer am Unterlauf der Himalaya-Flüsse auf fruchtbaren Böden sitzen, aus denen sich ohne weiteres das Saat-Kapital für den ersten Schritt aus der Armut erwirtschaften liesse.

Wenn der Staat als Anwalt der ganzen Gesellschaft wegfällt, wird Politik zum Kampf von Partikularinteressen. In Bihar laufen diese entlang von Kasten-Linien, und sie sind oft deckungslgleich mit Klassenunterschieden. Mohammed Taslimuddin hatte während zwei Amtsperioden Kishanganj und damit Baharbahri vertreten. Er hat in zwei Amtsperioden weder eine Strasse noch Strom in diese Dörfer gebracht. Wie kommt es, dass er hier dennoch genügend Anhänger hat, um seine Wahl mit allen Mitteln sicherzustellen? Wie sein Parteichef Laloo Yadav und Shahabuddin appelliert er, so ein Anwalt in Araria, "an die Angst und die Aversion der unteren Kasten und der Muslime gegen die reichen Hindu-Bauernkasten". Um Wohlstandsförderung braucht er sich derweil nicht zu kümmern. Es klingt wie Hohn, dass die Partei Yadavs eine Kerosen-Laterne als Wahlsymbol hat, statt einem Elektrizitätsmasten. Einer ihrer Wahlslogans lautet: "Zuerst Würde – wirtschaftliche Entwicklung wird folgen".

Es mag sein, dass Taslimuddins Politik der sozialen Ein- und Ausgrenzung doch ihre Grenzen hat. Im letzten Wahlkampf wurde er vom jungen BJP-Politiker Shahnawaz Husain geschlagen. Als einer der wenigen Muslime in der BJP wurde Husain prompt als Vorzeigefigur zum Minister gekürt. Doch seine Pflege des Wahlbezirks zeigt, wie wenig die BJP als städtische Hindu-Partei von den Problemen der ländlichen Bevölkerung versteht. Statt den Dörfern wettersichere Verbindungswege zu den nächsten Marktplätzen zu verhelfen, lässt Husain über der wählerstarken Stadt Kishanganj eine kilometerlange Hochstrasse bauen. "Mit dem Geld für einen einzigen dieser Beton-Pfeiler", sagt ein Freund Bullu Sharans, "könnte man ein Dutzend Dörfer mit der Aussenwelt verbinden". Dies mag erklären, warum Taslimuddin erneut gegen Husain angetreten ist. Dabei kommt ihm die verkehrstechnische Isolation der sechs Dörfer um Baharbari gelegen. Er kann die Vernachlässigung des Wählers einmal mehr als Trumpf ausspielen.

Die einzige Alternative angesichts der Demontage des Staats durch skrupellose demokratische Politik sind zivilgesellschaftliche Initiativen. Bullu Sharan hat zusammen mit seinen Brüdern in Baharbari eine Kooperative gegründet, um den lähmenden Energienotstand des Dorfs zu überwinden. Seine Familie gehört zu den reichen Bauern von Baharbari, doch statt wie üblich das meiste Land zu verpachten und sich an fünfzig Prozent des Ertrags gütlich zu halten, wachsen auf seinem Boden Unkraut und andere raschwachsende Pflanzen. Sie werden in einen Vergasungsofen gespiesen, der einen 50 KWh-Generator antreibt. Er stellt den Strom für vier Pumpen zur Verfügung, mit denen die Bauern gegen Bezahlung ihre Felder bewässern können. Und hinter dem kleinen Kraftwerk steht ein Ofen und eine Reisschälmaschine. Als Nächstes möchte Sharan für drei Stunden Licht in die Dorfhütten bringen. Dafür fehlt es allerdings am nötigen Kapital. Dieses könnte nur durch den Verkauf von Agrarprodukten auf dem nahen Markt von Araria kommen. Die Mehrproduktion wäre gewährleistet – wenn nur die Strasse befahrbar wäre, die Baharbari an die Hauptsrasse verknüpfen sollte.

Quelle: Der Beitrag erschien am 11. Mai 2004 in der Neuen Zürcher Zeitung.

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