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11. Dezember 2013. Kommentare: Nepal - Politik & Recht Nepal hat gewählt – Chaos Redux?

Nun ist es amtlich, am 3. Dezember 2013 hat die Wahlkommission Nepals das Endergebnis der Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung vom 19. November bekanntgegeben. Es gibt keinen klaren Sieger, aber deutliche parteipolitische Verschiebungen.

Die nepalischen Maoisten, die bei den letzten Wahlen 2008 noch stärkste Kraft waren und bis März 2013 die Regierung stellten, sind abgestraft worden. Die Kongresspartei, älteste demokratische Partei des Landes, ist nun mit einem Drittel der Sitze wieder stärkste Partei, dicht gefolgt von der Communist Party of Nepal-Unified Marxist-Leninist (CPN-UML), Nepals 'Sozialdemokraten' mit kommunistischem Label. Die Parteien der Madeshi, der indischstämmigen Bewohner des im Süden des Landes gelegenen Flachlandes, die in den vergangenen Jahren oftmals als Königsmacher für verschiedene Regierungen in Erscheinung traten, haben aufgrund ihrer Zersplitterung merklich an Bedeutung verloren. Und abgesehen von zahlreichen Kleinstparteien mit nur ein oder zwei Sitzen sind auch die unbelehrbaren Vertreter des ancien régime, die Königstreuen und Anhänger des Panchayat-Systems vor der demokratischen Wende 1990, wieder in der verfassungsgebenden Versammlung vertreten. Nach fünf Jahren politischer Blockade, in denen es weder gelang, eine endgültige Verfassung zu verabschieden, noch eine stabile Regierung zu etablieren, die in der Lage gewesen wäre, den drängenden Reformbedarf des Landes anzugehen, verbinden viele mit den Wahlen die Hoffnung auf einen Neuanfang. Zugleich gibt es aber genug Anzeichen, die für eine Fortschreibung des politischen Chaos sprechen.

Wahlen zwischen Selbstzweck und demokratischer Erneuerung

Dass die Wahlen angesichts zunehmender Gewalt im Vorfeld, des Wahlboykotts einer 33-Parteien-Allianz, angeführt von der radikal-maoistischen Splitterpartei Mohan Baidyas, und schier unüberwindlicher logistischer Herausforderungen überhaupt stattgefunden haben, kann als Erfolg gewertet werden. Genauso wie die Tatsache, dass die Wahlen dem vorläufigen Bericht der Wahlbeobachter-Mission der Europäischen Union zufolge insgesamt weitgehend ordnungsgemäß und friedlich abgelaufen sind. Auch die hohe Wahlbeteiligung von 77 Prozent spricht für politische Teilhabe, zumal die Wählerinnen und Wähler vor dem Hintergrund parteipolitischer Machtkämpfe und Inkompetenz, die das Land jahrelang lähmten, gute Gründe für ihre Parteienverdrossenheit anführen konnten. Allerdings verschleiert die Wahlbeteiligung den Umstand, dass sich gegenüber 2008 über fünf Millionen weniger Nepalis für die Wahlen registrierten und die Stimmen der mehr als drei Millionen nepalischen Arbeitsmigrantinnen und –migranten sowie unzähliger anderer Auslandsnepalis nicht berücksichtigt wurden, weil die Wahlteilnahme aus dem Ausland nicht möglich war. Schätzungen beziffern den Anteil der registrierten Wählerinnen und Wähler auf 75 Prozent der Wahlbevölkerung des Landes. Dennoch sehen viele Nepalis in den Wahlen ein Zeichen für eine demokratische Erneuerung des Landes.

