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22. Dezember 2001. Nachrichten: Politik & Recht - Südasien Unmittelbare Kriegsgefahr zwischen Indien und Pakistan gebannt

Indien verzichtet vorerst auf "hot pursuit"

Angesichts des pakistanischen Aufmarschs am Ravi-Chenab-Korridor rückten indische Kampfgruppen näher an die Grenze. Gegenwärtig gibt es jedoch keine weiteren Anzeichen für eine eventuelle Kriegsführung. Es spricht also alles dafür, dass Indien nach dem Anschlag auf sein Parlament wenigstens vorläufig auf einen sogenannten "hot pursuit" terroristischer Gruppen auf pakistanischem Gebiet verzichtet, obwohl einflußreiche politische Kreise den "hot pursuit" propagieren und die Wogen der Empörung gerade auch unter der zivilen Bevölkerung immer noch sehr hoch schlagen.

New Delhi. Die Financial Times aus London (19.12.2001, S.8) berichtet von Umfragen, wonach mehr als 80% der Befragten sich für militärische Vergeltungsschläge aussprachen.

Wo liegen die Gründe für die nach dem Anschlag auf das indische Parlament moderate indische Haltung und welche Linie verfolgt die Regierung Vajpayee? C. Raja Mohan, Strategic Editor der Tageszeitung The Hindu vertritt die Auffassung, daß jetzt die Glaubwürdigkeit des indischen Staates auf dem Spiel stehe, zumal es in Indien den wachsenden Wunsch gebe, "Pakistan´s atomaren Bluff bloßzustellen." (Between War and Peace, 20.12.2001, S.10)

"Hot pursuit" führt unweigerlich zum Krieg

Der erfahrene Parlamentarier Jaipal Reddy, Hauptsprecher des Congress (I), sieht die strategische Entscheidung, terroristische Ausbildungslager in Pakistan anzugreifen, bei der Regierung liegen, während Indiens Kommunisten, die von einem "monumentalen Sicherheitsversagen" der Regierung am 13. Dezember sprechen, eine solche Strategie als unverantwortlich ablehnen, da sie unweigerlich zum Krieg führe.

Der Kabinettsausschuß für Sicherheit sprach sich gegen den "hot pursuit" aus, da an dessen Ende mit einem vier- bis sechswöchigen Krieg zu rechnen sei und mit einem nuklearen Erstschlag Pakistans dieses dann wohl "nuklearen Selbstmord" begehe. Der Sicherheitsanalytiker Dr. Manoj Joshi, Political Editor der Times of India, vertrat sogar die Ansicht, Indien mangele es an der militärischen Fähigkeit, erfolgreich Vergeltungsschläge auf pakistanischem Territorium durchzuführen. Im persönlichen Gespräch vertrat er die Ansicht, daß die Symmetrie der Kräfte keine militärische Option erlaube, ein begrenzter Krieg sei nicht möglich.

Vorschläge strategischer Falken

Brahma Chellany vertrat die Ansicht (An Act of War, in: The Hindustan Times, 18.12.2001), dass der Angriff auf das indische Parlament einem Kriegsakt gleichkomme. Pakistan müsse deshalb als ein "terroristischer Staat" gebrandmarkt werden. Die Abberufung der Hochkommissare, die Reduktion der personell viel zu großen pakistanischen Botschaft in Delhi, "ein veritables Nest des pakistanischen Geheimdienstes Inter Services Intelligence (ISI)", ein Überflugverbot für die Pakistan International Airlines, das Ende des Zugverkehrs und sogar der Widerruf des Indus Water River Treaty mit Konsequenzen für die Wasserversorgung Pakistans sollten die ersten Maßnahmen einer härteren Linie der indischen Regierung bilden.

Die tiefere Ursache der bilateralen Spannungen liege jedoch, so Brahma Chellany, im Zustand des pakistanischen Militärs. Selbst dessen höhere Ränge seien durch die Allianz mit dem Narco-Terrorismus kriminalisiert. Ohne eine Reform des pakistanischen Militärs könne es deshalb keinen Frieden geben. In der gegenwärtigen Phase müsse die indische Regierung Pakistan durch eine Kombination aus diplomatischen, politischen, wirtschaftlichen, militärischen und geheimdienstlichen Optionen bei weiteren Provokationen eindeutig höhere Kosten aufzwingen.

Mittlerweile berief die indische Regierung ihren Hochkommissar aus Islamabad ab. Der Bus- und Bahnverkehr wird eingestellt. Als Gründe für diese einseitigen Maßnahmen New Delhis, die noch keinen Abbruch der diplomatischen Beziehungen bedeuten, werden die fortgesetzte Förderung des grenzüberschreitenden Terrorismus durch Pakistan sowie eine fehlende Antwort Islamabads auf die indische Demarche bezüglich der Lashkar-e-Toiba und der Jaish-e-Mohammad angegeben.

Diplomatische Offensive gegen Pakistan

Die Regierung der Nationaldemokratischen Allianz unter Premierminister Atal Behari Vajpayee bereitet eine diplomatische Offensive vor, um die Regierung in Islamabad zu zwingen, die Büros der Lashkar-e-Toiba und der Jaish-e-Mohammad zu schließen, obwohl das Musharraf-Regime gegenüber den USA bislang immer argumentiert hat, dass dies innenpolitisch zu sensitiv sei. Das indische Außenministerium bezeichnete Pakistan "als ein Epizentrum des Terrorismus in der Region."

Vajpayee erklärte im Parlament, Indien ziehe die Diplomatie vor, obwohl es sich alle Optionen offen halte: "Unter welchen Umständen es Krieg geben wird [...] und ob es eine Notwendigkeit für Krieg gibt, dies ist der Gegenstand der Diskussion. Niemand in Indien will Krieg. Es sollte keine Doppelstandards des Messens von Terrorismus in verschiedenen Teilen der Welt geben. Elemente in Pakistan wollen die Auflösung Indiens."

Indien fordert die Auslieferung der Rädelsführer durch Pakistan. Dr. Manoj Joshi sagte mir, dass eine solche Geste völlig neue Möglichkeiten in den bilateralen Beziehungen eröffnen könne, die pakistanische Führung allerdings absolut nicht auf Indien höre. Nur die USA und China könnten sie zum Einlenken bewegen.

Der frühere indische Geheimdienstchef M. K. Narayanan, mittlerweile ein meinungsbildender Kolumnist, prognostizierte im India International Center, dass in Zukunft islamistische Gruppen aus Zentralsasien und Pakistan versuchen werden, in Kashmir eine Intifada-Bewegung zu organisieren. Auch K. Subrahmanyam (Counter Terrorism. Set Our Own House in Order First, in: Times of India, 20.12.2001, S.12) antizipiert, dass nichtstaatliche Akteure aus Pakistan den Terrorismus fortsetzen könnten, selbst wenn die USA Druck auf Pakistan ausüben, gegen solche Organisationen vorzugehen.

Die Jaish-e-Mohammad kündigte derweil "schockierende Angriffe in großen indischen Städten an, sodass die Bharatiya Janata Party (BJP) die Macht verlieren wird." (Times of India, 21.12.2001) Sie kündigte auch größere Angriffe in Jammu & Kashmir an. Prem Shankar Jha (Hindustan Times, 21.12.2001) postuliert, durch derartige Angriffe als verbleibende Waffe versuchten die Jehadis Musharraf zu isolieren und Vergeltungsschläge zu provozieren. Nur wenn die Welt verstehe, dass Indien nach einer nächsten Provokation ernst mache, dann würde vielleicht genügend Druck auf Pakistan ausgeübt werden.

Mit einer gewissen Ernüchterung wird in Delhi die Einschätzung von US-Präsident Bush vermerkt, der die Lashkar-e-Toiba als "stateless sponsor of terrorism based in Kashmir" bezeichnete. C. Uday Bhaskar, stellvertretender Direktor des Institute for Defence Studies and Analysis (IDSA) vertrat in einem Leitartikel der Times of India (Restraint, not Revenge, 22.12.2001) die Auffassung: "India may have to exercise the military option - but it is neither the first nor the only option at this point of time."

Der massive militärische Aufmarsch entlang der Line of Control und der internationalen Grenze setzt sich derweil insbesondere in Jammu fort. (The Hindu, 22.12.2001)

In der ersten Woche des neuen Jahres wird es in Kathmandu, der Hauptstadt von Nepal, nach über zwei Jahren erstmals wieder zu einem Gipfeltreffen der maroden südasiatischen Wirtschaftsgemeinschaft South Asian Association for Regional Cooperation (SAARC) kommen. Gegenwärtig geht man in Delhi von einer Teilnahme des Premierministers aus. Ein gesondertes Treffen mit dem zurzeit in China weilenden Präsidenten Pervez Musharraf sei jedoch nicht geplant.

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