Ausbesserungsarbeiten an der großen Stupa in Bodnath
Ausbesserungsarbeiten an der großen Stupa in Bodnath, Kathmandu, stehen symbolisch für die notwendigen Ausbesserungsarbeiten an der nepalischen Demokratie. Foto: Clemens Spiess

Vieles deutet aber darauf hin, dass es sich bei den Wahlen wieder nur um ein parteipolitisches Schauspiel handelt, das der politischen Elite des Landes als Legitimationsgrundlage für weitere Jahre der politischen Machtkämpfe und persönlichen Bereicherung dient. Damit wären die Wahlen zum reinen Selbstzweck degradiert. Es fing schon damit an, dass sich der Weg hin zu den Wahlen jenseits demokratischer Prinzipien und des von der Übergangsverfassung abgesteckten legalen Rahmens vollzog. Nachdem die Kongresspartei und die CPN-UML alle Versuche der Krisenlösung durch die gewählte Regierung unter dem maoistischen Premier Bhattarai blockiert hatten, einigten sich die Führer der vier großen Parteien (Maoisten, Kongresspartei, CPN-UML und ein Parteienbündnis der Madeshi) darauf, die Regierung Bhattarai abzusetzen und den Vorsitzenden des Obersten Gerichtshof zum Interims-Regierungschef zu erklären. Ein kluger Schachzug, der demokratisch aber nicht legitimiert war. So konnten die Parteiführer des High Level Political Committee, das zunehmend als eigentliche politische Schaltzentrale agierte, Ämterbesetzung, Regierungsführung und Wahlvorbereitung bestimmte, mögliche Interventionen der Judikative aushebeln. Die Gewaltenteilung war damit faktisch außer Kraft gesetzt. Auch im Wahlkampf zeigte sich, dass die Parteien an der Suche nach inhaltlichen Lösungen für diejenigen Streitpunkte, die bereits zum Scheitern der ersten verfassungsgebenden Versammlung geführt hatten, wenig Interesse hatten. Die Frage nach der Ausgestaltung eines föderalen Nepals, nach der neuen Regierungsform oder dem Verhältnis zu den großen Nachbarn Indien und China war kaum noch Gesprächsthema und keine Partei zeigte in ihren Wahlprogrammen die Bereitschaft zu neuen Kompromissvorschlägen. Und auch nachdem die ersten Wahlergebnisse bekannt wurden, zeigten sich die gleichen eingespielten Muster parteipolitischer Grabenkämpfe wie zuvor. So wie die Führer der Kongresspartei und der CPN-UML ihre Niederlage von 2008 nie eingesehen haben, so verhalten sich nun die Führer der Maoisten, die bereits kurz nach der Bekanntgabe der ersten Wahlergebnisse die Auszählung anfochten.

Das Wahlergebnis: Enttäuschung und Hoffnung zugleich

Wie ist das Wahlergebnis zu deuten, welche Gründe lassen sich dafür anführen, dass Nepal so gewählt hat, wie es gewählt hat? Einiges lässt sich auf die Wahlarithmetik zurückführen: das Parteienspektrum der Madeshi war diesmal noch zersplitterter als 2008 und eine unüberschaubare Zahl von Kleinstparteien der Janajati, Nepals ethnischer Minderheiten, hatte sich zur Wahl gestellt, was sich zum Vorteil der etablierten Parteien auswirkte. Das Wahlergebnis spiegelt natürlich auch die Enttäuschung über die Maoisten wieder, die vor fünf Jahren nach einem langen und blutigen Bürgerkrieg angetreten waren, um einem republikanischem Nepal Leben einzuhauchen, soziale Reformen voranzutreiben und ausgegrenzten Gesellschaftsgruppen Perspektiven zu eröffnen, sich dann aber in partei-internen Konflikten und politischem Machtgerangel verzettelten. Dass am Ende die Kongresspartei zum Wahlsieger wurde und die CPN-UML ihren Sitzanteil fast verdoppeln konnte, erscheint zunächst widersprüchlich, fast schon ironisch. Waren es doch genau diese beiden Parteien, die den ersten Versuch einer demokratischen Transition Nepals in den 1990er Jahren durch ihre parteipolitischen Machtspiele zu Fall brachten und wesentlichen Anteil am Scheitern der ersten verfassungsgebenden Versammlung hatten.

Die Wiederauferstehung von Kongresspartei und CPN-UML kann aber auch als ein Zeichen der Hoffnung der Wählerinnen und Wähler interpretiert werden, dass beide Parteien aus den Fehlern der 1990er Jahre gelernt haben und zu einem Neuanfang bereit sind. Gelingt ein Konsens, kämen sie der für entscheidende Verfassungsfragen notwendigen Zwei-Drittel-Mehrheit sehr nahe und könnten sich ernsthaft mit der Ausarbeitung einer Verfassung befassen. Allerdings bleibt fraglich, wie groß die Bereitschaft der beiden Parteien ist, aufeinander zuzugehen und sich diesmal wirklich dem Gemeinwohl des Landes zu verschreiben. Die Fähigkeit der politischen Parteien Nepals, stabile Koalitionsregierungen zu bilden ist erfahrungsgemäß begrenzt. Die Wählerinnen und Wähler zumindest haben gezeigt, dass sie mit den Spielregeln der Demokratie vertraut sind, und die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.

Die eigentlichen Wahlverlierer: Frauen und ethnische Minderheiten

Dass die Auszählung der Stimmen so lange gedauert hat, ist nicht nur der Androhung der Anfechtung durch die Maoisten, der Androhung von Gewaltaktionen kleinerer Parteien oder logistischen Engpässen geschuldet, sondern auch dem komplexen Wahlsystem Nepals. In seiner Kombination aus Direkt- und Verhältniswahl ist es dem deutschen nicht unähnlich. Gewählt werden die 601 Abgeordneten der verfassungsgebenden Versammlung in 240 Wahlbezirken nach dem Direktwahlprinzip, 335 Abgeordnete kommen über Parteilisten je nach Zweitstimmenanteil hinzu. Weitere 26 Abgeordnete werden von der Regierung nominiert. Allerdings verfolgte die Einführung der Verhältniswahlkomponente durch die Übergangsverfassung im Vorfeld der Wahlen von 2008 weniger das Ziel, kleineren Parteien den Eintritt in das Parteiensystem zu erleichtern, sondern sollte vor allem sicherstellen, dass die vielen ethnischen Minderheiten, die marginalisierten Bevölkerungsgruppen und historisch Diskriminierten angemessen repräsentiert würden. Die Parteien, die mehr als 100 Kandidaten ins Rennen schicken, müssen ihre Listen nämlich entsprechend den Anteilen der Bevölkerungsgruppen an der Gesamtbevölkerung zusammenstellen wie sie der alle zehn Jahre stattfindende Zensus vorgibt. Zudem gilt eine Frauenquote von 50 Prozent für die Verhältniswahl. Angesichts der eingespielten Praxis der etablierten Parteien, als Direktkandidaten vorrangig Männer aus den höheren Hindukasten des nepalischen Berglandes, sprich Brahmanen oder Bahun wie sie in Nepal genannt werden, zu nominieren, dient die Verhältniswahlkomponente so als eine Art Sicherheitsventil, das gewährleistet, dass alle Bevölkerungsgruppen angemessen vertreten sind.

Ein Blick auf die Ergebnisse der Direktwahl offenbart nun wiederum, wie wenig den etablierten Parteien das Gebot der gesellschaftlichen Repräsentativität und die Interessen marginalisierter Bevölkerungsgruppen gelten. Von den ca. zehn Prozent nominierten Frauen sind nur etwas mehr als vier Prozent gewählt worden, 2008 waren es immerhin noch zwölf Prozent. Es bleibt anzuwarten, wie die Sitze aus der Verhältniswahl verteilt werden und ob es gelingt, das anvisierte Ziel einer 33-prozentigen Repräsentation von Frauen in der verfassungsgebenden Versammlung zu erreichen. Auch was die angemessene Vertretung ethnischer Minderheiten und Angehöriger niedriger Kasten anbetrifft stellt die aktuelle Kandidatenaufstellung für die Direktwahl einen Rückschritt gegenüber 2008 dar. So sind die Bahun wieder deutlich überrepräsentiert und stellen fast ein Drittel der Direktmandate gegenüber einem Bevölkerungsanteil von um die zwölf Prozent, während ausgegrenzte Gruppen wie die Magar und Tamang (beide tibeto-burmanischen Ursprungs) oder die Dalit (ehemals Unberührbare) kaum vertreten sind. Neben den Maoisten als parteipolitischem Wahlverlierer können Frauen und Janajati auch 2013 wieder als eigentliche Walverlierer ausgemacht werden.

Nach den Wahlen: Quo vadis Nepal?

Wie geht es nun weiter? Zunächst steht die schwierige Aufgabe der Regierungsbildung an, eine Herausforderung, die wesentlich für den politischen Stillstand der letzten fünf Jahre verantwortlich war. Hier ist vor allem die Kongresspartei am Zug, die zusammen mit der CPN-UML die Regierung bilden könnte. Einigen sich beide Parteien, steht zur Frage, ob auch die Maoisten an einer Regierung der nationalen Einheit beteiligt werden. Dies wäre für die Ausarbeitung der neuen Verfassung von besonderer Bedeutung, da die Verfassung so auf eine breite Legitimitätsgrundlage gestellt werden könnte, zumal sich alle politischen Kräfte des Landes darüber geeinigt hatten, dass die Verfassung einen gesamtgesellschaftlichen Konsens widerspiegeln muss. Erfahrungsgemäß wird es aber vor einer Regierungsbildung erst einmal zu langwierigen Flügelkämpfen innerhalb der Parteien kommen, denn jede der großen Parteien ist in interne Machtgruppen gespalten, die sich gegenseitig Einfluss und Posten streitig machen. Die neue verfassungsgebende Versammlung, deren erste Zusammenkunft für Ende Dezember anvisiert wird, muss sich schließlich gegen die Einflussnahme demokratisch oft nicht legitimierter Parteiführer wappnen, die in der Vergangenheit die Arbeit der gewählten Mandatsträger ein ums andere Mal torpediert hatten.

Die Ausarbeitung der Verfassung bleibt oberste Priorität. Die zügige Verabschiedung innerhalb eines Jahres ist der Lackmustest für die neue politische Führung. Dies wird kein leichtes Unterfangen, denn die entscheidenden Streitpunkte bei der Ausgestaltung eines neuen Nepal sind weit davon entfernt, ausgeräumt zu werden. Im Vordergrund steht dabei insbesondere die föderale Neugliederung des Landes. Die Vertreter der verschiedenen ethnischen Gruppen und Minderheiten werden nicht zögern, ihre Wünsche, Ansprüche oder ihre Unzufriedenheit mit Blick auf ein föderales Nepal wieder auf die Straße zu tragen. Kein Wunder, denn an der Neuaufteilung Nepals hängen Rechte, Identitäten, Privilegien, neue Jobs und Zuwendungen. Herausragende Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang nicht zuletzt der lokalen Ebene zu, die theoretisch als Entwicklungsmotor für das ländliche Nepal dienen soll, praktisch aber aufgrund politischen Zentralismus und bürokratischer Gängelung in einem desolaten Zustand ist. Lokalwahlen haben in Nepal 1997 zum letzten Mal stattgefunden. Auch hinsichtlich der zukünftigen Regierungsform muss eine Einigung erzielt werden. Im Gegensatz zu den Maoisten, die ein Präsidialsystem fordern, setzen sich die Kongresspartei und die CPN-UML für ein parlamentarisches System ein, gehen aber in der Frage der Direktwahl des Premierministers auseinander.

Jenseits der Verfassungsfragen gilt es, eine tragfähige außenpolitische Positionierung gegenüber den übermächtigen Nachbarn Indien und China zu finden. Insbesondere das Verhältnis zu Indien muss selbstbewusst, aber auch freundschaftlich definiert werden. Indiens Einflussnahme auf den politischen Prozess in Kathmandu ist mittlerweile legendär. Nepals wirtschaftliche Abhängigkeit von Indien ist Fluch und Segen zugleich: Indische Investitionen werden für wirtschaftliche Reformen dringend benötigt, in Krisenzeiten kann Indien über den Zugriff auf die Versorgungslage in Nepal die Konditionen aber diktieren.

Noch entscheidender für die Zukunft Nepals wird aber sein, inwieweit die neue politische Führung bereit und in der Lage sein wird, Regierbarkeit zu gewährleisten und eine Abkehr von Nepotismus, Opportunismus und der allgegenwärtigen Korruption einzuleiten. Erst wenn dies gelingt, kann der erdrückende wirtschaftliche, soziale und politische Reformbedarf angegangen werden. Ein Anfang wurde mit den Wahlen gemacht. Nun muss sich zeigen, ob die etablierten Parteien endlich verantwortlich mit ihrem Mandat umgehen oder ob es am Ende wieder Chaos Redux heißen wird.

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